Mario Draghi
Mario Draghi wird vor dem Ende seiner Amtszeit nochmal aktiv / picture alliance

Negativzinsen - Draghis letzter Wille

EZB-Chef Mario Draghi fällt die undankbare Aufgabe zu, die fehlgeleitete Politik der letzten Jahre mit höherer Aggressivität fortzusetzen. Denn die Alternative wäre schlimmer: der Zerfall der Eurozone, der Fall in eine Rezession. Die Politiker lassen ihn im Regen stehen. Und die Verlierer sind die Sparer

Daniel Stelter

Autoreninfo

Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „Beyond the Obvious“. Zuvor war er bei der Boston Consulting Group (BCG). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Traum von einem Land: Deutschland 2040“.

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Zu seinem Abschied hat EZB-Chef Mario Draghi nochmal verlässlich geliefert: Die Zinsen – ohnehin schon im negativen Bereich – wurden auf nun minus 0,5 Prozent gesenkt und ab November kauft die EZB wieder Anleihen von Staaten und Unternehmen auf. Für 20 Milliarden Euro pro Monat und – dies ist die aus Sicht der Märkte entscheidende Nachricht – ohne zeitliche Begrenzung. Solange die Inflation in der Eurozone nicht das Ziel von zwei Prozent erreicht, wird gekauft und nach Lage der Dinge spricht viel dafür, dass es noch sehr lange dauern wird, bis es soweit ist. 

In der Eiszeit

Mehrere Faktoren kommen zusammen, wenn es um die Zinsentwicklung der letzten Jahre und damit auch den Ausblick kommt:

•    Demografische Entwicklung: Vielfältige Studien zeigen, dass alternde Gesellschaften mehr sparen und weniger konsumieren, was tendenziell zu einem Überangebot von Kapital bei gleichzeitig schrumpfender Nachfrage führt. Diese – wie ich es gerne nenne – „Badewannentheorie“ lässt sich weltweit beobachten. Demnach würden die Zinsen erst dann wieder steigen, wenn mehr Menschen von ihren Ersparnissen leben müssen und entsprechend weniger sparen und mehr nachfragen. Das dürfte in den kommenden 10 Jahren langsam beginnen.

•    Ungleichgewichte: Hinzu kommt, dass das Thema der Ersparnis auch zwischen Ländern gilt. Sparen Länder wie Deutschland und China zu viel, führt das mehr Kapitalexporten und damit in anderen Ländern zu tieferen Zinsen, namentlich in den USA.

•    Geringeres Wachstum: Ein weiterer Aspekt für die Zinsentwicklung ist das Wachstum der Wirtschaft. Schon seit Jahren gehen die Wachstumsraten in der westlichen Welt zurück, was unter anderem an den abnehmenden Produktivitätszuwächsen liegt und entsprechend sinken die Zinsen.

Das sind die fundamentalen Gründe für die Zinsentwicklung, auf die vor allem die Notenbanken gerne verweisen. Es gibt aber auch Politikfehler der letzten Jahre, die den Trend zu immer tieferen Zinsen verstärkt haben:

•    Asymmetrische Reaktion: Da ist zum einen die Politik der Notenbanken, die seit Mitte der 1980er Jahren auf jede (mögliche) Krise an den Finanzmärkten oder in der Wirtschaft mit Zinssenkungen reagiert hat, ohne danach die Zinsen wieder entsprechend zu erhöhen. Damit haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass all jene, die Schulden machen, belohnt wurden. Die Folge war eine explodierende weltweite Verschuldung von Staaten und Privaten vor allem für unproduktive Zwecke wie Konsum, den Kauf vorhandener Vermögenswerte, vor allem Immobilien, und Spekulation. Das Problem der immer weiter steigenden Verschuldung ist jedoch, dass diese nur zu immer tieferen Zinsen tragbar ist. Die Zinsen müssen also morgen noch tiefer sein, weil sie heute schon tief sind. 

•    Schulden statt Anstrengung: Diese Tendenz zum Leben auf Pump wurde von der Politik zusätzlich verstärkt. Vor allem in Reaktion auf die neuen Wettbewerber aus Osteuropa und China hätte man in verbesserte Ausbildung und mehr Investitionen setzen müssen. Doch statt diesen anstrengenden Weg zu gehen, forcierte die Politik die Kompensation fehlender Einkommenszuwächse mit mehr Schulden (USA) oder baute den Sozialstaat auf Pump aus (Europa). 

