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Mit der Verfassungsreform will Putin seine Präsidentschaft auch nach 2024 garantieren / dpa

Verfassungsänderung in Russland - Wie Putin seine Macht erhalten will

Russlands Präsident ist mit allen Wassern gewaschen. Seit Jahrzehnten ist Wladimir Putin an der Macht. Doch nach der Verfassung soll damit 2024 Schluss sein. Putin sieht das anders und will mit einer Verfassungsreform seine Macht erhalten.

Autoreninfo

Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.

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Am 1. Juli stimmt Russland über die größte Verfassungsreform seit der Einführung der Verfassung im Jahr 1993 ab. Die Verfassungsreform bringt neben vielen umstrittenen Änderungen eine Annullierung der Amtszeiten von Wladimir Putin und ermöglicht ihm eine erneute Kandidatur sowohl 2024 als auch 2030. Die zahlreichen Änderungen entpuppen sich bei einer genaueren Betrachtung als weitgehend kosmetischer Natur. Gleiche oder ähnliche Rechtspositionen finden sich bereits seit vielen Jahren entweder in der Verfassung selbst, in Gesetzen oder in ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wieder.

Mit der formellen Erweiterung des Einflusses des Präsidenten innerhalb des russischen Machtsystems reagiert Kreml auf die Protestwellen der Jahre 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machttransit und bereitet sich sicherheitshalber auf eine nicht zur Kooperation bereite, präsidenten-unfreundliche Staatsduma vor. Vor allem aber rückt die heiß diskutierte Nachfolgerfrage in den Hintergrund. Der Machttransit in der jetzigen Form entpuppt sich als jedenfalls vorläufiger Machterhalt für das System Putin.

Ein plebiszitäres Regime unzähliger Grautöne

Das russische System ist ein sogenanntes „plebiszitäres Regime“. In den plebiszitären Regimen dienen die unterschiedlichen Formen der Referenda (Wahlen, Volksabstimmungen etc.) nicht dem demokratischen Wettbewerb alternativer politischer Projekte, sondern der Legitimität der durch die Staatsführung bereits getroffenen Entscheidungen. Die positiven Abstimmungsergebnisse werden der Öffentlichkeit als Beweis für die Unterstützung politischer Führung durch die Bevölkerungsmehrheit präsentiert. Die „gesamtnationale Volksabstimmung“ über die Verfassungsreform soll mit Hilfe der zahlreichen Verfassungsänderungen möglichst unterschiedliche politische Lager und Bevölkerungsgruppen zu den Abstimmungsurnen bringen und somit für eine ausreichende Legitimität sorgen; so insbesondere die Präsidentschaftskandidatur Wladimir Putins 2024 in den Augen der Bevölkerung rechtfertigen.

Dass Wladimir Putin nach 2024 bleibt, stand außer Frage. Dass er auch nach 2024 das Amt des Präsidenten bekleiden wird, ist aber eine große Überraschung. Bislang wurde diese Möglichkeit als ein durchaus vorstellbares, aber dennoch als ein Ultima-Ratio-Szenario betrachtet. Kaum war das Vorgehen des Kremls rund um die Verfassungsreform spontan, vielmehr war es eine minutiös geplante Inszenierung. Scheinbar ging man zunächst von mehreren Machttransit-Varianten aus; diese dürften aber als zu risikoreich bewertet worden sein. Letztlich entschied sich Kreml gegen das Machttransitszenario nach Vorbild Kasachstans. Eine nicht unbedeutende Rolle dürfte dabei (ähnlich wie schon 2011 bei der Rochade zwischen Wladimir Putin und Dmitri Medwedew) der Druck von Seiten eines engen Elitenzirkels gespielt haben. 

Die Marke „Putin“ – eine Erfolgsgeschichte seit Jahrzehnten

Als eigentlicher Schöpfer und zentraler Gestalter des politischen Systems beweist Wladimir Putin erstaunliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Über Jahrzehnte gelingt es ihm, die Marke „Putin“ erfolgreich zu vermarkten und mehrfach unter Beweis zu stellen, dass der Posten „Putin“ weitaus attraktiver und letztlich unersetzlich ist, im Vergleich zu den Posten „Präsident“ oder „Premierminister“. Man denke bloß an den berüchtigten Satz des russischen Parlamentspräsidenten Wjatscheslaw Wolodin, wonach es „ohne Putin kein Russland“ geben werde. Insofern sorgt die aktuelle Verfassungsreform, insbesondere aber der angekündigte Verbleib von Wladimir Putin als Präsident, für eine gewisse Beruhigung unter den politischen Eliten.

