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Die Pensionsreform des französischen Präsidenten spaltet das Land / picture alliance

Proteste in Frankreich - „Macron wollte zu viel auf einmal“

Die Proteste gegen Präsident Emmanuel Macron und die Rentenreform dauern an. Ihre Ursprünge liegen in der Politik, aber auch in der Paradoxie der französischen Gesellschaft, so die Politikwissenschaftlerin Hélène Miard-Delacroix.

Florian Bayer

Autoreninfo

Florian Bayer ist freier Journalist und lebt in Wien. Sein Themenschwerpunkt ist Mittel- und Osteuropa.

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Hélène Miard-Delacroix ist französische Historikerin und Politikwissenschaftlerin. Sie hat eine Professur für deutsche Zeitgeschichte am Germanistischen Institut der Universität Sorbonne inne.

Frankreich kommt nicht zur Ruhe. Geht es bei den Streiks wirklich nur um die Pensionsreform, oder ist mehr dahinter?
Man muss unterscheiden: Die Kerngruppe der Streikenden, vor allem Mitarbeiter der staatlichen Bahn, steht für die Beibehaltung eines Systems, von dem die ganze Welt nur träumen kann. Mit 52 Jahren in den Ruhestand gehen und dabei ungefähr 3.000 Euro bekommen. Diese Gruppe ist relativ klein, aber gut organisiert. Sie kann den Verkehr in Paris lahmlegen, wenn sie will, und hat dies auch wochenlang getan. Bei den großen Demos in Paris sehen wir aber auch viele, die generell mit der Politik von Präsident Macron unzufrieden sind.

Warum wehren sich die Streikenden so hartnäckig gegen jede Reform?
Die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst kämpfen für die Beibehaltung ihrer Pensionsprivilegien, der sogenannten régimes spéciaux. Sie stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als es zur Versöhnung der Resistance mit französischen Nazi-Kollaborateuren kam. Vereinfacht gesagt haben Gaullisten mit Kommunisten einen modernen Sozialstaat aufgebaut, mit bestimmten Vorzügen in einigen Berufen.

Und heute ist das nicht mehr finanzierbar?
Schon lange nicht mehr. Damals gab es im Durchschnitt vier Erwerbstätige, die für einen Rentner einzahlten, heute sind es nur noch anderthalb. Die Staatskasse schießt jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro zu. Das bezahlt natürlich der Steuerzahler.

Die breite Bevölkerung steht aber überwiegend hinter den Reformen.
Ja, die meisten sind trotz des Unmuts über die Streiks in Paris dafür. Andererseits ist es auch ein Stellvertreterkrieg, und viele sagen: Wenn man anfängt, an diesen Errungenschaften zu nagen, ist es der Anfang vom Ende des Sozialsystems und es wird dann überall abgebaut.

Hélene Miard Delacroix/ Alain Mandel
Hélène Miard-Delacroix/
Alain Mandel

Wer hat Recht?
Natürlich braucht es die Reform. Doch wir Franzosen sind besessen von der Gleichheit, gleichzeitig aber auch totale Individualisten. Jeder möchte seine Errungenschaften beibehalten. Bei allen anderen gern die gleiche Behandlung, aber bei mir bitte nicht. Diese Paradoxie führt dazu, dass der Konflikt zu keinem Ende kommt. Dazu kommen die besondere Gewerkschaftslandschaft und die Tradition, auf die Barrikaden zu gehen, ohne zu wissen was danach kommt.

Hat auch Präsident Macron Fehler gemacht?
Ja, er wollte zu viel auf einmal. Die Vereinheitlichung von 42 verschiedenen Pensionskassen auf eine einzige hätte umgesetzt werden können, wenn die Regierung nicht gleichzeitig auch an der Finanzierung geschraubt hätte: Vor allem auch, dass man länger arbeiten muss – nicht bis 62, sondern bis 64. Im Nachhinein war es ein Fehler, die Reformen aneinander zu koppeln.

