Und es hat „Wumms“ gemacht – Bundesfinanzminister Scholz stellt sein Corona-Konjunkturpaket vor / dpa

Corona-Konjunkturpaket - Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit

Dank der Corona-Pandemie hat das Thema soziale Gerechtigkeit Konjunktur. Aber was ist eigentlich gerecht – und meint nicht jeder mit diesem Schlagwort etwas anderes? Hugo Müller-Vogg über einen schwierigen Begriff.

Hugo Müller-Vogg

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Wie gerecht ist das Konjunkturpaket? Nutzt es mehr den Unternehmen als den Hartz-IV-Empfängern? Werden Steuergelder von hart arbeitenden Arbeitnehmern verwendet, um Solo-Selbstständige über Wasser zu halten, die sich schon vor Corona kaum über Wasser halten konnten? Und wie gerecht ist es, dass der Käufer einer 100.000 Euro-Luxuslimousine demnächst 3.000 Euro an Umsatzsteuer sparen kann, während systemrelevante Pflegekräfte sich mit einem bescheidenen Bonus begnügen müssen?

Kein Zweifel: Dank der Corona-Pandemie hat das Thema soziale Gerechtigkeit Konjunktur. Es wird sogar noch an Bedeutung gewinnen, sobald die politische Auseinandersetzung darüber beginnt, ob die staatlichen Hilfsmaßnahmen nicht doch mit neuen oder höheren Steuern bezahlt werden sollen – und wer diese Belastung tragen soll. Das Wahljahr 2021 könnte ein Jahr harter Verteilungskämpfe und Gerechtigkeit zu einem zentralen Thema des Bundestagswahlkampfs werden.

Jeder meint etwas anderes

Nun gibt es in der Gerechtigkeits-Debatte keine politische Kraft von Relevanz, die sich dagegen ausspräche, dass der Staat für Gerechtigkeit zu sorgen habe. Dabei spielt das politische und mediale Klima eine Rolle. Wer mehr Gerechtigkeit fordert – mehr Gerechtigkeit in Form höherer Sozialleistungen –, der genießt in der öffentlichen Meinung den Status des moralisch Überlegenen. Wer dagegen die Eigenverantwortung betont, gilt schnell als unsozialer Neoliberaler oder kaltherziger Kapitalist.

Genau genommen ist der Begriff soziale Gerechtigkeit sehr unbestimmt und vage. Jeder meint etwas anderes. Die meisten verstehen unter Gerechtigkeit eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Einkommen und Vermögen. Aber Gerechtigkeit kann ja wohl nicht bedeuten, dass alle gleich viel verdienen und besitzen. Dann hätten wir Ergebnisgerechtigkeit, was niemand ernsthaft anstrebt. Wenn am Ende alle dasselbe haben, sehen viele keinen Sinn darin, sich besonders anzustrengen.

Verteilungsgerechtigkeit gab‘s nicht einmal in der DDR

Nach Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer möglichst gleichmäßigen Verteilung streben deshalb nur Sozialisten – und das nur in der Theorie. Als kurz vor dem Ende der DDR die ziemlich wertlose DDR-Währung zum 1. Juli 1990 in harte D-Mark umgetauscht wurde, stellte sich heraus, dass 60 Prozent des Geldvermögens der DDR-Bürger auf 10 Prozent der Konten lagen. Die herrschende Klasse hatte offensichtlich Gleichheit gepredigt und Umverteilung von unten nach oben praktiziert.

Ein wichtiger Aspekt der Gerechtigkeit ist die Leistungsgerechtigkeit. Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Was zu der Frage führt, wie man Leistung misst. Der Marktmechanismus führt tendenziell dazu, dass Leistungen, die besonders nachgefragt werden, auch überdurchschnittlich vergütet werden. Was aber, wenn es keinen richtigen Markt im Sinne eines freien Spiels der Kräfte gibt wie im Gesundheitswesen oder im Bereich der öffentlichen Sicherheit? Wenn Pflegekräfte, Polizisten oder Feuerwehrleute nicht so gut bezahlt werden, wie es ihrer Leistung für die Gesellschaft entspricht, hat das nichts mit Marktversagen zu tun. Das ist vielmehr Ergebnis politischer Entscheidungen.

Für die Zukunft von großer Bedeutung: Chancengerechtigkeit

Beim Thema Gerechtigkeit ist die Generationengerechtigkeit nicht zu vergessen. Es entspricht nicht dem Postulat der Gerechtigkeit, wenn die Generation der Eltern für den Gegenwartskonsum Schuldenberge anhäuft, für deren Zins und Tilgung noch Kinder und Enkel aufzukommen haben. Falls das innerhalb der Familie geschieht, können die Kinder ein nur aus Schulden bestehendes Erbe ausschlagen. Auf staatlicher Ebene bleibt dieser Notausgang verschlossen: Die Schulden von heute sind die Belastungen von morgen und übermorgen. Das ist dann zu verantworten, wenn der Staat Investitionen in die Infrastruktur mit Krediten finanziert, weil auch nachfolgende Generationen davon noch profitieren. Das gilt aber auf keinen Fall bei auf Pump finanzierten Sozialleistungen.