Der hohe Personalisierungsgrad, schwache Institutionen, ein handgesteuertes politisches System und eine noch gut kontrollierbare politische Landschaft sind Putin letztlich zum Verhängnis geworden. Ein freiwilliger Rückzug ist nicht nur schwer vorstellbar, sondern in Wahrheit aus machtfaktischen Gründen auch kaum möglich. In Anbetracht dieser Tatsachen ist das Fehlen einer klaren Vorstellung oder gar einer ausgeklügelten Strategie für ein Post-Putin Russland nicht weiter verwunderlich. Doch auch einem Post-Putin Russland wird Wladimir Putin, selbst nach dem endgültigen Ausscheiden aus der Politik, über Jahrzehnte erhalten und ähnlich wie Francisco Franco in Spanien in den politischen Diskussionen als steinerner Gast präsent bleiben.

Bedeutet die Verfassungsreform politischen Stillstand in Russland?

Nicht unbedingt. Die Frage des Machttransits hin zu einem Post-Putin Russland beschränkt sich nicht auf die Person Putins oder einen einzelnen Nachfolger. Eine ganze Nachfolgergeneration bezieht gerade in Russland machtpolitisch auf unterschiedlichen Ebenen Stellung. Mit jedem Tag gewinnt die Nachfolgergeneration an Stärke, Profil und Einfluss. Ganz im Sinne des laufenden Generationenwechsels sind die Vertreter der neuen Generation junger Technokraten (z.B. Anton Alichanow, Gouverneur des Gebietes Kaliningrad, Anton Wajno, Vorsitzender der Präsidialadministration, oder auch Aisen Nikolaew, Oberhaupt der Republik Jakutien) bereits heute in wichtigen Positionen zu finden, werden in den kommenden Jahren sowohl den Posten des Premierministers als auch einige Ministerien übernehmen und entscheidenden Einfluss auf die Geschicke des Staates über den mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestatteten Staatsrat ausüben.

Die Vertreter dieser Gruppe haben im westlichen Ausland studiert, pflegen ein betont angelsächsisches Auftreten und sind dennoch nicht pro-westlich eingestellt. Sie gehen lösungsorientierter an die komplexen Probleme heran, scheuen sich nicht davor, Konflikte einzugehen und wirken dabei erstaunlich unpolitisch. Sie ähneln nicht der alten – kriecherisch gegenüber den Vorgesetzten und der Politik, gebieterisch gegenüber den Untergebenen und der Bevölkerung agierenden – (Post)Sowjetbürokratie, sind aber eiskalte Pragmatiker der Macht. 

Der politische Ziehvater der neuen Technokraten

Für sich dürfte Wladimir Putin als politischer Ziehvater der neuen Technokraten die denkende und lenkende Rolle beim Generationenwechsel sowie dem bevorstehenden evolutionären Umbau des gesamten Staats- und Machtsystems vorgesehen haben; dies wohl im Geist von Deng Xiaoping oder Lee Kuan Yew. Durch die erneute Kandidatur und die sichere Wiederwahl 2024 erhofft sich Putin mehr Kontrolle, vor allem aber Zeit, um die bevorstehenden Veränderungen unter enger Begleitung abzuschließen. 

Das von Wladimir Putin über die vergangenen zwei Jahrzehnte geschaffene Machtsystem verändert sich langsam, dennoch grundlegend und unwiderruflich. Letzteres gilt aber auch für die russische Gesellschaft, welche schrittweise zu einem politischen Bewusstsein ihrer Selbst gelangt, nach mehr Mitbestimmung strebt, politische Bevormundung ablehnt und für die Pläne des Kremls die eigentliche Schlüsselunsicherheit darstellt.
 

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Romuald Veselic | Di., 23. Juni 2020 - 14:13

"Die Vertreter dieser Gruppe haben im westlichen Ausland studiert, pflegen ein betont angelsächsisches Auftreten und sind dennoch nicht pro-westlich eingestellt. Sie gehen lösungsorientierter an die komplexen Probleme heran, scheuen sich nicht davor, Konflikte einzugehen und wirken dabei erstaunlich unpolitisch."
Denn: Sie sehen was im Westen passiert; Gender Thesen u. ausufernde Multi-Geschlechtlichkeit. Im russischen Wesen, stellt sich dem ein massiver Widerstand entgegen. Mit dem Kommentar: Die westliche Menschheit, in ihrem Wohlstand/Prosperität u. Anarcho-Freiheit, verrückt geworden ist. Steht gleichwohl mit Systemzersetzung. Dafür findet die russische Mehrheit, den postsowjetischen Patriarchat lieber, als individueller, ad hoc gesteuerter/beliebiger Geschlechterstand, sowie die ausufernde Toleranz, in der alles toleriert wird, aufgestellt auf dem West-Kulturrelativismus, der sich anmaßt alles besser zu wissen, mit dem Patent für Erlösung der Menschheit.

