Frei wie ein Vogel? Der Mensch hat es schwieriger
Frei wie ein Vogel? Der Mensch hat es schwieriger / picture alliance

Politische Kultur - Der Liberalismus in der Krise

Die Krise des Liberalismus reicht tiefer als zukünftige Wahlergebnisse andeuten. Hier ist nicht nur eine Partei in Bedrängnis, die Idee des Liberalismus selbst zunehmend in Frage gestellt. Von Linken, von Rechten, von Umweltaktivisten, von Gerechtigkeitsfreunden und Solidaritätsromantikern

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Wahlergebnisse am Sonntag werden es wieder einmal bestätigen: Der Liberalismus ist in der Krise. Und damit ist nicht das wahrscheinlich eher dürftige Abschneiden der FDP gemeint. Das absehbar bescheidene Ergebnis der Freidemokraten bei den morgigen Landtagswahlen ist eher ein Nebensymptom.

Nein, die Krise des Liberalismus reicht tiefer als zukünftige und vergangene Wahlergebnisse andeuten. Hier ist nicht einfach nur eine Partei in Bedrängnis, vielmehr wird die Idee des Liberalismus selbst zunehmend in Frage gestellt. Von Linken, von Rechten, von Umweltaktivisten, von Gerechtigkeitsfreunden und Solidaritätsromantikern.

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 31. August 2019 - 13:31

Wieder einmal ein Treffer Herr Grau. Wie könnte sich der Liberlismus retten? Vielleicht dadurch, dass er zwei Schritte zurück geht. Ich meine nicht technologisch im Sinne zurück zum Kohleoffen und zur Schellacklandspielplatte. Ich meine in dem Sinne, dass
1. eine emotionsfreie schonungslose Analyse ähnlich Ihrer Ansätze im Hinblick auf Fehlersuche und deren Erkennung stattfindet
2. der Staat sich über das derzeitige Parteiensystem Gedanken macht und neue Wege gehen muss
3. die Menschen, jeden einzelnen, wieder eigenverantortlich zur Mitsprache führt
4. sich von sekten- und ideologischen Gedankengut trennt und dem gesunden Menschenverstand den Platz einräumt, der ihm gebührt
5. Politiker ihr eigenes Wohl zurückstellen und dem Gedanken nachgehen, dass das Wohlergehen aller nicht zu gewährleisten ist, aber der einzelene die Möglichkeit bekommt, aus eigener Kraft sich selbst zu versorgen und angemessen zu leben und somit eigenverantowrtlich seinen Wohlstand mitbestimmt. Upps, ich bin wach

Ernst-Günther Konrad | Sa., 31. August 2019 - 14:17

werden dieses Wochenende Herr Grau. Wenn im Osten die Wahlen morgen Abend den liberalen Staat erneut hinterfragen. Wenn zum Erhalt von Posten und irgendwelchen absurden Koalitionen, geradezu abenteuerliche Verbindungen eingegangen werden, nur um eine AFD zu verhindern.
Liberalismus lt. Wörterbuch:

Im 19. Jahrhundert entstandene, im Individualismus wurzelnde Weltanschauung, die in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht die freie Entfaltung und Autonomie des Individuums fordert und staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will.
Da können Wähler mal nach den Wahlen sehen, wieviel freie Entfaltung ihre Wählerstimmen dann noch bei den Parteien
ermöglichen. Ich sage mal, keine. Die Altparteien werden alles daran setzen, mit vielen staatlichen Eingriffen, das Wahlergebnis zu verdrehen. Die Presse wird helfen.
Vielleicht findet sich auch wieder ein Wahlhelfer der 50 Stimmen der AFD den Grünen gibt, wie im Oder-Spree-Kreis geschehen. Er wollte nur gutes tun, sagte er.

