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„Politik gehört nicht in den Hörsaal“ / dpa

100. Todestag von Max Weber - Mit kalter Leidenschaft gegen die Ideologisierung der Welt

Max Weber war der Mitbegründer der Soziologie. In seinen Schriften wandte er sich gegen die Unterdrückung der Menschen durch die Bürokratie und den Staat. Dieses Thema ist heute aktueller denn je.

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Am vergangen Sonntag vor hundert Jahren starb Max Weber, der Jahrhundertgelehrte. Die Resonanz auf diesen Jahrestag war jedoch erstaunlich verhalten. Natürlich gab es in den wichtigen Feuilletons dieses Landes wohlwollende Erinnerungen, doch das war es dann auch schon. Diese Zurückhaltung passt ins Bild.

Denn es ist stillgeworden um Max Weber. Seine Schriften werden mehr zitiert als gelesen. Zum geisteswissenschaftlichen Lektürekanon gehört er nur noch vom Hörensagen. Vor allem aber hat sich der intellektuelle Habitus nicht nur an den deutschen Universitäten weit von Weber entfernt – was nicht für die aktuelle Universitätslandschaft spricht. Doch dazu später.

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 20. Juni 2020 - 10:14

und ist nicht mehr, ein ausgestopfter Teddy-Bär, sagt ein altes Sprichwort.
Danke dafür Herr Grau, das Sie Max Weber wieder in Erinnerung rufen, obwohl er doch eigentlich Gegenwart sein sollte. In Zeiten, wo Denkmäler gestürzt und Straßennamen und öffentliche Gebäude umbenannt werden sollen, gehört da Weber mit seinen Aussagen bereits in die Schmuddelecke? Die 1968er haben sich wie im Film " The Fog", als Nebelschwade in die Behörden, die Unis und in die Politik und letztlich in die Gehirne der Menschen hinein gewabert. Im Rahmen meines Studiums hatte ich auch im Fach Soziologie von ihm und anderen gehört. Damals dachte ich, das ist doch selbstverständlich und wird niemals anders sein. So kann man sich irren. Weber zu zitieren könnte demnächst als ewig gestrig gelten. Vielleicht müssen demnächst seine Bücher verbrannt werden?
J.K. Rowling in GB erlebt gerade den öffentlichen Aufruf zur Verbrennung ihrer Bücher, weil sie sich nicht genderkonform verhält.
Kritischer Geist unerwünscht.

Gerhard Lenz | Sa., 20. Juni 2020 - 12:30

Antwort auf von Ernst-Günther Konrad

was haben Sie denn über Max Weber gelernt? Offensichtlich nicht sehr viel. Seine religösen Verzückungen, die er in der Entwicklung des Kapitalismus wiedergegeben sah? Seine Meinungen über abweichendes Verhalten, denen er eine funktionale Aufgabe im Sinne gesellschaftlicher Weiterentwicklung zuwies?
Seine Thesen zum Selbstmord infolge mangelnder Orientierung des Einzelnen? Seine Rechtfertigung bürokratischer "Errungenschaften"?
Weber war, verständlich, höchst zögerlich, als es 1918 darum ging, die alte Ordnung zum Teufel zu jagen. Umstürzler waren für ihn mehr oder weniger Verbrecher oder Verrückte - dabei hatte die geschätzte Ordnung des Kaiserreiches und eine kriegsbegeisterte Bevölkerung Deutschland gerade in eine Katastrophe geführt, die bereits den Nährboden des 2. Weltkrieges in sich trug.
Weber hat viel für die Soziologie getan, ob das was er dachte, geschichtlich eingeordnet immer sinnvoll war, ist eine andere Sache.

Helmut Bachmann | So., 21. Juni 2020 - 10:51

Antwort auf von Gerhard Lenz

Blockwart. Sie bringen jedoch Punkte an, die wirklich bewunderswert an Weber sind. Nur verstehen sie es nicht. Wen wundert es?