Warum ist es in Frankreich so schwer, politische Kompromisse zu erzielen?
In allen anderen Ländern verhandeln die Sozialpartner Kollektivverträge und Pensionen aus. In Frankreich ruft man immer nach dem Staat. Es ist paradox: Die Leute sagen oft, der Staat mischt sich überall ein. Aber sobald es ein Problem gibt, verlangen die Franzosen nach ihm.

Haben Sie ein Beispiel?
Bei den Gelbwesten war das besonders extrem. Sie haben sich von jeder Form politischer Vertretung verabschiedet, wollten am liebsten keine Steuern zahlen. Gleichzeitig wollten sie mehr Geld, Busverbindungen, eine modernes Krankenhaus vor der Tür, Kindergärten. Es ist etwas dran, dass die Franzosen ein Problem mit Staat und Gemeinschaft haben. In Deutschland und Österreich gibt es einen Sinn für das Kollektive. Diese Länder haben eine lange Tradition intermediärer Gruppen: Gebietskörperschaften, Vereine, Verbände. Das gibt es in Frankreich viel weniger.

Woher kommt das?
Aus der Zeit der Französischen Revolution. Weil man fürchtete, dass sich reaktionäre Gruppen gegen die Revolution bilden, hat die Nationalsammlung 1791 das Vereinigungsrecht eingeschränkt. In der Mentalität der Franzosen wirkt das bis heute nach. Franzosen haben nicht unbedingt den Reflex, Vereine zu gründen. Die Forderungen der Gelbwesten wären in Deutschland sicherlich von Verbänden aufgenommen und in den politischen Diskurs eingebracht worden. Die Abgehängten können sich in Frankreich aber kaum organisieren.

Hat Macron richtig auf die Gelbwesten reagiert?
Macrons Krisenmanagement war typisch französisch, nämlich steuerliche Geschenke zu machen – in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro. Mindesthilfeempfänger erhalten seitdem ca. 100 Euro mehr pro Monat, Überstunden werden nicht mehr besteuert etc. Und: Macron hat verstanden, dass es ein Defizit an Basisdemokratie gibt. Seine „große Debatte“ hat etwas verändert: Bürger und viele Bürgermeister haben wieder politische Diskussionen geführt und wollten über Parteigrenzen hinweg Lösungen finden. Die Menschen fühlten sich wieder gehört.

Kann man die aktuellen Proteste mit den Gelbwesten vergleichen?
Was wir in den letzten Wochen im Großraum Paris hatten, ist nicht lustig. Aber es ist normaler, als alles, was bei den Gelbwesten passiert ist. Das war etwas Undemokratisches und Wildes, eine gewalttätige Revolte. Diesmal war zwar der öffentliche Verkehr über Wochen am Boden, doch die Demonstrierenden treten als Gruppe auf, die Gewerkschaften sprechen für sie, es ist insgesamt gewaltfrei verlaufen.

Stichwort Gelbwesten: Kam die damalige Bewegung für Sie überraschend?
Ja, doch ich habe ihre Ursachen rasch verstanden. Dieses riesige Land dünnt an der Peripherie immer mehr aus. Es gibt in vielen kleinen Ortschaften keine guten Eisenbahnverbindungen mehr, keine Post mehr, keine Schule, kaum noch Ärzte. Ein weiterer Faktor ist wohl, dass viele Menschen einsam sind. Viele, die sich abgehängt fühlten, haben sich bei den Gelbwesten gefunden. Sie haben sich auf Kreuzungen verabredet und waren plötzlich ein Kollektiv.

Warum ist die Gelbwesten-Bewegung versandet?
Einerseits wegen Macrons Zugeständnisse und wegen der fehlenden Strukturen der Bewegung. Doch auch wegen der zunehmenden Gewalt von Links- und Rechtsextremen, mit der sich die meisten nicht mehr identifizieren konnten.

