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Berlin nach Kriegsende 1945 / dpa

Kriegsende am 8. Mai 1945 - Die Geschichte kennt keine Stunde Null

Wenn der 8. Mai in Berlin nun erstmalig zum „Feiertag“ erhoben wird, umweht diese Entscheidung der Hautgoût von politischem Opportunismus und Geschichtsrevisionismus. Dies wird der vielschichtigen Dimension des Ereignisses nur unzureichend gerecht, schreibt Ulrich Schlie.

Ulrich Schlie

Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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„Wir kapitulieren nie“, stand in großen weißen Lettern an den Mauerwänden, an den zerlumpte, geschundene Menschen vorbeizogen. Menschen mit ausgezehrten Gesichtern, oft in abgerissenem Tuch, dem seine ursprüngliche Bestimmung als Wehrmachtsuniform noch anzusehen war.

Bei S-Bahneingängen oder von Balustraden baumelten erhängte Soldaten, ein Pappschild um den Hals mit der Aufschrift: „Ich hänge hier, weil ich zu feige war, mein Sturmgeschütz aufzumunitionieren und mich dem Feind entgegenzustellen“ oder einfach nur: „Ich bin ein Deserteur“. Mai 1945 war auch die Zeit des kollektiven Selbstmords in Deutschland. SS-Angehörige erschossen sich gegenseitig, in den Notlazaretten in den Katakomben war namenloses Elend zuhause.

Tage des Überlebens

Vom tausendjährigen Reich war nicht viel mehr als Ruinen übrig geblieben, als die stummen Zeugen eines Größenwahns. Malcolm Muggeridge, britischer Geheimdienstoffizier und Schriftsteller, bemerkte süß-sauren Verwesungsgeruch als Wolke über Berlin und bemühte als Vergleich für das trostlose Landschaftsbild, das sich ihm bei seinem Besuch bot, die Krater des Mondes. Alles war brüchig, auch der Boden der Zivilisation.

Es waren, wie Margret Boveri schrieb, Tage des Überlebens. Deutschland lag am Boden, weil Hitlers Regime niedergeworfen werden mußte. Gewiss, der 8. Mai war auch ein Tag der Befreiung, die Befreiung von der Herrschaft des Nationalsozialismus, und weil der Krieg in Europa zu Ende gegangen war, ein Krieg, der Europa ausgebrannt, um seine Mitte gebracht hatte. Aber die Gründe zum Feiern waren begrenzt.

Hitlers Selbstmord war die eigentliche Zäsur

Der Krieg war nun de facto zu Ende, aber das ganze Ausmaß der politischen und moralischen Katastrophe drang erst allmählich ins Bewusstsein vor. Noch waren die Umrisse dessen, was kommen sollte, gar nicht erkennbar, und die Dimension des von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieges war buchstäblich unermesslich. Hitler war die Klammer, die die ungleichen Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition zusammenhielt; ohne Hitler war das Dritte Reich nicht vorstellbar.

Hitlers Selbstmord, seine Höllenfahrt am 30. April, war die eigentliche Zäsur. Doch es war angezeigt, gegenüber Todesnachrichten aus Deutschland misstrauisch zu sein. Großadmiral Dönitz, Hitlers Nachfolger, hatte noch in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, als er noch nichts vom Selbstmord seines „Führers“ wusste, seinem „größten Helden“ ein Ergebenheitstelegramm geschickt.

Rumpf-Deutschland

Sein erster Tagesbefehl an die Wehrmacht war eine Lüge: „Getreu seiner großen Idee, die Völker Europas vor dem Bolschewismus zu bewahren, hat er sein Leben eingesetzt und den Heldentod gefunden. Mit ihm ist einer der größten Helden der deutschen Geschichte dahingegangen.“ Herbert Lüthy hat in einem hellsichtigen zeitgenössischen Artikel über „Europa – Sommer 1945“ das Verschwinden des deutschen Staates als „letzte[n], heimtückische[n] Triumph des Nationalsozialismus“ bezeichnet.

