
- „Wir brauchen Einwanderung ins Beschäftigungssystem, nicht ins Sozialsystem“
Der frühere SPD-Chef Rudolf Scharping spricht mit „Cicero“ über die globale Konkurrenz für Europa, eine kleinteilig agierende Bundesregierung und Wahrnehmungsstörungen seiner Partei
Herr Scharping, Sie sind seit vielen Jahren nicht mehr Politiker, sondern Unternehmer. Haben vorher aber fast alle politischen Ämter bekleidet, die man bekleiden kann: Ministerpräsident, Parteichef, Oppositionschef, Bundesminister: Wie nehmen Sie das politische Geschehen derzeit wahr?
Als manchmal kleinteilig, kurzatmig. Schauen Sie: Wir haben gerade die Revolution in Deutschland gefeiert, den Fall der Mauer, die deutsche Einheit. Da war die Hoffnung auf eine dauerhaft friedliche Welt. Übrigens: Die politische und kulturelle Konnotation von 1989 ist nicht allein europäisch. In Asien oder Russland sieht man diese Zeit völlig anders, auch in Afrika. Die „Herausforderungen an die Menschheit“ (um Gorbatschow oder Brandt aufzugreifen) sind größer geworden; und sie werden verschärft durch unberechenbare Politik, gewollte Schwächung internationaler Institutionen, Kriegsgefahren und Bürgerkriege direkt vor der europäischen Haustür – die Welt ist unsicherer geworden. Das alles schlägt sich auf Deutschland nieder. Von daher ist die deutsche Politik gut beraten, besonnen zu agieren, multilaterale Strukturen zu stärken, vor allen Dingen ein wesentlich engeres Zusammenwirken innerhalb Europas. Wir hinken da den Anforderungen deutlich hinterher.
Was hat sich grundlegend zur Ihrer aktiven Zeit verändert?
Die Welt ist politisch neu vermessen, das wird sich fortsetzen. Die Jahrhunderte der kulturellen, technischen oder politischen Überlegenheit Europas und des Westens sind vorbei. Wir müssen darauf achten, dass wir in der Welt überhaupt noch eine Rolle spielen, und das geht nur europäisch.