Christoph Kuhlmann | Sa., 20. Juni 2020 - 10:26

Heute gibt es kaum noch Ansätze die Gesellschaft, oder wesentliche Aspekte derselben, in einem überwiegend selbst erzeugten Konstrukt zu erfassen und zu erklären. Dem gegenüber steht eine kollektive vom Zeitgeist geprägte Dogmatik, die bestenfalls in den von Kuhn beschriebenen Paradigmata mündet. Einem Satz von halbwegs aufeinander abgestimmter Theorien und Hypothesen von begrenzter Halbwertzeit, deren Blind Spots eher zur polemischen Desinformation beitragen. Es geht immer darum die Denkverbote zu brechen. Nur so ist Erkenntnis in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften möglich. Max Weber trug dazu bei die Dogmen der Religionen zu entsorgen, indem er sie in seiner Religionssoziologie beschrieb und analysierte. Die Kirche hat die Funktion der Welterklärung für viele Menschen an die Wissenschaft verloren, nun versucht die Wissenschaft mittels Dogmen und Tabus eine erneut eine unreflektierte Gläubigkeit zu implementieren. Eine Dysfunktion im Wissenschaftssystem.

gabriele bondzio | Sa., 20. Juni 2020 - 10:48

bei wissenschaftlicher Arbeit und Leidenschaft im Privaten, scheint mir doch eine ideale Kombination.
Auch wenn es sicher wenige Menschen gibt, die nicht in einer gewissen Form ideologisiert sind.
Junge Leute sind es in der Regel immer und daher auch sehr empfänglich für Ideologien, besonders streng-moralischen Charakters.
Wir haben sie ja auch in diesem Sinne erzogen und an Universitäten treffen sie oft noch einen verstärkten Tenor an.
Ihren interessanten Artikel über Max Weber, Herr Grau, möchte ich mit einen gut-geschriebenen Artikel von Jan Fleischhauer (Dieser Film gehört verboten...“/Focus), verknüpfen.
Er zitiert John Cleese: „Wenn Leute ihre eigenen Emotionen nicht im Griff haben, müssen sie anfangen, das Verhalten anderer zu kontrollieren.“
In dem Satz liegt aus meiner Meinung auch die unpopuläre Sicht auf Max Weber begründet.
Man kann ihn ja nicht einmal mehr auspfeifen.

Markus Michaelis | Sa., 20. Juni 2020 - 13:24

"ist Weber fasziniert von der Brutalität der Zerstörung, die [die Moderne] in Gang setzt"

Ja, das ist wohl auch in Wellen seitdem und heute so. Wollen wir hoffen, dass die Änderungen friedlicher ablaufen, als damals durch 1914 erzwungen.

Was Webers akademisches Ideal angeht, habe ich im Moment weniger Hoffnung. Mir scheint es mehr auf ein Zeitalter der universellen Werte hinauszugehen (zumindest im "Westen"). Diesen muss der Mensch sich unterordnen - auch die Erkenntnis an Universitäten kann nicht über den universellen Werten stehen, sondern muss nach ihren Kräften beitragen, dass die Menschen diese Werte auch verstehen und umsetzen.

Markus Michaelis | Sa., 20. Juni 2020 - 13:38

Als Ergänzung zu meinem Kommentar zu universellen Werten: mir scheint auch die Interpretation unserer Verfassung immer mehr in diese Richtung zu gehen. Es ist nicht mehr ein Regelwerk unserer Checks&Balances, wie wir politisch streiten wollen, mit Leitplanken am Anfang, um Extreme zu verhindern.

Die Interpretation und Erwartungen an die Erfassung gehen immer mehr zu einem Text, der das Zusammenleben vorgibt. Mehr im Sinne eines religiösen Textes, der die Wahrheit unseres Zusammenlebens regelt. Die ges. Gruppen streiten sich, wer welchen Platz in den ersten paar Artikeln bekommt, in denen die Wahrheit festgelegt wird.