Noch allerdings gab es in Rumpf-Deutschland für drei Wochen, bis zur Verhaftung durch die Alliierten am 23. Mai 1945, eine Restregierung unter Führung von Großadmiral Dönitz mit eigenen Hoheitszeichen, der als Hoheitsgebiet eine kleine Enklave in Flensburg-Mürwik verblieben war. Der Geist dieses Kabinetts war noch immer nationalsozialistisch, Zielsetzungen und Erwartungen illusionär. Dönitz und seine Mitstreiter Speer, Backe, Dorpmüller und Schwerin-Krosigk hingen der Illusion an, die Anti-Hitler-Koalition könne bald zerfallen und das Kabinett eingefleischter Nationalsozialisten sei für das Management des Übergangs unentbehrlich.

Unübersichtlichkeit als Euphemismus

Kabinettssitzungen fanden auf Schloß Glücksburg statt, der Übersichtlichkeit der Themen halber waren sie auf Vormittage beschränkt. Eifrig wurden Memoranden geschrieben für Besprechungen in Reims, zu denen es nie kommen sollte. Es gab weiterhin einen Chef des Militärkabinetts und einen Chef des Zivilkabinetts. Die Schnapsvorräte aus den Lagerbeständen des Reichsernährungsministers Backe sorgten dafür, daß die Stimmung besser war als die tatsächliche Lage. Die Lage war, milde formuliert, unübersichtlich.

Nie waren die Spannungen in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen größer als in den Monaten April und Mai 1945. Molotow hatte durch seine starre Haltung, mit der er auf der Forderung nach einem sowjetischen Veto und dem Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat beharrte, die seit 25. April tagende Konferenz von San Francisco lahmgelegt. Erst als Truman den einstigen Roosevelt-Vertrauten Harry Hopkins zu Verhandlungen vom 26. Mai bis 6. Juni nach Moskau schickte, gelang es, den toten Punkt in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu überwinden.

Mehr Verlierer als Sieger

Am 5. Juni 1945 übernahmen die vier Hauptsiegermächte die oberste Regierungsgewalt in ganz Deutschland und setzten einen Alliierten Kontrollrat ein. Eigens wurde in dieser „Berliner Erklärung“ festgehalten, daß die Übernahme der gesamten Gewalt und Befugnisse keine Annexion bedeute; doch wer auf Grund dieser Bestimmungen „in Anbetracht der Niederlage Deutschlands“ künftig das Sagen hatte, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es mehr Verlierer als Sieger, und auch die Grenze zwischen Siegern und Verlierern war bisweilen verwischt. Verlierer: Das war neben dem besetzten und zerstörten Deutschland zunächst Europa als ganzes. In Europa hatte Hitler den Krieg im Sommer 1939 entfesselt, im Mai 1945 war Europa eine Trümmerlandschaft. Auch wenn der Krieg im Pazifik noch fortdauerte, in Europa war er im wahrsten Sinn des Wortes ausgekämpft worden. Der 8. Mai wurde von den Alliierten zum Victory in Europe-Day proklamiert, ein Sieg für Europa war es am wenigsten.

Europa – das Objekt außereuropäischer Mächte

Europa war verzwergt, wie Toynbee schrieb, oder, wie es der Historiker Herbert Lüthy formulierte, „desaxé“, es hatte seine Mitte verloren, war eine Art „Weltbalkan“ geworden: Ausländische Intervention, Besatzungsherrschaft, Zonenaufteilung, Schlagbäume, Demontage, Demokratie kam von außen, auf den Schießkrieg folgt der kalte, dies war die Wirklichkeit Europas der Jahr 1945 und folgende. Europa, einst Zentrum der Weltpolitik, war vom Subjekt zum Objekt außereuropäischer Mächte degradiert.

Die Rote Armee hatte neben der Hälfte Deutschlands auch noch Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, große Teile der Tschechoslowakei und Ostösterreichs erobert, sie stand im dänischen Bornholm, war über Nordfinnland bis nach Nordnorwegen vorgedrungen und hatte sich aus den von ihr gemeinsam mit Titos Partisanen im Oktober 1944 „befreiten“ Teilen Jugoslawiens mit der Hauptstadt Belgrad schon wieder zurückgezogen. Und welche Bilanz konnte die Sieger ziehen? Großbritannien hatte – in den bekannten Worten Dean Achesons – zwar ein Imperium verloren, aber noch keine Rolle wiedergefunden.

