New York: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft sich am Rande des UN-Klimagipfels bei den Vereinten Nationen mit Boris Johnson (vorne), Premierminister von Großbritannien, und Emmanuel Macron (hintere Reihe, 2.v.l.), Präsident von Frankreich. Die Vereinten Nationen erwarten mehr als 60 Staats- und Regierungschefs, die in kurzen, maximal drei Minuten langen Ansprachen konkrete, neue Pläne zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes präsentieren sollen.
Die Nachricht von der Entscheidung des Obersten Gerichts erreichte ihn beim UN-Klimagipfel in New York: Boris Johnson / picture alliance

Zwangspause war illegal - Muss Boris Johnson zurücktreten?

Boris Johnson hat das Gesetz verletzt, als er das Parlament in die Pause schickte. Dieses Urteil des Obersten Gerichts könnte das politische Aus für den Premier bedeuten. Die Opposition stellt jetzt die Vertrauensfrage

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Jubel brach aus, als Gina Miller vor den Obersten Gerichtshof in London trat. Die Aktivistin hat eine weitere Schlacht gewonnen: „Das Urteil des Höchsten Gerichts sagt alles. Der Premierminister muss das Parlament wieder aufsperren“. Die Geschäftsfrau hat seit dem Brexit-Referendum 2016 mehrere Klagen gegen die britische Regierung eingebracht, wenn diese das Parlament in wichtigen Entscheidungen umgehen wollte. Einstimmig urteilten die elf Richter des Höchsten Gerichtshofes am Dienstag, dass die Suspendierung des Parlaments, die Regierungschef Boris Johnson mit dem Segen der Queen am neunten September durchgesetzt hatte, ungesetzlich gewesen sei.

Vor dem Gerichtshof im Zentrum Londons versammelten sich Abgeordnete, die ankündigten, sofort ins Parlament gehen zu wollen. „Wir stehen jetzt alle zusammen, dies ist ein Sieg für die Demokratie!“, rief Anna Soubry, eine konservative Rebellin, die aus Protest gegen die Brexit-Politik der Regierung aus der Tory-Partei ausgetreten ist und jetzt als unabhängige Abgeordnete im House of Commons, dem Unterhaus, sitzt. „Boris Johnson sollte überlegen, ob er im Amt bleiben kann!“, rief Labour-Chef Jeremy Corbyn bei der Parteikonferenz im Seebad Brighton von der Rednertribüne.

Ein schwerer Schlag für Johnson

Das Chaos war perfekt. Boris Johnson wurde in New York aus dem Bett geholt, wo er beim UN-Klimagipfel weilte. „Er soll sich morgen unseren Fragen bei den „Prime Ministers Questions“ im Parlament stellen“, forderte Dominic Grieve, ein weiterer konservativer Rebell. Jeden Mittwoch stellt sich der Regierungschef traditionell den Fragen des Oppositionschefs und der Abgeordneten. Ein spöttisches Lächeln huschte über das Gesicht des ehemaligen englischen Staatsanwaltes. Er war von Boris Johnson gerade aus der Partei geworfen worden, weil er sich dessen Plänen widersetzt hatte, am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU auszutreten.

Das Urteil ist ein schwerer Schlag für Boris Johnson. Was aber bedeutet es konkret für die nächsten Schachzüge des Premierministers? Johnson hat es mit seiner populistisch-extremistischen Politik innerhalb von nur zwei Monaten im Amt geschafft, das Brexitchaos in seinem Land auf unerhörte Art und Weise zu verstärken. Ändert das Urteil die Brexit-Pläne der Briten? Erst einmal nicht – die Richter haben nur geurteilt, dass Johnson das Parlament nicht hätte suspendieren dürfen. Muss er deshalb zurücktreten? „Er sollte wenigstens einmal das Richtige tun“, forderte die schottische Abgeordnete Joanna Cherry, die eine der Klagen gegen die Regierung eingebracht hatte: „Boris Johnson sollte zurücktreten!“

Die Queen blamiert 

Zumindest wird sich der Druck verstärken, dass der glücklose Premier erst einmal seinen Chefberater Dominic Cummings entlässt. Dieser hatte die Brexit-Kampagne 2016 erfolgreich geführt und mit dem Slogan „Take back Control“ ausgestattet. Seit er aber in Downing Street mit Johnson eingezogen ist, gelingt ihm nichts mehr: Die Eskalationspolitik mit der EU hat bisher zu keinem neuen Abkommen geführt; die Tory-Partei wurde zur Brexit-Party umfunktioniert, was vielen Konservativen zu weit geht. Ganz zu schweigen davon, dass Boris Johnson auch die Queen in seine verantwortungslose Politik hineingezogen hat. Sie hat schließlich die Suspendierung des Parlaments absegnen müssen, die jetzt als ungesetzlich verurteilt wurde. 