•    Vermögensblasen: Billiges Geld und die als risikolos empfundene Spekulation führt zur Entstehung von Blasen an den Finanzmärkten. In den letzten 20 Jahren haben wir bereits zwei erlebt (Dot-Com-Blase und Immobilienblase) und wir dürften uns in der nächsten befinden (Staatsanleihen und US-Börse?). Das Problem dabei: Platzen diese Blasen gefährden sie angesichts der hohen Schulden immer sofort das Weltfinanzsystem und die Konjunktur. Und erzwingen so – Sie ahnen es – noch mehr billiges Geld.

Natürlich kann man nicht ewig auf die positive Wirkung neuer Schulden setzen. Die Wirkung nimmt in Wahrheit immer mehr ab, die Dosis muss also steigen. Steigt sie nicht, bekommen wir Krisen wie die Finanzkrise 2009. Nur durch immer mehr und immer billigeres Geld kann man das System am Laufen halten. Dabei schwächen die hohen Schulden das Wachstum zusätzlich, weil immer mehr Unternehmen nur noch Dank des billigen Geldes überhaupt noch existieren. Sie können so tun, als wären sie noch solvent, obwohl sie eigentlich pleite sind. Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von „Zombies“ die nicht investieren oder innovieren und es auch für die gesunden Unternehmen immer schwerer machen, erfolgreich zu wirtschaften. Das Bankensystem kommt derweil – durch die Zombies und die Verluste aus der letzten Krise ohnehin geschwächt – durch die tiefen Zinsen immer mehr unter Druck. Die Gewinne sinken und die Fähigkeit gesunden Unternehmen Kredite zu geben, schwindet. Ein Szenario welches ich „Eiszeit“ nenne. 

Sonderproblem Euro

In Europa haben wir mit dem Euro ein zusätzliches Problem. Bekanntlich ist die Eurozone die wohl schlechteste denkbare Währungsunion. Schon vor Jahren hat die US-Bank JPMorgan vorgerechnet, dass selbst eine hypothetische Währungsunion aller Staaten der Welt, die mit einem „M“ beginnen, besser wäre. 

Mit der Einführung des Euro begann ein Verschuldungsboom in den heutigen Krisenländern. Die Zinsen waren zu tief und befeuerten Blasen an den Immobilienmärkten. Sie bewirkten aber auch, dass sich die Wirtschaften der Mitgliedsstaaten immer weiter auseinander entwickelten, statt – wie erhofft – anzunähern. Die „Eurokrise“ war und ist deshalb auch keine Staatsschuldenkrise, sondern eine Überschuldungskrise und eine Krise fehlender Konvergenz der Mitglieder. Ohne Mario Draghis Versprechen alles erdenkliche zu tun, um den Euro zu erhalten, gäbe es ihn schon längst nicht mehr. Das Problem ist nur, dass billiges Geld die Probleme der Eurozone nicht lösen kann, sondern nur Zeit kauft. Und nur funktioniert, wenn das Geld noch billiger wird. 

Mit Lagarde geht es erst richtig los

Politikern und Notenbankern ergeht es wie Goethes Zauberlehrling: Sie werden die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Im Gegenteil, der Versuch die Krise zu bekämpfen führt zu einem immer größeren Problem.

Vorstellen kann man sich das so: Die Notenbanken drücken den Schulden-Ballon unter Wasser, damit er nicht zum Problem wird. Derweil wird dieser Ballon jedes Jahr größer und drückt mehr an die Oberfläche. Nur durch noch mehr Druck kann er unter Wasser gehalten werden, nur bläht er sich umso mehr auf, je mehr man ihn unter Wasser drückt. Irgendwann kann ihn die Notenbank nicht mehr halten und er schießt mit aller Macht nach oben. 

Mit jeder weiteren Rettungsaktion pumpen die den Ball weiter auf und legen damit die Grundlage für die größte Schulden-Krise aller Zeiten. Es ist eine große Wette: Gelingt es ihnen (doch noch) eine hohe Inflation zu erzeugen und damit einen etwas schmerzfreieren Weg zur Entschuldung zu finden oder platzt die Blase? 