Politik der Überschätzung

Der Niedergang war lang und schmerzlich – er dauerte von der Mitte der 1930er Jahre bis in die 1980er Jahre. Was blieb, war die Erinnerung an die "finest hour" 1940/41, als Britannien allein dem nationalsozialistischen Europa trotzte. Bald vermischten sich im Rückblick Mythos und Realität. Das klägliche Ende des Suezabenteuers 1956 und der Verlust der Kolonien in den 1960er und 1970er Jahren trugen endgültig dazu bei, dass sich der Blick zurück auf die letzte große Stunde der Weltmacht Großbritannien verklärte.

Auch in Frankreich, das im Nachhinein zum Sieger des Krieges erklärt und damit formal zur Großmacht ernannt wurde, führte die Verkennung der eigenen Stellung zu einer Politik der eigenen Überschätzung. Vom Kriegsheld General de Gaulle mit dem besoin de grandeur und dem Appell an das ewige Frankreich geschickt getarnt, konnte diese Politik den Franzosen doch nicht die Traumata von Dien Bien Phu (1954) und Algerien (1962) ersparen. Die Demütigung von 1940, als nicht nur die "Dritte Republik" zusammenbrach, sondern auch die im Hafen vor Oran liegende französische Flotte durch britische Luftbombardements versenkt wurde, hatte sich zudem tief ins Gedächtnis der Nation eingeprägt.

Gefahr der Geschichtsvergessenheit

Wenn der 8. Mai in Berlin nun erstmalig zum „Feiertag“ erhoben wird, umweht diese Entscheidung der Hautgoût von politischem Opportunismus und Geschichtsrevisionismus. Dies wird der vielschichtigen Dimension des Ereignisses nur unzureichend gerecht. Gewiss, Adolf Hitler war auch an der deutschen Teilung schuld, aber der Umstand, dass ein Teil der Deutschen nach dem 8. Mai den Weg in der Unfreiheit fortsetzen musste, und dass Flucht und Vertreibung zu diesem Schicksal gehörten, darf nicht aus den Augen verloren werden.

Eine zu einseitige Betrachtung für ein derart vielschichtiges Ereignis wie das Kriegsende in Europa läuft Gefahr, zu weiterer Geschichtsvergessenheit zu führen. Es wäre heute vielmehr an der Zeit, nicht nur genau hinzusehen, sonder den Blick auch noch stärker als bisher auf die europäische Dimension zu weiten. Der 8. Mai ist seit jeher ein Gedenktag, aber kein nationaler Feiertag gewesen, und sollte in einem zusammenwachsenden Europa mehr denn je Anlass zum Nachdenken für europäische Geschichte sein, vor allem Grund zur Empathie mit den europäischen Völkern, denen der von Hitler aufgezwungene Krieg in der Ordnung von Jalta einen noch höheren Preis der Unfreiheit auferlegte als es die schmerzliche Teilung für die Deutschen bedeute.

Die Geschichte kennt keine Stunde Null. Ende und Anfang, das lehrt auch und gerade der 8. Mai, sind in der Geschichte oft ganz nah beieinander. Die Lehren der Vergangenheit können dabei Ansporn für die Zukunft sein. Die Bemühungen um das humanitäre Völkerrecht, um einen verbesserten Schutz der Menschenrechte, und um eine im besten Wortsinn Europäische Union werden nur gelingen, wenn wir wachsam gegenüber jedweden Gefährdungen der Freiheit bleiben und auch unser Wissen und Verständnis dafür vertiefen, was das Kriegsende jeweils in den Staaten Europas bedeute und was vor 75 Jahren in Europa begann.

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Christa Wallau | Fr., 8. Mai 2020 - 09:11

Zusammenfassung zum Thema Kriegsende bzw. "8. Mai als Feiertag" in Deutschland hat der Autor hier geschrieben.
Ich möchte ihm dafür ausdrücklich danken.

Es wäre ein Schlag ins Gesicht aller unschuldigen deutschen Kriegsopfer, wenn dieser Tag n u r als
"Tag der Befreiung" bei uns gefeiert würde.

Zudem wäre es wohl der allererste Gedenktag auf der Welt, an dem ein Volk feiert, daß es den
Krieg verloren hat und sich an einem Tiefpunkt seiner Geschichte befindet. Ein absolutes Novum!
Kein Ruhmesblatt, sondern eine Monströsität.