Ekkehard Windrich | Sa., 31. August 2019 - 14:34

Lieber Alexander Grau,

die Skepsis Ihrer Diagnose teile ich durchaus, insbesondere das im Schlussabsatz dargestellte Dilemma.
Nur glaube ich, dass die Krise im Kern gar keine des Liberalismus ist. Sein Versprechen kann sich nur an alle Menschen richten, unabhängig von religiöser, nationaler, sozialer oder sexueller Gruppenzugehörigkeit. Genau das macht, wie Sie darlegen, seine Attraktivität aus. Aber es zeigt auch, dass der Liberalismus nur ein Ast am Baum des Universalismus ist, der das europäische Denken spätestens seit dem Apostel Paulus prägt.
Jener Universalismus ist es, der dramatisch "an der Welt scheitert, an den Menschen, an den Gegebenheiten": Die Erde hat nicht die Ressourcen, das liberale Versprechen für alle zu verwirklichen, Friede und Wohlstand der liberalen Gesellschaften sind durch Kriege im Rest der Welt erkauft und sie alle sind im Inneren von immer tieferen Gräben durchzogen.

Das europäische Denken scheitert also insgesamt. Ein schmerzhafter Heimatverlust.

Hans Jürgen Wienroth | Sa., 31. August 2019 - 14:42

Liberalismus ist die Freiheit des Einzelnen. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass dieser Einzelne über der Gemeinschaft steht und dass er alle Rechte einfordern kann, ohne jedoch die Pflichten der Gemeinschaft zu teilen. Wer deren Regeln nicht will, darf auch in der Not nicht die Hilfe derselben einfordern. Das gilt für „Reichsbürger“ wie für Mitglieder der sogenannten „autonomen Szene“.
Die Richter in unserem Rechtssystem stellen meistens das Recht des Einzelnen als „Menschenrecht“ über das Recht der Allgemeinheit, teilweise sogar über das Grundgesetz. So kann jedoch keine Gemeinschaft funktionieren, denn deren Grundprinzip sind gemeinsame, fest definierte Werte. Wenn die (oftmals gewachsenen) Werte, wie in unserem Lande, von „einer Elite“ zur Disposition gestellt werden, ist die Gemeinschaft in Gefahr. Dann kann der Staat zerfallen.

Gerhard Schwedes | Sa., 31. August 2019 - 18:17

Ohne Wenn und Aber: ein vorzüglicher, intellektuell brillanter Artikel! Ich möchte allerdings diese Gedanken ins Praktische wenden. Die FDP als liberale Partei ist kläglich an ihrer Mutlosigkeit gescheitert, wie schon so oft in der Geschichte der BRD. Sie hat zwei Riesenfehler begangen: 1. Wer könnte durch die Masseneinwanderung mit ihrer kulturellen Schlagseite zum Islam mehr bedroht sein, als die Liberalität unserer Gesellschaft. Die FDP hätte die Chance gehabt, Merkel in den Arm zu fallen und wäre damit bei mindestens 20 Prozent der Stimmen gelandet. Damit hätte Lindner Parteigeschichte geschrieben. Der zweite Fehler: In Brüssel hat sie sich mit der Partei Macrons zusammengetan. Auch damit hat sie die eigene Liberalität verraten. Ausgerechnet mit dem französischen Präsidenten, der Europa das zentralistische französische Modell aufzwingen will, soll die Liberalität gestärkt werden? Damit hat sie sich in den Netzen des Elitismus und einer dem Individuum fernen Illiberalität verfangen

helmut armbruster | Sa., 31. August 2019 - 18:38

Diese werden aber immer weniger.
Wer in unserer Gesellschaft ist noch wirklich frei, hängt von nichts und niemandem ab außer von seinen eigenen Entscheidungen?
Es ist wohl nur eine kleine Minderheit.
Die große Mehrheit ist abhängig von irgendwas.
Vom Arbeitgeber, vom Staat, vom Vermieter, von irgendwelchen Verbänden und Organisationen, von Gewerkschaften, von der Krankenkasse, vom Kreditgeber für die Hypothek usw. usf...
Alle sind sie irgendwie eingeschränkt und daher nicht wirklich frei.
Viele sind sogar so eingeschränkt, dass sie die Folgen ihres Tuns und Lassens nicht wirklich selber tragen müssen.
Woher soll da der Geist der Freiheit und Unabhängigkeit kommen?