Die für die Zukunft eines Landes wohl wichtigste Form der Gerechtigkeit ist die Chancengerechtigkeit bei Bildung und Ausbildung. Intelligenz und Begabung von Kindern sind nicht abhängig vom Geldbeutel der Eltern, ihre Aufstiegschancen sind es aber schon. Da hat sich die Situation in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verschlechtert, was aber nicht allein am Bildungssystem liegt, sondern vielfach auch an den Elternhäusern. Man braucht als Vater oder Mutter kein Abitur, um beispielsweise darauf zu achten, dass die Kinder ihre Schulaufgaben machen und sich anstrengen. Wenn Eltern aber die ganze Verantwortung an die Schulen und Lehrer delegieren, stoßen staatliche Fördermaßnahmen an ihre Grenzen. Eine Kita-Pflicht von drei Jahren an und Ganztagsschulen wären deshalb für mehr Bildungsgerechtigkeit wichtige Voraussetzungen.

Soziale Gerechtigkeit spielt eine zentrale Rolle

Soziale Gerechtigkeit spielt in der praktischen Politik der Bundesrepublik eine zentrale Rolle. Mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts wird für Soziales ausgegeben. Vom Bruttoinlandsprodukt gehen eine Billion Euro in den Sozialbereich, rund 30 Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Das politische Klima ist so, dass kaum noch jemand für eine Rückführung dieser Sozialleistungsquote zu plädieren wagt. Dessen ungeachtet wäre sicherlich an vielen Stellen eine effizientere und zielgenauere Verwendung dieser Sozial-Milliarden möglich.

Wie gerecht es in einem Land zugeht, lässt sich nicht nach objektiven Maßstäben messen, schon deshalb, weil es verschiedene, sich teilweise widersprechende Vorstellungen von Gerechtigkeit gibt. Mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit gibt es aber Indizien, dass Deutschland sozialer ist als viele andere europäische Länder. Jedenfalls zog es in den vergangenen Jahren viel mehr Flüchtlinge zu uns als etwa nach Frankreich, Großbritannien, Polen oder Ungarn, weil der deutsche Sozialstaat in mancher Hinsicht großzügiger ist als viele andere Länder. Auch kommt jemand, der – aus welchen Gründen auch immer – persönlich in eine prekäre Situation gerät, hierzulande wohl besser zurecht als in den meisten anderen Ländern.

Nicht einmal im Paradies ging es gerecht zu

Was immer Gerechtigkeits-Prediger und in ihrem Gefolge die Umverteilungspropagandisten auch sagen mögen: Wo immer Menschen leben, gab und gibt es Ungerechtigkeit. Zu keiner Zeit, in keinem Land, in keinem Gesellschaftssystem herrschte jemals Gerechtigkeit in dem Sinne, dass es überall fair zugeht, dass jedes Kind von Geburt an die gleichen Chancen hat, dass es keine Unterschiede bei Einkommen und Vermögen gibt, dass überdurchschnittliches Können überdurchschnittlich bezahlt wird und – last not least – dass Talente, Glück und Pech gerecht verteilt sind.

Übrigens: Schon im Paradies war das mit der Gerechtigkeit so eine Sache. Eva aß zuerst von der verbotenen Frucht und verführte Adam, es ihr gleich zu tun. Aber beide bekamen dieselbe Strafe und mussten das Paradies verlassen, die Verführerin wie der Verführte. Ob das etwa gerecht war?

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Charlotte Basler | Di., 23. Juni 2020 - 17:28

Querschnitt zu diesem wirklich schwierigen Thema. Ich bin stark für mehr Eigenverantwortung, dabei aber weder ein unsozialer Neoliberaler noch ein kaltherziger Kapitalist.
Es gibt Menschen die verbrauchen mehr Ressourcen als sie erwirtschaften. Hat dies alters- oder gesundheitsbedingte Gründe, teile ich gerne. Liegt es aber an mangelnder Leistungsbereitschaft, mag ich am liebsten gar nichts abgeben.
Sehr wichtig finde ich, ebenso wie Sie, früh anzusetzen und die Chancengerechtigkeit zu forcieren . Auch hier wird von den Eltern vielfach zu wenig gefordert. Finanzelle Unterstützung sollte zum Wohle der Kinder mit zielführenden Bedingungen verknüpft werden.

Dr. Roland Mock | Di., 23. Juni 2020 - 19:01

„Soziale Gerechtigkeit“ war schon immer eine Schimäre. Es kann sie schon deshalb nicht, geben, weil - wie Herr Müller-Vogg ja auch schreibt - jeder etwas anderes darunter versteht. Eindeutig ist der Begriff nur für Linke: (Sozial) gerecht ist, wenn die anderen zahlen. Oder neutestamentarisch ausgedrückt: Nehmen ist seliger denn geben (leicht abgewandelt?).