Damit würde ein weiterer Beweis dafür geliefert, daß "die" Deutschen sich immer über andere erheben wollen - im Guten wie im Bösen.
Wann hört diese Überheblichkeit (= Dummheit) endlich auf???

"Wir brauchen eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!"

Wir brauchen keine Hervorhebung der deutschen Kriegsopfer. Schliesslich war es Deutschland, das ganz alleine den Krieg angefangen hat. Alle Opfer, einschliesslich jene unter der deutschen Zivilbevölkerung, sind letztendlich Konsequenzen deutschen Handelns.

Statt jetzt durch Betonung der Opferzahlen in der deutschen Bevölkerungszahl die Relativierung der vielen, durch die Deutschen hervorgerufenen Leiden zu versuchen, sollte man den Tag als "uneingeschränkt" zu begrüssendes Ende eines tyrannischen Regimes und eines mörderischen Krieges feiern, ohne jegliches völkisches Geschwätz.

Jawohl, Deutschland sollte seine Kriegsniederlage feiern - denn Deutschlands Befreiung war auch eine Niederlage des Nazi-Regimes.

Wer diese Niederlage nicht feiern will, muss sich die Frage gefallen lassen, ob ihm/ihr der Sieg Hitler-Deutschlands möglicherweise lieber gewesen wäre.

' ... Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche KEIN Tag zum Feiern. ...
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. ...
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. ...'

R. von Weizsäcker; 08. Mai 1985

Herr Lenz, Sie entscheiden nicht, was 'WIR' brauchen.
Sprechen Sie doch einfach für sich.

Wer Ihre Kommentarhistorie kennt, der ist nicht überrascht, dass Sie zu den
Menschen gehören, die eine GedenkFEIER heute als "Monströsität" betrachten.
Der Tiefpunkt unserer Geschichte ist nicht der 8. Mai 1945 sondern die 12 Jahre Diktatur und Rassenwahn sowie ein darauf basierender Vernichtungskrieg, der an jenem Tag endete!
Die große Mehrheit unserer Landsleute gedenkt heute der Opfer dieser Barbarei und ist froh und dankbar (aus eigener Kraft haben wir diese Diktatur ja nicht überwunden), dass dieses Deutschland am 8. Mai 1945 am Ende war.
Was das mit "Überheblichkeit (=Dummheit)" zu tun haben soll, bleibt das Geheimnis von Leuten wie Ihnen, die Sie noch vor wenigen Tagen, am 4. Mai, hier in diesem Forum behauptet haben: "Manche [Ethnien] lügen dreister als andere."
So erschütternd diese Aussage auch ist, man muss Ihnen eigentlich dankbar sein, sind Sie doch der lebende Beweis, dass Rassismus auch 75 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes noch immer virulent ist in Deutschland.

Jürgen Wulfert | Fr., 8. Mai 2020 - 22:58

Antwort auf von Kai-Oliver Hügle

Sehr geehrter Herr Hügle,

ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Kommentar bezüglich der Einlassungen der omnipräsenten Frau Wallau, die zu scheinbar jedem Thema zu äußern sich bemüßigt fühlt. Man mag über viele dieser Bemerkungen den Kopf schütteln, bezüglich des Tages der Befreiung reicht das aber nicht. Diese Aussage ist in der Tat erschütternd, auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass vor 35 Jahren Richard von Weizsäcker für immer Gültiges in dieser Angelegenheit gesagt hat. Dafür muss man heute noch dankbar sein, wie man heute Abend unfreiwillig sehen konnte: Selbst der Tagesschau waren die Corona-Fälle im Schlachthof wichtiger als das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges durch den Tag der Befreiung.

Im Wissen, dass mein Zuspruch zu ihrem hervorragenden Kommentar wieder "meinen Begleiter" und sein Schoßhündchen auf den Plan rufen wird, kann ich nur sagen, ich hätte es nicht besser formulieren können. Natürlich darf zu diesem Thema jeder eine Meinung, auch dezidiert eine andere Meinung haben. Ich frage mich nur, wie gehen Herr Lenz und Herr Hügle mit ihrer eigenen Herkunft und Lebensbiografie um?
Fühlen sie sich deutsch, auch mit einer solchen Geschichte? Leugnen beide ihre Herkunft, wenn sie danach gefragt werden? Was hält sie in einem Deutschland, das sie selbst in Teilen so vehement ablehnen. Wie haben ihre eigenen Eltern damals agiert?
Was haben die beiden Herren selbst als Nachkriegsgeneration zum Aufbau bzw. Erhalt und Fortentwicklung dieses Landes getan?
Leider lässt sich in diesem Forum so breit nicht diskutieren. Mit den beiden Herren sowieso nicht, die haben ihre Meinung einzementiert und sind eigentlich an Diskussion und zuhören, sowie reflektieren nicht interessiert.