Die Königin blamiert, die Glaubwürdigkeit des Regierungschefs gefährlich unterminiert. Großbritannien ist in einer Verfassungskrise gelandet – und all das fünf Wochen vor dem Brexitdatum, dem 31. Oktober.  Eine Verschiebung des Austritts ist wieder ein Stück wahrscheinlicher geworden. Genauso wie sehr baldige Neuwahlen, die einen Ausweg aus der völlig verfahrenen Situation bieten könnten.

„Wir sitzen“

Im Regierungsbezirk Whitehall herrschte am Dienstag erstmals seit langem wieder eine geradezu euphorische Stimmung. Die Gerichte haben ihre Unabhängigkeit von der Regierung bewiesen. Das Parlament hat sich als souveräne Macht im Staat zurückgemeldet. Aktivistinnen aus der Zivilbevölkerung wie Gina Miller haben Engagement gezeigt und wurden dafür belohnt. Der konservative Abgeordnete Tom Tugendhat twitterte gleich nach dem Urteil ein Foto von sich aus dem Unterhaus: „Wir sitzen...“ Als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses war er kein Freund der Ausschaltung des Parlaments gewesen. Er hat seinen Platz auf den grünen Bänken schon wieder eingenommen. Am Mittwoch werden dort alle Abgeordneten auf Boris Johnson warten.

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Bernd Muhlack | Di., 24. September 2019 - 18:04

Lesenswert, jedoch kann ich das Wort "Aktivisten" schlicht nicht mehr hören!!!

Gerhard Lenz | Mi., 25. September 2019 - 11:49

Antwort auf von Bernd Muhlack

Klingt auch aufgeblasen, ist aber nicht falsch. Natürlich muss Boris gehen. Ich verstehe noch immer nicht, was in die Briten fuhr, den Typen zum PM zu machen - vielleicht die üblichen "Chemietrails". Ach ja, er wurde ja nicht gewählt, sondern nur von seiner Partei nominiert. Na gut, Britannien wusste immerhin, wofür Johnson stand - politisch: Für sich selbst. Gut war, was ihm persönlich dienlich war. Auch ein Programm. Mut zur Wahrheit eben, britische Version.
Johnson wurde zweimal gefeuert, weil er als Journalist Gelogenes publizierte. Als Bürgermeister Londons war er mehr an Auftritten, als an praktischer Arbeit interessiert. Im Vorfeld des Brexits hatte er zwei Erklärungen vorbereitet - eine für, eine gegen den Verbleib - die Entscheidungsverkündung war ein "Show-Event". Im Brexit und unmittelbar danach log er hemmungslos. Er bekämpfte May, und verlor bislang jede Abstimmung im Parlament. Er ist, schlicht gesagt - eine Schande für die älteste Demokratie der Welt.
Boris must go!

Heidemarie Heim | Di., 24. September 2019 - 19:00

Wer von den Jubelnden und Nichtjubelnden kriecht wieder mal nach Brüssel und bettelt um Verlängerung? Man hat es wirklich satt, dieses Theater! Egal wie man zum Brexit steht, persönlich hätte ich eine neuerliche Befragung aller britischen Bürger befürwortet, aber was da stattfand und bis dato stattfindet ist für eine der ältesten Demokratien der Welt und für ein einst machtvolles Empire schädlicher und beschämender als eine zweite Kontrollabstimmung. Bei einem unserem Hammelsprung ähnelnden Verfahren könnten dieses Mal ALLE und inzwischen besser informierten Bürger durch die jeweilige Tür gehen und ihren Willen erneut für Bleiben oder Gehen unmissverständlich bekunden. Sollte es überhaupt noch um eine gemeinsame Entscheidungsfindung
und dem Umsetzen des dann bekundeten Volkswillens gehen, müsste man eine weitere Verlängerung davon abhängig machen seitens der EU, das ein solch zweites Referendum sofort veranlasst wird. Ansonsten sollten sich alle Versagens-Akteure umgehend trollen! FG