Haben sich die friedlich Demonstrierenden zu wenig davon distanziert?
Das Problem war: Sie sind nicht als Gruppe aufgetreten. Sobald einer sagte, er werde im Namen der anderen reden, wurde der daran gehindert. Es gab keine Basisdemokratie. Die Gelbwesten sind auch gescheitert bei dem Versuch, ein anderes demokratisches System, eine Alternative vorzuschlagen.

Zurück zur Pensionsreform. Wird sie eine Rolle spielen bei den Regionalwahlen im März?
Ja, doch ob sie Macron zu Gute kommen oder nicht, ist noch schwer zu sagen. Die Art und Weise, wie beide Seiten aus der Krise kommen, wird entscheiden. Die entscheidende Frage wird lauten: Wer ist verantwortlich, dass der Konflikt gelöst werden konnte?

Sie forschen intensiv auch zur Beziehung Deutschland-Frankreich. Wie steht es darum?
Beide Länder haben eine Chance verpasst. Seit 10, 15 Jahren hört man von deutscher Seite: Macht mal, reformiert euch, wir warten. 2017 wurde mit Macron ein Präsident für sein proeuropäisches Programm gewählt. Was macht Deutschland? Nicht viel, stattdessen wird über ein vermeintliches Großmachtgehabe Frankreichs geklagt. Das hat auch mit Frau Merkel zu tun, die weiterregiert, ohne viel bewegen zu wollen. Ihre Regierung hat Angst vor der eigenen Bevölkerung, bleibt deswegen passiv. Dieses Bild einer deutschen Immobilität besteht in Frankreich sehr stark. Dabei gibt es dringende Fragen, etwa eine länderübergreifende Verteidigungspolitik. Nach dem Brexit ist Frankreich die einzige verbleibende Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat in der EU. Darüber sollten wir reden.

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Tomas Poth | Do., 6. Februar 2020 - 17:26

Interessanter Beitrag über eine ganz andere Gesellschafts- und Sozialstruktur als bei uns! Innerhalb der EU gibt es sicher nicht nur diese gegensätzlichen Unterschiede. Die Träumer von der EU als Bundesstaat sollten das aufmerksam lesen und sich einen anderen Traum aussuchen!

Peter Kellinghusen | Do., 6. Februar 2020 - 18:49

Ein guter treffender Beitrag zur Situation Macrons, dem Führer einer Bewegung, keiner Partei.
Der Traum von einer politischen EU in einem an Kulturen facettenreichen Europa wird niemals ausgeträumt sein. Einfach weil der Mensch vom Träumen lebt.
Ich empfehle, sich mit der Schweizer Konstruktion des Vielvölkerstaates zu befassen. Mit gemeinsamen Interessen/Lösungen aber auch regionalen Identifikationen die nicht nur gewahrt werden, sondern deren Werte auch öffentlich 'geschärft' werden. So kann es funktionieren wenn man die Fundamentalisten im Griff behält und auf nationalen Pomp der Profilierung verzichtet.
Doch es gibt auch Gefahren, gerade wenn letzteres fehlt. Viele Menschen suchen sich dann Ersatz in oft schwer zugänglichen Bünden und Aktivitäten, gerade wenn Vielsprachigkeit dies auch noch fördert. Die neuen Bedrohungskommissionen vieler schweizer Städte versuchen im Bereich des vorpolizeilichen Tätigwerdens dagegen zu halten. Der eigenen Gesetzgebung dafür wünscht man Erfolg!

Der Traum, die Utopie ist auch immer die Flucht vor der Realität. Was im Kleinen vielleicht der Schweiz gelingen mag, wird nicht für ein Europa aus derzeit 47 Staaten funktionieren.
Das Träumen, der Traum ist auch ein Ersatz für die Realität, sich etwas schöner vorzustellen als es ist oder geht. Das ist auch psychische Hygiene um mit der Realität umzugehen und diese zu ertragen.