Urban Will | Fr., 8. Mai 2020 - 09:36

In wohl keinem anderen Land der Welt würde jemand auf die Schnapsidee kommen, einen Tag wie den 8.Mai zum „Feiertag“ zu erklären.
Dass Deutschland vom Naziterror befreit wurde, so wie Weizsäcker das erstmalig als Staatsoberhaupt formulierte, ist richtig und so ist dieses Datum ein sehr wichtiges, dem wir immerfort zu „gedenken“ haben.
Aber feiern?
Was denn feiern?
Dass das Morden der Nazis ein Ende hatte?
So etwas „feiert“ man nicht, so etwas gedenkt man in Stille und Demut. Schon aus Respekt vor den Opfern.
Oder:
Dass Hunderttausende Zivilisten in den Trümmern zusammengebombter Innenstädte lagen?
Das militärische Niederringen der Wehrmacht hatte viele Schattenseiten, das sollte nicht vergessen werden, ohne hier irgend etwas relativieren zu wollen.
Oder:
Dass für große Teile Europas und auch Deutschlands eine Zeit der Unfreiheit begann, wie Herr Schlie das ja sehr zutreffend formulierte?

Geschichtsrevisionisten und „Ewiggestrige“ warten doch nur auf solch einen Akt der Naivität.

►Die Wahrheit: Für die große Mehrheit der Deutschen war der 8. Mai 1945 eine Niederlage.

● vor Kriegsende hat es in Deutschland keinen nennenswerten antifaschistischen Widerstand aus der Bevölkerung gegeben. Und schon gar nicht aus der deutschen Arbeiterklasse. Im Gegenteil, trotz der Niederlage in Stalingrad, Ende 1942 bis Anfang 1943, erreichte die Rüstungsproduktion noch im März/April 1944 ihren Spitzenwert. Erst infolge der zunehmend ausbleibenden Rohstoffbelieferungen brach auch die Rüstungsproduktion ein.

● in unserem Zusammenhang bleibt auch noch erwähnenswert, die NSDAP erreichte mit ihrer freiwilligen Mitgliedschaft in der Spitze zwischen 8 und 9 Millionen Parteikameraden. Der statistische Anteil der Arbeiter lag bei etwa 30 Prozent. Die NSDAP hatte in der Arbeiterklasse einen höheren Anteil als die Sozialdemokraten und Kommunisten von vor 1933 zusammengenommen.

Wir sollten die Opfer unseres eigenen Landes und Volkes nicht vergessen -
die Gefallenen, die Vergewaltigten, die Deportierten, die Kriegsgefangenen, die Heimat-Vertriebenen, die Opfer der Bomben-Nächte, die Verbrannten, die Kriegs-Versehrten, die Verwaisten, die Allein-Gebliebenen und Vereinsamten.
Sie alle bezahlten die 'deutsche Schuld' - nicht 'die' Nazis !
Es muß - auch - möglich sein, angemessen und in 'sensibler Sprache', welche dem Ernst dieses Themas verpflichtet ist, an das Leid dieser Menschen zu erinnern.
Es muß möglich sein,
daß das Versprechen Richard von Weizsäckers endlich ernsthaft und glaubhaft und viel zu spät einzulöst wird !
16, 18 bzw. 21 jährige firmieren im heutigen Soziologen-Deutsch unter 'Heranwachsende', und 'junge Menschen'. Den damals Gefallenen gleichen Alters werden in unserem Land Gesten des Respekts und der Trauer VERWEIGERT. Im Gegenteil - man 'greift ihnen mit geilen Späßen an die Ehre'.
Gleiches gilt für die Trümmerfrauen!

Mein Gefühl ist, je weiter wir uns zeitlich gesehen von den Ereignissen damals entfernen, desto unfähiger geben wir uns im Umgang damit.
Mit „uns“ meine ich die Mehrheit unserer Gesellschaft.