Hans Jürgen Wienroth | Mi., 25. September 2019 - 12:50

Antwort auf von Heidemarie Heim

Liebe Frau Helm,
das Problem des britischen Parlaments ist die Dreiteilung der Stimmen: 1/3 für den Verbleib in der EU, 1/3 für den Brexit-Vertrag (defacto Verbleib in der EU ohne Stimmrecht) und 1/3 für den harten Brexit ohne Deal. Was wird wohl bei einer Volksabstimmung herauskommen, bei der alle 3 Alternativen auf dem Tisch liegen?
Darüber hinaus glaube ich persönlich, dass die Briten das hin und her von Brexit (mit oder ohne Deal) oder No-Brexit satthaben. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Die EU hat sich aus lauter Angst vor Nachahmern nach meiner Überzeugung sehr unfair verhalten, so dass ich schätze: Auch eine Mehrheit für den No-Deal-Brexit in der Bevölkerung ist möglich.

Kurz und prägnant auf den Punkt gebracht Herr Wienroth. Was käme bei einer erneuten Wahl heraus? Ich denke mal Ausstieg ohne wenn und aber, ohne Vertrag, wenn die EU nicht einlenkt. Die Wähler dort sind und bleiben bei ihrem Abstimmungsergebnis zum Brexit, auch wenn uns deutsche Medien etwas anders vorgaugeln. Genau dahin will ja Johnson. Er will Neuwahlen, damit er für einen "kalten" Ausstieg die Mehrheit bekommt. Nur eben die Politker spielen nicht so mit.
Übrigens. Ich lese bei Achgut und anderen freien Medien durchaus auch die Meinung der Brexiter. Es gibt auch dort Medien in GB, die nicht nur Remainermeinung darstellen. Nur liest man hier im Cicero leider immer nur eine Richtung. Das ist einfach nur schade. Die Meinung der Brexiter ist auch durchaus nachvollziehbar und sie wollen schlussendlich ihre Unabhängigkeit wieder und sich nicht von der Merkel-EU fremdbestimmen lassen. Auch wenn es ihnen Nachteile bringen könnte/würde, wollen sie eben raus. Ein leidiges Thema.

Danke lieber Herr Wienroth für die Antwort! Denke auch, das die Briten es satt haben bis oben hin! Aber außer unter den klaren Befürwortern für bleiben oder gehen haben die ehrwürdigen parlamentarischen Darsteller keine große Anhängerschaft mehr denen sie es abnehmen, das diese die Sache noch hinkriegen. Da wurden und werden doch aus ganz eigenen parteipolitischen Interessen heraus Blockaden errichtet, um eine Bewegung in die ein oder andere Richtung zu verhindern. Deshalb meine ich persönlich, alle Briten sollten sozusagen "unparteiisch" und unbeeinflusst eine weitere Möglichkeit bekommen dieses Mal deutlicher! abzustimmen und im Lichte der bisherigen Erkenntnis ihrem Parlament und der Regierung einen unmissverständlichen Auftrag geben zu können! Ich denke nur auf diese Art eines Mehrheitsentscheids kann man noch eine Akzeptanz der Bevölkerung für oder gegen eine EU-Mitgliedschaft herbeiführen. Was die EU betrifft teile ich Ihre Ansicht. Halt lebenslänglich, Nothing else! MfG

Hans Jürgen Wienroth | Mi., 25. September 2019 - 17:49

Antwort auf von Heidemarie Heim

Wie viele und welche Alternativen gibt man dem britischen Volk zur Abstimmung?
Kein Brexit oder Brexit ohne den Deal?
Brexit mit oder ohne den Deal?
Kein Brexit oder Brexit mit dem Deal?
Die EU will keinen anderen Deal, den ausgehandelten kann kein Brite wollen. Aber was soll man der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen? Alle 3 Varianten im 1. Wahlgang und Stichwahl im 2.? Oder eine Mehrheit von 30% + x für die Wahl zwischen allen 3 Varianten? Damit wird das Dilemma der Politiker auf das Volk verlagert, das kann nicht zu mehr Akzeptanz führen. Es sei denn eine der 3 Varianten bekommt über 50%.

