Die Unterzeichnung des Vertrags für die Montanunion am 18. April 1951 im französischen Außenministerium

Schuman-Plan vom 9. Mai 1950 - Die Europäische Union war nie ein Selbstläufer

Heute vor 70 Jahren, am 9. Mai 1950, schlug der französische Außenminister Robert Schuman eine „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ vor. Der Grundstein für die EU war gelegt. Doch so stringent, wie es aus heutiger Perspektive scheint, war der Weg zu einem geeinten Europa nicht.

Ulrich Schlie

Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Die Erklärung, die der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 um 18.00 Uhr im Uhrensaal des Quai d’Orsay für seine Regierung abgab, wird bis heute als visionäres Dokument, als Fanfarenstoß der Supranationalität und als Masterplan für die europäische Integration gefeiert. Der Vorschlag zur Gründung einer (west)europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ging auf die Überlegungen Jean Monnets zum Zusammenschluss der Schwerindustrie der westeuropäischen Staaten zurück.

Der begrenzte Zusammenschluss von Kohle und Stahl sollte sowohl den nationalen französischen (Wirtschafts)interessen dienen, wie auch dem späteren wirtschaftlichen Zusammenschluss Kontinentaleuropas den Weg bereiten. Das Bündel scheinbar unterschiedlicher Motive - es ging um die Modernisierung der französischen Wirtschaft ebenso wie um die Grundsteinlegung für einen gemeinsamen Markt durch die Herstellung gemeinsamer Produktionsbedingungen zwischen Deutschland und Frankreich - weist dem Schuman-Plan in der Geschichte der europäischen Gründungsdokumente einen besonderen Platz zu. 

Keine andere Wahl

Aus der heutigen Sicht der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union sind wir geneigt, im europäischen Zusammenschluss eine Stringenz zu erkennen, die der tatsächliche Verlauf der Geschichte nicht hergibt. Gewiss, die europäische Integration war von Anfang an ein politisches Projekt, die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich für Bundeskanzler Konrad Adenauer das Grundaxiom seines politischen Bekenntnisses, mit dem er Deutschlands Rückkehr in die Staatengemeinschaft als integralen Teil West-Europas ermöglichen wollte. Das Kalkül Adenauers, daß die Periode der Schikanen, wie sie mit dem Abschluss der Saar-Konventionen eingesetzt hatte, beendet werden könnte, ging auf. Bei Lichte betrachtet hatte Deutschland gar keine andere Wahl, als an der Seite Frankreichs den Weg zurück in die Staatengemeinschaft als gleichberechtigtes Glied anzutreten. 

Die Geschichte des europäischen Zusammenschlusses in den 1950er Jahren, von der Montan-Union über den Pleven-Plan bis zum Scheitern des Projekts der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Ersatzlösung der Westeuropäischen Union ist indes von wiederholten Rückschlägen, auch von Krisen geprägt und zeigt, dass die europäische Einigung nie losgelöst von der politischen Großwetterlage zu betrachten ist. Auch diese Geschichte ist im Schuman-Plan bereits in Spurenelementen enthalten. Jean Monnet ist bisweilen dafür getadelt worden, dass er Europa von der Wirtschaft und der Währung her aufgebaut habe. Blickt man auf die Modellhaftigkeit des Schuman-Plans für die europäische Einigung, so wird freilich gerade bei der Betrachtung der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen die Richtigkeit seines Kalküls bestätigt.

Reich an Erfahrungen

Deutschland und Frankreich sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen langen Weg gegangen. Wenn sie heute enger denn je in ihrer Geschichte aufeinander bezogen sind und sie in der Vergangenheit der europäischen Einigung immer wieder entscheidende Impulse gegeben haben, ist dies auch einer Entwicklung zu verdanken, die maßgeblich mit dem Schuman-Plan eingeleitet wurde. Denn ohne die deutsch-französische Freundschaft gäbe es wohl Europa in seiner heutigen Form nicht, und ohne den Vertrag hätten vermutlich hier und da auftretenden Spannungen zu einer tatsächlichen zeitweiligen Entfremdung führen können. 

„Das Schicksal Deutschlands“, hatte Adenauer damals nicht ohne Pathos formuliert, „wird das Schicksal Frankreichs sein, und das Schicksal Frankreichs wird das Schicksal Deutschlands sein“. Was für Monnet und Schuman galt, trifft erst recht auch für Adenauer und de Gaulle zu. Sie alle dachten in historischen Kategorien, sie waren reich an Erfahrungen und gingen gleichwohl rational an ihre Aufgabe heran: im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung vor der Geschichte und mit dem festen politischen Willen, das als richtig Erkannte auch gegen Widerstände durchzusetzen. 