Weizsäcker, Schmidt, Strauß und andere waren Teil der Armee Hitlers, konnten meiner Meinung nach deutlich objektiver mit unserer Vergangenheit umgehen.
Auch wenn ich Weizsäcker sehr kritisch sehe, war sein Satz 1985 a u c h eine gewisse „Befreiung“ für die Nachkriegsgesellschaft. Der Ausdruck beinhaltet doch, dass die Deutschen selbst „gefangen“ waren.

Heute erlebe ich eine Infantilität ohnegleichen.
Einige selbsternannte Übermoralisten tun so, als ob es jederzeit möglich gewesen wäre, das Regime abzusetzen und werfen der damaligen Generation bedingungslose Unterwürfigkeit vor, als wären damals nur Nazis und Mörder unterwegs gewesen. Die Realität war anders.

Aus dem warmen Sessel heraus ist man schnell der Weltenretter, aber wenn es darauf ankommt, zieht man den Schwanz ein.

helmut armbruster | Fr., 8. Mai 2020 - 09:46

und ohne jedes Einfühlungsvermögen in das Denken und Fühlen der damaligen Zeit, führt zu Verwirrung und Verfälschung.
Wenn heute von Befreiung gesprochen wird, so mag das unter gewissen Gesichtspunkten, die wir Heutigen kennen, eine gewisse Berechtigung haben.
Von den Zeitgenossen im Mai 1945 dürfte nur eine Minderheit die bedingungslose Kapitulation als Befreiung verstanden haben. Für die Deutschen war es die totale Niederlage und die vollkommene Unterwerfung unter den Willen der Sieger verbunden mit der Angst vor Rache.
Für die alliierten Sieger war es ein teuer erkaufter, glänzender militärischer Sieg, dessen Früchte sie nun ernten wollten. Demontage, Reparationen, Wiedergutmachung, Repression und Umerziehung der Deutschen standen im Raum. So war z.B. Verbrüderung mit den besiegten Deutschen unerwünscht und verboten.
Das alles heute als Befreiung darzustellen ist ziemlich weit hergeholt und verfälscht historische Tatsachen.

Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung - auch, aber nicht nur. Bundes-präsident von Weizsäcker hatte in seiner wichtigen Rede am 8. Mai 1985 auch ausgeführt: '... niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen,
welche schweren Leiden für viele Menschen mit der Befreiung erst begannen und danach folgten. ...'
Heute, 35 Jahre nach dieser Rede, muß leider festgestellt werden, daß dieses VERSPRECHEN --- insbesondere mit Blick auf deutschlandweit Hundertausende vergewaltigte Frauen und Mädchen --- gebrochen worden ist!
'... Die Überlebenden sexualisierter Gewalt haben niemals irgendeine Form von Unterstützung, Entschädigung oder Gerechtigkeit erfahren ...'!

Ich verlinke auf die Erklärung der Frauenrechts-Organisation 'medica mondiale':

https://www.medicamondiale.org/nc/nachrichten/zweiter-weltkrieg-vergewa…

https://www.deutschlandfunk.de/75-jahre-kriegsende-medica-mondiale-erin…

Albert Schultheis | Fr., 8. Mai 2020 - 11:05

Alle die, die das heute verleugnen und sich qua Lippenbekenntnisse in die Reihen der Sieger mogeln wollen, sie belügen sich zu allererst selbst, wie das Opportunisten immer tun. Aber viel mehr werden sie von den wirklichen Siegermächten, deren Vorfahren damals ihr Leben gegen Hitlers Wehrmacht eingesetzt haben, niemals als Mit-Sieger anerkannt werden können, sondern als windige, sich einschleimende Nachfahren der Nazis. Das Blut an den Händen der Vorfahren wird eben nicht durch das gemeinsame Feiern reingewaschen. Nein, internationale Achtung und Ehre kann Deutschland nur zuteil werden, wenn es zu sich und seiner Geschichte steht und wenn es deutlich macht, dass es einfach eine Lüge ist zu behaupten, deutsche Geschichte hätte schon vor über Tausend Jahren diesen spezifisch deutsch-faschistischen Spin gehabt. Nein, die 12 unseligen Jahre waren kein Mückenschiss, sie waren aber auch nicht das einzig charakterbestimmende und bedeutsame Ereignis, zu dem es immer wieder stilisiert wird.