Heidrun Schuppan | Mi., 24. Juni 2020 - 12:13

Antwort auf von Dr. Roland Mock

unter "Sozialer Gerechtigkeit". Was es aber nicht sein sollte (unabhängig von der politischen Couleur): den arbeitenden Menschen so viel abnehmen, dass diese nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Bei uns ist auf jeden Fall der benachteiligt, der aus einer Arbeiterfamilie kommt, kein Erbe zu erwarten hat und nach Steuern und Abgaben kaum etwas zur Seite legen kann, weil allein schon die Wohnungsmiete den größten Teil des monatlichen Einkommens verschlingt – Tendenz steigend. Weshalb kann der Staat bzw. die Kommune nicht in Vorleistung treten und Wohnungen oder kleine Reihenhäuser z.B. auf Mietkaufbasis errichten, die dann irgendwann zu einem kleinen Eigentum werden? Lieber die Menschen in Abhängigkeit belassen und in Betonburgen einpferchen, in denen sich niemand für irgend etwas verantwortlich fühlt.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 24. Juni 2020 - 08:11

Herr Dr. Müller-Vogg. So definiere ich inzwischen die moralinsaure Gerechtigkeitsdebatte. Die Politik und auch die Medien suggerieren es uns täglich. Der Steuerzahler hat mit der Wahl einer Partei seine Rechte auf Parteien abgegeben. Dort sitzen die Selbstversorger inzwischen weit ab vom wahren Leben, wissen aber immer genau, was der Wähler will. Was ist gerecht? Sie fragen zurecht. Findet eine wirklich offene und ehrliche, ideologiefreie Diskussion statt? Nein, braucht es doch nicht, die Moralisten sagen es uns schon. Ich frage mich schon immer, wenn wir alle solche Rassisten sind, wenn dieser Staat doch so schlecht ist, wenn alles bei uns nichts mehr zu taugen scheint. Warum kommen denn so viele hier her?
Ach stimmt. Wenn man Clan ist und Corona Hilfen ungeprüft bekommt, hat man da schon mal einen Grund. Wenn der Staat denkt und alles für uns lenkt, geht es uns doch gut. Gerecht ist, wer mit seiner Hände Arbeit seine Familie allein ernähren kann und nicht beide arbeiten müssen.

Sie haben da einen wichtigen Punkt angesprochen lieber Herr Konrad! Ohne das wir uns wirklich ALLE erst mal "ehrlich" machen läuft gar nix! Ein Gerechter, wie man ihn glaube in allen Religionen kennt, hat zumindest für mich immer einen Hauch Übermenschlichkeit, gar Göttlichkeit! Wir sind aber nun leider wie wir sind in all unserer Fehlerhaftigkeit. Wie Sie sagen, Gerechtigkeit kann man nicht per Moralhoheit verordnen. Man kann sich um Chancengerechtigkeit in Bildung usw. bemühen, allein aber der Einzelne muss dann eigenverantwortlich was daraus machen. Und bei allen Anforderungen, die sich aus der Moderne ergeben, schadet ein Vergleich auch mal mit der Vergangenheit nicht, bzw. was als gut und erstrebenswert für das Lebensgefühl und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft galt. Unsere Eltern und wir mögen Spießer gewesen sein, doch mit Fleiß und Ehrgeiz konnte man sich hocharbeiten, auch sozial, Vattern allein die Familie ernähren und wir eine freie glückliche Kindheit genießen;)!

gabriele bondzio | Mi., 24. Juni 2020 - 10:09

Unter dem Eindruck eines gerade gelesenen Artikels, möchte ich mal konkret auf ein Thema einsteigen. Und zwar die Nutztierhaltung, da ich ja auch in einer dörflichen Gemeinschaft lebe. Und sie ja auch in gewisser Weise in die Fleischverarbeitung einsteigt. „So sei „der Tierhaltungssektor aufgrund der aktuellen politischen Situation mehr oder weniger ein Auslaufmodell“. Hier fehlt es eindeutig an wissens-/faktenbasiert Debatten im öffentlichen Raum. Vergleichen sie einfach mal die Milch und Wasserpreise im Supermarkt! Und stellen sie sich den Frust der Bauern dabei vor. Sie vertreten (was mir einleuchtet) die Ansicht, das Geld, das für Lebensmittel ausgegeben wird, sollte nicht „in den großen Handelsunternehmen verschwinden“. (Quelle ET/ Verschwindet die deutsche Nutztierhaltung?) Hier kommt eben mein oft gesagter Satz, jedes Ding hat zwei Seiten zur Anwendung.
Oder das Sprichwort: „Des einen Leid ist des anderen Freud'.