Ich hatte neulich zufällig eine "moderne" Verfassung in der Hand, die sächsische von 1994 (oder so). Die scheint mir relativ zum GG auch einen guten Schritt in diese Richtung zu gehen.

Die Erwartung ist, dass die bunte Welt dieser universellen Wahrheit folgt. Ob das gutgeht? Mir scheint der Mensch dafür viel zu bunt und widersprüchlich.

Gisela Fimiani | Sa., 20. Juni 2020 - 16:49

Während, nach Weber, der Verantwortungsethiker die Folgen seines Tuns sich selbst zurechnet, macht der Gesinnungsethiker „die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder - der Wille Gottes, der sie so schuf.“ Der Gesinnungsethiker jagt dem „guten Zweck“ im „Glaubenskampf“ nach, weil die Verantwortung für die Folgen fehlt. „In der Welt der Realitäten“ verwandelt sich der Gesinnungsethiker plötzlich „in den chiliastischere Propheten“ dessen „Liebe gegen Gewalt“ in Gewalt umschlägt. Der gegenwärtige (gesinnungsethische) Zeitgeist ist gewalttätig, indem er Menschen in despotistischer Weise zu „ihrem Glück“zu zwingen versucht. Unseren politischen Gesinnungsethikern fehlt „die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein.“ Sie sind ihrem Tun, ihrem Alltag, der wirklichen Welt nicht gewachsen und haben „den Beruf zur Politik“ verfehlt. Dieser Zeitgeist muß Weber vereiteln.

Christa Wallau | Sa., 20. Juni 2020 - 18:48

Seine Unterscheidung von "Gesinnungsethik" und
"Verantwortungsethik" ist für mich zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal in der politischen Diskussion geworden.

Heutzutage, da die MORAL einen sehr hohen Stellenwert in der gesamten Gesellschaft einnimmt bzw. einzunehmen scheint (Jedenfalls in den W o r t e n, die hitzig ausgetauscht werden, vor allem bei Demonstrationen junger Leute!), erscheint es mir unerläßlich, immer wieder auf diesen gravierenden Unterschied hinzuweisen.

Die gedankliche Kälte, die man Weber unterstellt, ist nichts anderes als VERNUNFT (logisches, Realität, Wünsche u. Moral abwägendes, zielgerichtetes Denken), um die es zu allen Zeiten bedeutenden Staatslehrern und Philosophen ging.
Weber damit auf eine Stufe mit politischen Missetätern bzw. in die Nähe von Nazis stellen zu wollen, ist absurd.

Rene Macon | Sa., 20. Juni 2020 - 19:49

Knapper & präziser lässt sich die Differenz zwischen dem Wissenschaftsverständnis Max Webers und dem heutigen Wissenschaftsbetrieb kaum beschreiben.

Besonders im ehemals liberalen Musterländle BW dürfen sich Hochschulleitungen - die heute mächtiger sind als je zuvor - dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität mit Billigung des Wissenschaftsministerium entledigen.

Dass dabei das indviduelle Grundrecht Art 5 (3) GG kollektiviert und damit pervertiert wird stört kaum noch jemanden.

Vorbei die Zeiten als Baden-Würtemberg mit dem berühmten "Beutelsbacher Konsens" die liberalen Maßstäbe im Bildungssystem setzte!

Heute ist das Erziehungsideal nicht mehr der mündige Bürger, sondern der "gute Mensch". "Gut" im Sinne "der" Ethik, die in der Regel eine starke Schlagseite in Richtung grüner Parteidogmatik hat.

Die Geschichte zeigt, wo so etwas hinführt...

Klaus Decker | So., 21. Juni 2020 - 13:17

Ich bin bekennender Evangelikaler. Dennoch fasziniert mich dieser Max Weber: Gegen den irrationalen Messianismus unserer Zeit hilft nur
die "kalte Analyse".