Klar ist auf jeden Fall, dass es einen freiwilligen Ausstieg aus dem Spiel nicht geben wird. Weshalb auch die Ernennung der französischen Politikerin Christine Lagarde in das Bild passt. Der IWF, ihr bisheriger Arbeitgeber, hat mehrere Studien erstellt, die aufzeigen wohin die Reise noch gehen kann. Die Ideen reichen von überraschenden Vermögensabgaben, der Besteuerung von Bargeldtransaktionen bis zum Verbot von Bargeld (und Gold?). 

Unzweifelhaft ist, dass heftig darüber nachgedacht wird, wie man Zinsen noch tiefer in den negativen Bereich drücken kann ohne, dass die Sparer aus dem System flüchten können. Da dies nicht genügen würde, wird parallel der nächste große Schritt vorbereitet: die direkte Finanzierung von Staaten durch die Notenbanken. Vermutlich begründet mit dem dringenden Kampf gegen den Klimawandel.     

Nur konsequent. Wir haben uns über Jahrzehnte in eine Sackgasse manövriert. Jetzt beginnt das Endspiel. Ausgang offen, aber der Verlierer steht fest: der Sparer.
 

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Romuald Veselic | Fr., 13. September 2019 - 12:47

die Leute dazu verleiten wird, ihre Bankkontos zu liquidieren, denn das EU/€ - System das Ersparte sträflich frisst und jedes Gericht muss dies auch einsehen, und in diesem Sinne Verdikte aussprechen. Es kommt mir so vor, in die Arbeit zu gehen und dem Arbeitgeber vom Monatslohn Tribut dafür zu zahlen, dass er mich beschäftigt.
Ist dies auch Faschismus, mit anderen Mitteln fortgesetzt?

helmut armbruster | Fr., 13. September 2019 - 13:31

von 1923 bis jetzt gerechnet.
Zwei Zusammenbrüche für die Westdeutschen, drei für die Ostdeutschen.
Im Schnitt alle 33 Jahre einen.
Wer da noch dem Geld vertraut und den Politikern, die es kaputt machen, ist selber schuld.
Anscheinend ist der 4. Zusammenbruch nicht mehr weit entfernt.

Herr Draghi kann gar nicht anders, als den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Und dies gilt auch für Frau Lagarde; denn es ist schon die "ultima ratio", die beide
anwenden: Immer neues Geld drucken und Schuldentürme aufhäufen, so lange,
bis das Vertrauen in den Wert des Geldes aufgebraucht ist ...
Eine Alternative wäre nur der geordnete, sehr s c h m e r z h a f t e Rückzug aus
fehlerhaften Strukturen im Euro-Raum, wie sie z. B. Herr Prof. Lucke und andere
Ökonomen seit Jahren befürworten (Schuldenerlaß für die Südländer bei gleichzeitigem Ausscheiden aus dem Euro, Stärkung der Eigenständigkeit und -verantwortung der verbleibenden Euro-Länder, drastische Verkleinerung des Brüsseler Apparates, Reform des EU_Parlamentes usw.)
Damit ist genau das gemeint, was Frau Sandra Richter (weiter unten) so benennt:
"Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende."

O h n e gewaltige Einbußen kommen wir sowieso nicht mehr aus der total
verkorksten Situation in der EU heraus.

zuwenig Ahnung von komplexen Problemen der Währungen als hier bestimmter aufzutreten?
Dennoch überzeugt mich der Artikel nicht.
Man könnte vielleicht berechnen, dass die Voraussetzungen für eine Währungsunion von - rein hypothetisch - "Italien, dem Kongo, den Philippinen und Patagonien" die günstigsten seien, WENN man alle Kosten und Nachteile herausrechnet?
Ich halte die EU, das gewachsene Europa modernster Staaten für die beste Vorausetzung einer Währungsunion überhaupt.
Man muss es nur richtig organsisieren.
Herr Draghi for IWF
Man kann es sich manchmal nicht aussuchen.
Oder aber Draghi koordiniert das weltweite Finanzsystem von der UNO aus.

Markus Michaelis | Fr., 13. September 2019 - 13:49

Sparer sind einerseits Verlierer, aber andererseits auch Teil des Problems. Wäre Sparen "mein Auto, mein Fernseher", also auf reale Dinge bezogen, wäre es klarer: selbst erarbeitet und der Staat sollte es einem lassen.