Hans-Jürgen Stellbrink | Fr., 8. Mai 2020 - 12:21

Für die in Folge der deutschen Niederlage Vertriebenen, die vergewaltigten Frauen und die nach Sibirien verschleppten Deutschen muss die Umdeutung des 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung wie Hohn klingen. Angemessener ist es, es als Gedenktag zu feiern und sich nicht mit der Etikettierung als Tag der Befreiung zum Opfervolk zu stilisieren, so als ob das vom Nationalsozialismus besoffene deutsche Volk mit den gequälten und ermordeten Opfern des Regimes etwas den Opferstatus gemeinsam hatte.
Wenn wir Deutschen überhaupt einen Tag der Befreiung feiern wollen, sollten wir den 30. April feiern, den Tag, an dem Hitler sich selbst gerichtet hat.

...man feiert die Befreiung von einem Terrorregime - gerade so, als hätte "das Volk" deren Nachkommen jetzt gefälligst feiern sollten, damit nichts zu tun gehabt hätten. Dabei war doch die Zustimmung der Deutschen zum "Führer" eindeutig!

Gleichzeitig feiert man sich als Opfer - offensichtlich losgelöst von der eigenen Rolle beim Aufstieg Hitlers.

In letzter Konsequenz bedeutet das, darüber zu trauen, dass man zum Opfer der eigenen Verantwortlungslosigkeit (die Hitler in die Regierung hievte) wurde.

gäbe es nichts zu feiern. Es war das Datum des Ablebens eines größenwahnsinnigen, jämmerlich gescheiterten Spinners und Schreibtischmörders, der ein ganzes Volk hinter sich gebracht hatte -ein hochkultiviertes, einst humanistisch geprägtes Volk. Das heißt: In der Menschheitsgeschichte ist grundsätzich alles möglich. Seien wir wachsam.

Als meine Mutter hörte , dass Herr zu Weizsäcker sagte , dass auch die Deutschen befreit wurden , da sagte uns meine Mutter :
" Wir Frauen genossen eine besondere Freiheit , wir waren VOGELFREI !"
Es zeugt schon von einer besonderen Geschichtsvergessenheit , was Berlin mit seinen RRG Genossen da mit dem 8 Mai betreiben !

Dorothee Sehrt-Irrek | Fr., 8. Mai 2020 - 13:39

weiss also nicht, ob ich ihn richtig verstehe.
Jedenfalls habe ich bislang evtl. den 8. Mai zusehr als Befreiung Deutschlands von Hitler und Befreiung Europas gesehen, aber war es nicht auch der endgültige Aufstieg der USA und der UDSSR zur Weltmacht und auch ein Abschied Englands, Frankreichs und sicher Deutschlands davon, gewissermassen Abschied Europas von DER Weltmacht als rivalisierende europäische Weltmächte, zu denen evtl. auch Italien, Österreich, Spanien etc zählten?
Macht das nicht Englands Reaktion verständlicher in Bezug auf evtl. als Bevormundung empfundenes Hineinregieren Brüssels; Polens und Ungarns Gewichtung der eigenen Souveränität?
Evtl. kann man nach dieser Wiedervereinigung von West- und Osteuropa nicht einfach in ein neues Kapitel eines EU-Staates springen, ohne die Brüche und Verluste der einzelnen europäischen Länder zu sehen.
Evtl. deshalb auch die ständigen Reparationsforderungen?
EUROPA kann ungeheuer stark sein, alle europäischen Länder sind Teil davon.

Gisela Fimiani | Fr., 8. Mai 2020 - 15:31

„Geschichtsvergessenheit“ scheint mir das Schlüsselwort zu sein. Die „Vielschichtigkeit“ historischer Ereignisse fordert immer den genauen und lernenden Blick. Helmut Schmidt hielt einst „ein gerüttelt Maß“ an politischer Bildung eines jeden Politikers für unabdingbar. Heute rühmt sich ein Minister damit, „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen zu sein. Sein politisches Handeln im Hinblick auf Israel dagegen, entlarvt seine wichtigtuerische Phrase als eben solche. Historische Bildung wird inzwischen ersetzt durch pathetisches Geschwätz, welches des ernsthaften historischen Bewusstseins nicht mehr bedarf. Als nur ein Beispiel für viele, mag der Vergleich von Steinmeierschen Reden, mit denen eines Herrn Weizsäcker dienen.