Zu den Aspekten, die bei einer Betrachtung des Schuman-Plans in seiner folgenreichen Bedeutung - auch für die Lehren der Gegenwart - nicht fehlen dürfen, zählt das Kalkül der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Damals, im Vorfeld der Entscheidung von 1950, haben sie Frankreich durch zarten Druck zum Handeln bewegt, nicht zuletzt auch, weil sie einen Zusammenbruch der Vierten Republik und politisch unhaltbare Zustände in Frankreich, insbesondere den weiteren Aufstieg der kommunistischen Partei, befürchteten. Frankreich hat diese Fingerzeige aufgegriffen. Auch aus einer Position der Schwäche heraus kann eine geschickte Diplomatie taktischen Nutzen ziehen, vorausgesetzt, die andere Seite wird richtig kalkuliert und die eigenen Ansprüche nicht ins Unerfüllbare gesteigert. 

Geschichte verläuft nicht in Einbahnstraßen

Schließlich darf bei einer Analyse der Blick auf das Beiseitestehen Großbritanniens nicht fehlen. Die Abwesenheit Britanniens ist dabei von Anfang an - Parallelen zur Gegenwart können gezogen werden - von vielen Zeitgenossen als Handicap betrachtet worden. Einer reichen zeithistorischen Forschung verdanken wir die Einsicht, dass seinerzeit die abschlägige Antwort aus London erst nach internem Ringen erfolgt ist und es durchaus vorstellbar gewesen wäre, damals wie heute, dass eine andere als die dann getroffene Entscheidung gefällt worden wäre. Geschichte verläuft nicht in Einbahnstraßen, und Staaten handeln vorrangig interessengeleitet. Die Entscheidung der Vereinigten Staaten, nach 1945 zur europäischen Macht zu werden und auf dem Kontinent zu verbleiben, ist den Unsicherheiten der damaligen Konstellation des beginnenden Kalten Krieges geschuldet.

In unserer Gegenwart daran zu erinnern heißt, sich zu vergegenwärtigen, dass historisch getroffene Entscheidungen nie unumkehrbar sind. Ohne die Vereinigten Staaten hätte der Prozess der europäischen Einigung nicht die Wendungen genommen, die ihn zur Erfolgsgeschichte gemacht hat, auch und gerade durch die enge Verklammerung mit der atlantischen Sicherheit. Nichts, in Europa zumal, ist irreversibel. Ein politisches Konzept, gerade wenn es mit weitreichenden Folgen für den ganzen Kontinent verbunden ist, muss beworben und im Austausch von pro und contra argumentativ behauptet werden. Auch der Schuman-Plan war zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung in der französischen classe politique nicht unumstritten. Wenn sich am Ende Jean Monnet und Robert Schuman - mit durchaus unterschiedlichem Kalkül - durchgesetzt haben, so verdanken sie dies neben der eigenen konzeptionellen Stärke auch der Kühnheit und Weitsicht ihrer Argumentation. 

Die EU war nie ein Selbstläufer

Müssen wir die Idee der Supranationalität im Wissen um den Verlauf der Geschichte neu bewerten? Wer die Überlegungen der französischen Stahlwirtschaft in der zeitgeschichtlichen Konstellation der Entstehung des Planes analysiert, wird die marktregulatorischen Aspekte der mit dem Plan verbundenen Neufestsetzung des Kartellrechtes mit dem Ziel ungehinderten Wettbewerbs auf dem Kohle- und Stahlmarkt Westeuropas und den damit verbundenen Möglichkeiten der Verbilligung der eigenen Stahlproduktion sowie der Erhöhung der internationalen Konkurrenzfähigkeit durchaus als geschickten Schachzug, der der Ratifikation des Planes diente, erkennen. Die Schlussfolgerung, die sich für das heutige Europa daraus ergibt, kann nur lauten, dass die Vorzüge des Zusammenschlusses für die einzelnen Mitglieder im Resultat immer den Ausschlag für die Zustimmung zum Gesamtprojekt ergeben müssen. 

Die Europäische Union ist zu keinem Zeitpunkt in ihrer Geschichte ein Selbstläufer gewesen. Sie hat immer primär einen politischen Zweck gehabt und darf deshalb darüber insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte gerade in Zeiten der Umwertung aller Werte durch eine fortdauernde Pandemie mit tiefgreifenden Einschnitten nicht außer acht lassen. Europa muss immer wieder neu gebaut und, wo nötig, auch umstrukturiert werden. Die Weitsicht, der politische Mut und die Überzeugungskraft der Gründungsväter sollten uns dabei Ansporn und Richtschnur sein. 