Klaus Funke | Di., 23. Juni 2020 - 15:06

Putin ist für Russland ein ganz großer Gewinn. Wer das anders sieht, hat das Wesen des Riesenreiches nicht begriffen. Soll er regieren, solange er es vermag. Was der Westen von Russland will, bedeutet im Kern den Untergang Russlands. Wer die Geschichte und das Wesen Russlands kennt, der weiß, dieses Land ist nicht mit den Maßstäben der verkommenen und abgewirtschafteten Moral des Westens zu regieren. Als der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger in den Dreißigern des vergangenen Jahres in Moskau weilte, war er über die großen Plakate und Spruchbänder und die übergroßen Stalinbilder verwundert. Er fragte Stalin, der ihn empfangen hatte, danach. Stalin antwortete: "Was glauben Sie, wie laut man in Moskau rufen muss, um in Wladiwostok gehört zu werden!" Die Ratschläge des Westens zur Verbesserung der Demokratie in Russland, sind pure Heuchelei. In Wahrheit will man an Russlands Bodenschätze und Rohstoffe. Frau Allbright sage: Wieso gehören die Schätze Sibiriens den Russen?

Klaus Funke | Di., 23. Juni 2020 - 19:07

Antwort auf von Mirko Grams

Ja, die tschechisch-stämmige Madeleine Albright sagte diesen Satz in einem Interview, ausgerechnet in ihrem Geburtsland Tschechien. Alles belegt. Auf Wunsch mit Datum. Denn es ist tatsächlich so: Seit 1918 (Beginn der Interventionskriege) giert der Westen, allen voran Großbritannien, nach russischen Rohstoffen. Am liebsten würde man Sibirien westlich kolonisieren. Nur ganz Blauäugige ignorieren diese durchgehende Tendenz westlicher Russland-Politik. Es gibt konkrete Pläne zur Aufteilung Russlands in Interessenzonen. Und zwar ausschließlich aus Wirtschafts- und Rohstoffinteressen. Das Demokratiegeschwätz des Westens inklusive der USA sind wie im Falle Chinas nur vorgeschobene Heuchelei. Bitte aufwachen!

Kai-Oliver Hügle | Mi., 24. Juni 2020 - 12:24

Antwort auf von Klaus Funke

Ich hoffe, Herr Grams hat nichts dagegen, wenn ich mich einschalte, aber ich hatte ihn so verstanden, dass er gerne eine QUELLENANGABE hätte statt Ihrer Bekräftigung, "ja, es gibt Quellen", ergänzt durch neue unbelegte Behauptungen.;-)

Gerhard Lenz | Di., 23. Juni 2020 - 19:57

Antwort auf von Mirko Grams

eines Landes, das, so seine Fans, genau den Staatschef hat, den es braucht. Nach den Jahren des Jelzin-Chaos, weit verbreiteter Korruption und staatlicher Misswirtschaft wird Putin gerne als alternativlos dargestellt.
Die Russen brauchten heute eine starke Hand, die Ordnung im Land schaffe, wird argumentiert.

Alles Unsinn. Putin und seine Helfer (Medwedew etc.) haben sich in den vergangen Jahres ganz nach Wunsch des Landes bedient.
Allen Putinfans möchte man - in bester Tradition - zurufen: Na dann geht doch rüber! Was sie natürlich nicht machen. Denn sie würden um keinen Preis die BRD, die sie gerne als DDR 2.0 beleidigen, mit dem Chaos-Staat Russland als neuer Heimat tauschen.
Noch immer gibt es viele Russen, per Verwaltungsakt wegen einer Ur-Oma Deutsche, die ihr Land verlassen. In der neugewonnen Freiheit werden sie plötzlich zu glühenden Putin-Fans, so, als hätte der mit ihrer Auswanderung nichts zu tun, und wenden sich als Neubürger oft der Deutschland-feindlichen AfD zu.