Karsten Paulsen | Fr., 8. Mai 2020 - 20:54

Mein Vater hat als Marinesoldat im 1. Alarmbataillon hier in Oldersum Ostfriesland bis zum 5. Mai 1945 gekämpft. An diesem Tag wurde er verwundet und gefangen genommen. Auf die Idee diesen Tag zu "feiern" bin ich ich noch nicht gekommen, auch wenn ich mich freue, dass er so überlebte und mich später zeugen konnte.

Zu seinen Lebezeiten habe ich mit ihm seine ehemaligen Kriegshäfen in Frankreich besucht. Wenn wir über den Grund unseres Besuches berichteten, begegneten uns die einheimischen Franzosen mit Respekt und und sogar Wohlwollen.
So etwas ist meinem Vater in Deutschland nie passiert.

als Kohl und Mitterand die Hände hielten auf einem Soldatenfriedhof?
Es gab anlässlich des Volkstrauertages doch auch gemeinsame, jedenfalls Gedenkgottesdienste, zu denen mich mein Vater auch mal mitnahm.
Nur als kleines Kind sass ich begeistert vor den US-amerikanischen Kriegsfilmen, die wirklich excellent gemacht waren, vor allem wenn die Deutschen nicht nur die Ar...... waren.
Der 8. Mai wird mittlerweile von allen europäischen Staaten begangen, in Anwesenheit der Deutschen?
Das ist ein großer Völker versöhnender Tag, sagt man so?
Ein Tag, der uns Hoffnung gibt, dass Kriege nicht das letzte Wort sind, weder als Aggression, noch als aggressiver Humanismus.

Josef Olbrich | So., 10. Mai 2020 - 17:12

Der 8. Mai 1945 war der Endpunkt einer langen Vorgeschichte. Nach meinem Geschichtsverständnis ist das herausragende Ereignis die Kaiserproklamation Wilhelm I. im Januar 1871 in Spiegelaal von Versailles nach dem deutsch–französischen Krieg, der für die Franzosen verloren ging. So wurde nach dem ersten Weltkrieg, den Deutschland verlor, der Waffenstillstand von Compiègne unter Protest der Deutschen am 10.01.1920 im Spiegelsaal von Versailles mit dem Austausch der Urkunden vollzogen. Diesen Friedensvertrag empfanden die Deutschen als ein Diktat, der, bedingt durch die Reparationen, eine galoppierende Inflation herauf beschwor. Nachdem diese Wunden nur fast verheilt waren, überfiel die Menschen in Deutschland 1929 der Börsenkrach, welcher eine große Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik erzeugte. Darauf war die Demokratie in ihrer Verfassung nicht vorbereitet.

Josef Olbrich | So., 10. Mai 2020 - 17:13

Das begünstigte die Radikalisierung der Wählerschaft, die bei der Wahl 1932 der NSDAP den Sieg gegenüber den republikanischen Parteien im Reichstag bescherte, denn Hitler hatte versprochen den Menschen wieder Arbeit zu geben. Die Machtübernahme geschah am 30.Januar 1933. Seit dieser Zeit soll ein Gerücht kursieren:“ Gebt mir 12 Jahre Zeit und ihr werdet Deutschland nicht wieder erkennen.“ Ich kenne es noch aus Erzählungen, die im dritten Reich unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter gereicht wurden, ob es Hitler je so gesagt hat, ist mir nicht bekannt. Am 8. Mai 1945 war das Ergebnis vor allen Augen sichtbar. Außer den Häftlingen und den Zwangsarbeitern, kenne ich keinen Deutschen, der diesen Tag als Befreiung erlebte.

Josef Olbrich | So., 10. Mai 2020 - 17:15

Selbst so manchen russischen Kriegsgefangenen war die Befreiung unheimlich, da sie ahnten, dass ihr Weg nicht nach Hause, sondern nach Sibirien gehen würde.
Gewiss der Krieg war zu diesem Zeitpunkt in Europa ausgetreten, das Ausmaß der unsäglichen Leiden, die im deutschen Namen begannen worden waren, drang langsam in das Bewusstsein und ist bis heute in seiner Ungeheuerlichkeit nicht vorstellbar.