Markus Michaelis | Sa., 31. August 2019 - 20:08

Stimmt, der Mensch an sich und Gesellschaften aus vielen Menschen noch mehr bestehen aus einer Anhäufung von Widersprüchen.

Eine gute Gesellschaft gibt es nicht durch das heiligsprechen einzelner Werte oder eine bestimmten Ideologie, sondern durch die dauernde Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen und deren Ausbalanzieren.

Wolf-Dieter Hohe | So., 1. September 2019 - 09:28

Ihrer Analyse ist nichts hinzuzufügen, Herr Grau
Freiheit der Keim des Übels.
Freiheit nicht für Menschen gemacht.
Mit Freiheit sorgsam erhaltend umzugehen ist nicht der meisten Menschen Ding.
"Ohne Zaun steht plötzlich der Nachbar im Zimmer" - in freiheitlichem Gewand.
Profilierung, Besitzgier, Droge Macht, äußerlicher Sex. Essen, trinken und...
Anspruchlose Triebbefriedigungen.
Mehr ist da - ziemlich oft - nicht.
Im Namen der Freiheit.

Wolf-Dieter Hohe | So., 1. September 2019 - 10:59

Selbst die Freiheit bedarf Regeln, einvernehmlicher Regeln - soll sie denn erhalten bleiben.

Loni Heck | So., 1. September 2019 - 11:00

...der Autor stellt fest, dass liberale Gesellschaften "nicht in der Lage sind, sich auf Ideale zu verständigen, die jenseits des individuellen, ökonomischen Interesses des durchschnittlichen Individuums liegen" & gibt als Beispiele kostenfreie Kindergartenplätze, Mindestlöhne und Mietpreisdeckel an.

Die Beispiele funktionieren nur als Beleg für die Krise des L., wenn man von den Bedürfnissen eines durchschnittlichen Individuums ausgeht, was der Liberalismus in seiner Reinform selbst nicht tut. Der Vermieter profitiert jedenfalls nicht vom Mietpreisdeckel.

Es scheint, dass gerade hinter all diesen Beschlüssen eine übergeordnete Idee steht, nämlich die der sozialen Gerechtigkeit. Es profitieren die Benachteiligten gegenüber den Privilegierten. Aber es gilt auch als vorteilhaft für die Gesellschaft, wenn das Potenzial des Einzelnen gehoben werden kann: Brain gain, mehr Kaufkraft...Ich sehe hier keinen Widerspruch zwischen Liberalismus und Gemeinwohl, daher auch keine Krise.

Klaus Peitzmeier | So., 1. September 2019 - 11:48

"So beschließen liberale Gesellschaften kostenfreie Kindergartenplätze, Mindestlöhne, Mietpreisdeckel und alle möglichen Formen der Sozialabsicherung", schreibt Herr Grau.
Das ist aber eine wirklich sonderbare Analyse. Wußte gar nicht, daß ROT/ROT/GRÜN liberal ist.
Dachte mehr an Sozialismus.

Helmut Bachmann | So., 1. September 2019 - 11:55

können Gesellschaften nur funktionieren, wenn es genügend Homogenität gibt. D.h. genügend gemeinsame Werte, früher hieß es Zusammenhalt. Dafür braucht es Gründe. Diese verfallen merkwürdigerweise im Wohlstand. Also ist dies wohl dann in gewisser Hinsicht der natürliche Abschwung menschlicher Gesellschaften. Willkommen im Chaos.

Gisela Fimiani | So., 1. September 2019 - 15:47

„Die Krise des Liberalismus reicht tiefer...“
Sie reicht „tiefer“, weil wir uns nie die Frage beantwortet haben, warum wir den Liberalismus wählten. Wir sind über die materielle Ebene nie hinausgekommen. Da die liberale Demokratie den Wohlstand beförderte, waren wir zufrieden. Was aber meinte Demokrit mit den Worten: „Ich ziehe das karge Leben in einer Demokratie dem Reichtum unter der Thyrannis vor“? Er hielt die Freiheit für besser als die Knechtschaft. Wir sollten die politische Freiheit nicht wählen, weil wir uns ein bequemeres Leben versprechen, sondern weil sie selbst einen letzten Wert darstellt, der nicht auf materielle Werte zurückzuführen ist und mit der Würde des Menschen eng verbunden ist. Ein Zuviel des Staates führt zu Unfreiheit. Ebenso gibt es den Missbrauch der Freiheit. Die liberale Demokratie ist nie stabil und gerät, wenn sie zur Selbstverständlichkeit wird, in Gefahr. Die Gefahr der gegenwärtig dominierenden Ideologie, dass wir in einer moralisch bösen Welt leben.