Geld-Sparen ist aber anders. Abstrakter. Real existiert soetwas gar nicht - was wird denn da gespart? Geld-Sparen ist eine recht komplexe Garantie, die der Staat gibt, dass man irgendwann in Zukunft seine "Rechte" einlösen kann.

Nur: wo dem Sparer etwas garantiert wird, enteignet man zum Teil die freie Verfügung der Menschen in der Zukunft, da der Staat ja für deren Verhalten und Leistungen eben Garantien abgegeben hat. Und ab einem Punkt kann es der Staat gar nicht mehr garantien - Sparen wird dann zu einem hohlen Kartenhaus. Ich denke wir haben diesen Punkt überschritten.

Geld, Vermögen, Sparen werden irgendwie bleiben, weil sie wichtig sind - aber so wie jetzt sind sie nicht haltbar.

Susanne Dorn | Fr., 13. September 2019 - 14:04

...die EURO-Zone ist nicht mehr zu retten! Je später, desto TEURER für unser Land!

Barbara Piele | Sa., 14. September 2019 - 02:18

Antwort auf von Susanne Dorn

Es ist doch jetzt schon teuer genug. Der Euro?! Alles prima?! Ja, vonwegen. Ich merke es doch jeden Tag beim stinknormalen Einkaufen. Die Euro-Kernschmelze ist in vollem Gange. Ich überlege, mein sauer Erspartes gnadenlos von der Bank abzuräumen und wieder unter die gute alte Matratze zu packen. Bringt aber auch nix.

Sandra Richter | Fr., 13. September 2019 - 14:38

Die Analyse von Stelter ist korrekt, die Schlussfolgerung aber nicht. Denn nicht die Alternative "Zerfall der Eurozone" und Fall in eine Rezession" wäre schlimmer, sondern wie von ihm beschrieben die Blase noch weiter aufzupumpen, bis die Krise nach dem Platzen der Blase um ein Vielfaches das übersteigt, was heute mit dem Zerfall der Eurozone und dem Fall in eine Rezession auf uns zukommen würde.

Rational betrachtet heisst das: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Wolf-Dieter Hohe | Fr., 13. September 2019 - 18:51

ohne ohne - jedwede Verantwortlichkeiten. Gesetzlich geregelte natürlich.
Wie des Kaiser`s Daumen... nur anders.
Erinnert mich an Werner Herzogs Film
"Aguirre der Zorn Gottes"
Da treibt ein sich auflösender, sich gegenseitig umbringender, dahinsiechender Haufen auf einem Floß in der Mitte eines ruhig fließenden Stromes. Wählt aber schon mal einen Kaiser für ein noch zu findendes eigenes Reich.
Auf Basis eines eben selbst gekritzeltes Gesetzes - einem Floßgesetz.
Richtung bestimmt der Strom.
Passt irgendwie in die Jetztzeit.
Titel: Treibend auf dem Floß
Titel und Bild gefällt - jedenfalls mir.

Manfred Bühring | Sa., 14. September 2019 - 13:03

Seit der Aufhebung des Goldstandards hat Geld an sich überhaupt keinen Wert mehr, eben Fiat-Geld. Geld ist nicht mehr, als ein Versprechen auf ein bestimmtes Tauschäquivalent. Zuende gedacht heisst das, Sparguthaben sind im Prinzip nichts wert, es sei denn, ich tausche diese rechtzeitig (vor dem großen Knall) in Fremdwährung außerhalb des Euro oder tausche in brauchbare Sachwerte wie Immobilien, Ackerland, Beteiligungen (Aktien) etc.
Das EZB- und Politikerfernziel, Abschaffung des Bargelds, wird das Tauschen durch freie Entscheidung allerdings einschränken, wenn nicht gar verhindern. Beliebige Vermögensabgaben zur Staatsrettung wären dann nur noch ein einfacher Buchungsvorgang. Auf der Strecke bliebe die Demokratie.
Vor diesem Hintergrund sind "schwarze Null" und Schuldenbremse vollkommen absurde Politikerentscheidungen. In Infratsruktur zu investieren, ist nie wieder so billig wie heute!!