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Christa Wallau | Sa., 9. Mai 2020 - 23:21

Richtig.In einem Entwicklungsprozeß ohne jegliches Beispiel (an dem man sich orientieren könnte) ist es notwendig zu erkennen, daß es durchaus auch ein "Zurück" geben kann.

Angesichts der Dauerprobleme, die der Euro den äußerst verschiedenen Staaten u. Völkern in der EU bereitet, ist es allerhöchste Zeit, neu nachzudenken u. einen halbwegs vernünftigen und finanzierbaren Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Dabei darf es keine Denkbeschränkungen geben!
Erst muß eine e h r l i c h e Bestandsaufnahme in allen Ländern erfolgen, u. dann müssen verschiedene Wege aus der Dauerkrise diskutiert werden.
Der bisherige Weg der immer höheren Neuverschuldung ist ein Weg in die vorhersehbare
Katastrophe mit Verlierern, die sich gegenseitig die
Schuld zuschieben werden - also genau das Gegenteil von dem, was die EU sein sollte, nämlich ein "Friedensprojekt". Wenn dieser Weg nicht endlich beendet wird, landen wir dort, wo im vorigen Jahrhundert alles Unheil begann: in der Zerrissenheit Europas.

Ernst-Günther Konrad | So., 10. Mai 2020 - 07:16

Sowohl Frankreich als auch Deutschland hatten neben dem dringenden Wunsch einer Versöhnung, auch wirtschaftliche Interessen. Das ist und war legitim. Nirgends aber war damals die Rede davon, so etwas, wie die Vereinigten Staaten von Europa einzurichten. Der heutige EU-Wahnsinn war niemals Grundgedanke damaliger Politik. Freundschaft und gemeinsamer Handel, aber immer auch an den eigenen Interessen orientiert. Auch die Gründungsmitglieder der EWG verfolgten diesen Zweck und erkannten im Zuge des Kalten Krieges die Notwendigkeit, sich auch eng mit den USA zu verbünden. Ein dritter Krieg würde auf europäischen Boden, vor allem in DE stattfinden, nicht irgendwo in Nevada. Das vergessen die heutigen USA-Gegner völlig. Nur weil ihnen Trump unangenehm ist und sicher kein Symphatieträger, muss man nicht mit der USA brechen. Nach Trump kommt der/die nächste und dann?
Bis heute verfolgt Frankreich vor allem nationale Interessen und besteht auf EU-Führerschaft. Was machen wir inzwischen? Zahlen.

Jens Rudolf | So., 10. Mai 2020 - 08:57

aus der gemeinsamen Kohle und Stahlgemeinschaft mal ein europäischer zentralistischer Superstaat werden soll, der mit allen Mitteln und jenseits des Demokratielevels der Nationalstaaten durchgedrückt wird? Diesen Staat will niemand, schon weil solche Staatengebinde in der Geschichte IMMER zum Scheitern verurteilt waren. Und per Salamitaktik und Hinterzimmer schonmal garnicht.

Dorothee Sehrt-Irrek | So., 10. Mai 2020 - 14:01

werden, ein Selbstläufer, sondern IMMER die Balance europäischen MITEINANDERS innnerhalb der Möglichkeiten von Europa und der An-/ Herausforderungen vor die sich Europa gestellt sieht.
Ich bin da seit der Wiedervereinigung Europas eigentlich noch optimistischer.

Alexander Mazurek | Mo., 11. Mai 2020 - 09:17

… Philippe de Villiers' Werk über die Gründungsväter Europas, Schuman, Monnet und den 1. Präsidenten der EK, Hallstein, "J’ai tiré sur le fil du mensonge et tout est venu", zeigt unbekannte Zusammenhänge auf.
Dass es der EU nicht gelang, zum Machtfaktor zu werden, den Euro als Reservewährung gegen den Dollar zu etablieren, ..., mag am "made in USA" liegen, aus der Sicht von jenseits des Atlantiks "it's not a bug, it's a feature" - aber, so wusste schon Aristoteles, "ein kleiner Fehler im Anfang, am Ende ein großer wird".
Wenn die EU ihre föderalen Wurzeln endgültig kappt, wird sie als eine monolithische Zentralbürokratie für uns, Bürger Europas, zum Tyrannen, nicht zu unserem Nutzen.