Gisela Fimiani | So., 1. September 2019 - 16:40

Fortsetzung: Diese Ideologie nennt den Individualismus Egoismus und ersetzt ihn durch den Altruismus des Kollektivs. Das Kollektiv hat eine historische Mission, deren Erfolg man, mit allen Mitten und Opfern, zu erreichen berechtigt ist. (individueller Egoismus wird zu Gruppenegoismus)
Hier darf kein liberales Individuum mehr sein. Es muss sich einer neuen pantheistischen Religion (Klima, Menschenrechte) unterwerfen. Hier wagen es Christen „den Finger Gottes“ zu sehen. Sie wagen es, zu verstehen und zu wissen, was sein Wille ist, während sie ihm nur ihre erbärmlich kleinen historischen Interpretationen unterzuschieben versuchen.(sagt das kritische Individuum Karl Barth sinngemäß). Wenn der Liberalismus (samt Individuum) verschwindet, geben wir unser Selbst auf. Es sind und waren immer Individuen, die ihr Gewissen zum Richter mach(t)en und der götzenhaften Anbetung eines moralischen Futurismus widerstehen/widerstanden.

Dietrich Bomm | Di., 3. September 2019 - 17:46

würde ich, statt Krise, sagen.
Liberalismus bleibt, deshalb wird er nicht in eine Krise geraten.
Er wird missbraucht. Einer der Grundpfeiler des Liberalismus ist die Beschränkung der Staatsmacht. Hier setzen die Grünen an, missbrauchen diese Beschränkung durch Ausweitung der Staatsmacht um gleichzeitig klarzustellen, wir haben die Staatsmacht eingeschränkt. Drei Beispiele von vielen, die Grünen erklären: wir wollen die Freiheit, Fleisch zu konsumieren, nicht einschränken, in dem wir eine Fleischsteuer fordern. Wir wollen Inlandsflüge nicht verbieten, in dem wir sie teuer machen. Jeder hat die Freiheit, zu wählen.
Wir wollen eine CO2 Steuer, aber jeder kann den Verbrauch für sich entscheiden.
So kann die Beschränkung der Staatsmacht pervertiert und damit der Liberalismus missbraucht werden.
Die Wähler der Grünen sind so frei! diese Perversion, die nichts anderes ist, als eine Autokratie ohne Liberalismus zu etablieren, zu unterstützen. Eigenverantwortung? Wen stört das?

Tomas Poth | Di., 3. September 2019 - 19:31

Der Kampf um/für Freiheit und für mehr Demokratie muß immer wieder geführt werden.
Solidarität ist gut aber Eigenverantwortung darf dafür nicht geopfert werden.
Auch die Humanität hat ihre natürlichen Grenzen, dort wo der Retter sich zum Opfer seiner Rettungstaten macht.
Die Selbstopferung mag heroisch sein, sofern sie als Ergebnis der Eigenverantwortung entspringt und nur diesen opferbereiten selbst trifft.
Das darf aber nicht zu einer Handlungsmaxime der Staatsregierung werden. Siehe NS-Zeit, Opferung der eigenen Bevölkerung und Zerstörung des Staates (Wollt ihr den totalen Krieg noch totaler!).
Diese Aufopferungsmentalität für "höhere Ziele" läßt sich auch bei der Klima-Hysterie finden, Deutschland soll/muß hier vorangehen (Merkelsprech), obwohl die Hypothese des menschengemachten Klimawandels nach wie vor umstritten ist und unser marginaler Beitrag einer vorgeblichen Klimarettung keine Wirkung derselben zeitigen wird.