Da würde ich Ihnen ausnahmsweise zustimmen, möchte aber darauf hinweisen, dass Sie die Latte sehr tief hängen: Zarismus, Leninismus, Stalinismus, gefolgt von gut 30 Jahren Konkursverwaltung und dann, nach dem Ende der SU, knapp zehn Jahre unter einem daueralkoholisierten Kleptokraten. Stimmt - im Vergleich dazu ist die autoritäre Präsidialherrschaft Putins ein Fortschritt.

Juliana Keppelen | Mi., 24. Juni 2020 - 11:56

Antwort auf von Kai Hügle

wo würden sie denn die Latte ansetzen. Glauben sie Russland läßt sich so regieren wie die Bundesrepublik mit ihren 16 Erbsenbeetchen?
Nur zur Erinnerung: Russland ist ca. 47 mal größer in Worten siebenundvierzig, hat 12 Zeitzonen, hat ca. 100 verschiedene Ethnien und fast alle Religionsarten vom Islam bis zum Schamanentum zu berücksichtigen und auszugleichen, hat Klimazonen von trobisch bis subarktisch, hat dichte Wälder und große Wüsten, hat Bergregionen höher als die Alpen, hat Flüße und Seen die größer sind als jeder Fluß und See bei uns, usw. usw. also wie würden sie dieses riesige Land regieren.

Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster hängen, aber ich denke, den Flüssen und Bergen und Wäldern ist es relativ egal, wer in Moskau/St. Petersburg das Sagen hat.
Die Bevölkerung in den USA ist 2,5× so groß und mindestens ebenso divers wie die russische, und dieses Land hat mit Demokratie insgesamt recht gute Erfahrungen gemacht, oder?

Klaus Funke | Do., 25. Juni 2020 - 10:48

Antwort auf von Kai-Oliver Hügle

Das soll wohl Ironie sein? Lockerer Schusswaffengebrauch, Institutionelle Rassendiskriminierung, Ausrottung und Diskriminierung der Ureinwohner bis heute, Zwei-Parteiensystem, soziale Differenzierung wie nirgends sonst, ungenügendes Gesundheitssystem, mangelnde "Volks"Bildung, die höchste Gefängnisinsassenzahl gemessen an der Bevölkerung, Ellebogengesellschaft. Und dann "die Mutter" und das "Musterland" der Demokratie. Das können Sie nicht ernst meinen. Vom BIldungsniveau will ich gar nicht reden und von der Chancengleichheit. Die USA sind das "neue" römische Reich, in dem die Army das höchste Gut ist... ich lach mich kaputt. Waren Sie mal da? Ich meine so richtig, z.B. bei den Ureinwohnern und in den Slams der schwarzen Bevölkerung? Ich hab mir´s angetan. Ich kenne auch Russland und die Russen. War oft da. Die beiden Länder trennen Welten, in der Tat, aber anders als Sie "herzensguter und hochgebildeter" Wessi annehmen. Vergleichen Sie mal. Aber ehrlich und unvoreingenommen.

Juliana Keppelen | Do., 25. Juni 2020 - 12:43

Antwort auf von Kai-Oliver Hügle

Verständigen wir uns darauf, dass nicht alle Länder und Völker so sein wollen wie die USA und wir endlich aufhören sollten andere Länder aus dieser sehr eingeschränkten Sichtweise zu betrachten.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 24. Juni 2020 - 08:27

Mögen die Russen selbst entscheiden, ob sie Putin länger wollen oder nicht. Wir haben uns auch für 16 Jahre Merkel entschieden und ich höre keinen Aufschrei der Medien. Was für eine Heuchelei das alles ist. Ich bin nicht mit allem einverstanden was die russ. Regierung so tut. Aber es ist Sache der Russen und nicht unsere. Erst wenn ihr außenpolitisches Handeln uns unmittelbar berührt, dann hören wir was? Richtig. Putin-Bashing. Der gleiche Putin, von dem wir Gas beziehen und mit dem wir Nordstream 2 vertraglich vereinbart haben. Der gleiche Putin der in Hinblick auf die Osterweiterungen belogen wurde.
Die Russen haben schon kulturhistorisch immer irgendjemand gebraucht, der sie "führt". Sie wollen das in der Mehrheit so, ob uns "Westlern" das passt oder nicht.
Das Putin seine Politik konsequent durchsetzt, mag an der ein oder anderen Stelle kritikwürdig sein. Nur ist das eben Sache der Russen und nicht unsere. Wir sollten vor der eigenen Haustüre kehren. Fangen wir mit 16 Jahre AM an.