Thomas Hechinger | Di., 24. September 2019 - 19:11

Johnson Lackland - Johnson Ohneland. Armer Boris. Wie weiland König Johann, Ohneland geheißen, Richard Löwenherzens Bruder, vor den Baronen zu Kreuze kriechen mußte, so wird heute der Erste Minister Ihrer Majestät von den Hochgelahrten Richtern und Ehrenwerten Abgeordneten in den Staub geworfen. Gänzlich des Glückes verlustig will ihm nichts zum Erfolge geraten.
Ich schwanke zwischen Verblüffung, Schadenfreude und Mitleid.

Wolfgang Schuckmann | Mi., 25. September 2019 - 11:32

Nach der Vorführung eines neuen Politigruselstückes all la Shakespeare weiß man jetzt doch etwas mehr über die älteste Demokratie der Welt.
Die hat gewählte Vertreter, die nix zu sagen haben, außer "No" einen Premier, der von allen guten demokratischen Geistern verlassen scheint, britische Gerichte, die sich darauf verstehen die Dinge wieder gerade zu rücken und Wähler, die sowohl als auch denken.
Allerdings eines muss man erwarten dürfen, nämlich dass ein Premier, der nicht mehr die Mehrheit im Parlament hinter sich hat, einfach nur zurücktreten muss, nicht müsste, nein muss!
Diese Ausgeburt von Hybris und Selbstüberschätzung und Ignoranz muss ihre Grenzen erfahren. Der Anfang ist mit dem Urteil des Suprem Courts gemacht. Jedoch nur der Anfang. Wie das Ende aussehen wird steht in den Sternen.

Henning Magirius | Mi., 25. September 2019 - 14:49

Der Volkswille Großbritanniens hat im Juni 2016 gesprochen: Brexit. Es ist der Job der Regierung und des Parlaments diesen Volkswillen umzusetzen. Fast 3 Jahre hat eine schwache PM May schlecht mit der EU verhandelt (es war auch schon 2016 klar, dass der Backstop für GB unannehmbar ist) - vollkommen vertane Zeit. Es ist absolut richtig, dass Johnson die Reißleine zieht und notfalls den harten Brexit jetzt durchzieht. Fristverlängerung oder Abblasen des Brexits ist überhaupt keine Option. Dies würde Großbritannien auf ewig in der aktuellen unsicheren Lage verharren lassen. Politik heißt Handeln, nicht Reden. Nur der Brexit bietet Handlungsoptionen für eine neue und erfolgreiche Zukunft Großbritanniens.

Tomas Poth | Mi., 25. September 2019 - 16:49

Kann man so sehen muß aber man nicht.
Die Entscheidung des Obersten Gerichts gibt nur die derzeitige Auffassung der Richter wieder.
Erinnern wir uns wie oft unser BfV seine Rechtssprechung angepaßt/geändert hat.
Das Problem ist das Parlament, es ist unfähig eine Entscheidung zu treffen, es sei denn die Taktik das Brexit-Referendum ins Leere laufen zu lassen hält man für eine Entscheidung.
Diese Taktik könnte es dahin bringen, dass das Parlament in Sachen Brexit B.J. und die Tories als Minderheitsregierung vor sich hertreibt, bis die Umfragen für Labour und andere günstiger aussehen, bevor man Neuwahlen zustimmt.

Karla Vetter | Mi., 25. September 2019 - 19:01

Ganz gleich wie die Sache ausgeht, die Zerrissenheit und die Teilung in verschiedene Lager wird bleiben. Wie eine Befriedung aussehen könnte ist mir schleierhaft. Dazu noch die unrühmliche und unflexible Haltung der EU. Inzwischen hoffe ich auf einen Brexit ""aus Versehen". Kann passieren wenn Johnson einen Canossagang um Verlängerung der Frist nicht antritt und der 31.10.19 ohne Lösung verstreicht.