Das blutige Auge, inzwischen das Markenzeichen der Bewegung. Eine Demonstrantin verlor ihr Augenlicht durch die Polizei / picture alliance

Proteste in Hongkong - Die Rache des Drachen

Demonstranten in Hongkong versuchen, das Parlament zu stürmen. Polizisten stürmen die Ubahn und verprügeln Menschen. Kelvin Tsui beschreibt die Tage vor dieser erneuten Eskalation. Die Demonstranten hätten nur ein Ziel: Freiheit und Demokratie

Kelvin Tsui

Autoreninfo

Kelvin Tsui wurde 1989 in Hongkong geboren. Er studiert heute in Trossingen Cembalo, Alte Musik, Ensembleleitung und Gesang. Davor studierte er in Lyon und Weimar. Er ist zweiter Vorsitzender des Vereins „Hongkonger in Deutschland“.

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Das geplante Auslieferungsgesetz nach Festland-China mochte die Zündschnur der Hongkonger Protestbewegung sein. Aber es geht längst nicht mehr nur darum, diese Gesetzgebung zurückziehen zu lassen, sondern primär darum, Demokratie einzufordern. Denn Demokratie hatte uns die chinesische Regierung vor dem Souveränitätswechsel von Großbritannien zu China vor über zwanzig Jahren versprochen.

Nachdem eine junge Frau, die Verletzten helfen wollte, vor wenigen Tagen ihr rechtes Auge durch ein Gummigeschoss der Polizei verlor und am selben Abend die Polizei mehrere Tränengasbomben in eine U-Bahn-Station warf, um Demonstranten zu vertreiben, waren viele Hongkonger wütend. Seitdem die Frau ihr Augenlicht verlor, ist die blutige Augenbinde zum Symbol der Hongkonger Protestbewegung geworden.

Aufmarsch im Viktoriapark

Die Menschenrechtsorganisation Civil Human Rights Front (CHRF) kündigte daraufhin einen großen Aufmarsch an, eine Woche später sollte er stattfinden. Aber der Antrag auf den Protestmarsch wurde von der Polizei abgelehnt, weil die Demonstration, so die Begründung, bei der derzeitigen Situation möglicherweise zu Gewalt führen könnte. Stattdessen genehmigten sie nur eine Kundgebung im Hongkonger Viktoriapark. So flexibel wir Hongkonger sind, reagierten wir sofort darauf. Gar kein Problem.

Wir nahmen die Nicht-Genehmigung von der Polizei an und wandelten den Aufmarsch in eine Kundgebung, welche nicht extra genehmigt werden muss. Aber da es zu vermuten war, dass sehr viele Menschen teilnehmen, wurde der Viktoriapark (insgesamt 190.000 Quadratmeter) schnell voll. Die Straßen vor den Parkeingängen wurden komplett von den Menschenmassen blockiert. Es waren so viele Demonstranten, dass das öffentliche Verkehrsnetz  stundenlang lahmgelegt war. Die Menschen konnten nicht mehr mit dem öffentlichen Verkehr fahren und mussten zu Fuß bis zur nächsten U-Bahn-Station bzw. Bushaltestelle laufen, die normal in Betrieb war. Die nächste, die infrage kam, war in vier Kilometer Entfernung vom Viktoriapark. Am Ende war es also doch ein Protestmarsch.

Herzliche Kommunikation? Eine Lüge

Ich war selbst dabei. Nachdem ich mich mit einem Freund zum Mittagessen getroffen hatte, fuhren wir mit der U-Bahn zur sogenannten „Fortress Hill Station“. Zwei Stationen vom Viktoriapark entfernt. Weil wir hörten, dass die Haltestelle hinter dem Viktoriapark genauso überfüllt war wie die Station am Park selbst. Doch wir mussten feststellen, dass Fortress Hill auch überfüllt war.

Ich wohne seit dreißig Jahren in der Nähe dieser Station. Noch nie habe ich dort so viele Menschen gesehen wie an diesem Tag. Erst nach einer halben Stunde schafften wir es, aus der Station herauszukommen. Als wir zu Fuß zum Viktoriapark aufbrachen, fing es an, wie aus Eimern zu schütten.

Es ging nur langsam voran, denn eine riesige Masse an Menschen pilgerte zum Viktoriapark. Ich war, trotz Regenschirm, von oben bis unten durchnässt. Wir brauchten ganze zwei Stunden, dabei war der Viktoriapark nur anderhalb Kilometer entfernt. Aber es blieb friedlich, Kämpfe zwischen Polizei und Demonstranten gab es keine - aber wohl nur, weil keine Polizei zugegen war. Später erfuhr ich, dass fast zwei Millionen Menschen an dem Protestmarsch teilnahmen. Hätte es nicht geregnet, wären wahrscheinlich noch mehr gekommen. 

Bereits die dritte Demo mit einer Teilnehmerzahl in Millionenhöhe innerhalb von drei Monaten war das. Die pekingtreue Hongkonger Regierung aber sah dies nicht als Anlass, auf die Forderungen der Protestbewegung einzugehen. Ihre Stellungnahme zu dieser jüngsten Demo war lächerlich: Das Wichtigste, so verlauteten sie, sei es, die Ordnung und Harmonie wieder herzustellen. Wenn dann alles wieder ruhig sei, würde die Regierung auch wieder herzlich mit allen Bürgern kommunizieren. Herzliche Kommunikation gibt es also nur gegen „Ruhe“. Wenn wir, die Hongkonger, aber nicht zufrieden sind mit dieser herzlichen Kommunikation, wird es wieder Unruhe geben. Und damit wird die herzliche Kommunikation wieder enden. Ein Teufelskreis. Der „herzlichen Kommunikation“ der Regierung zuzustimmen, hieße also, der Regierung zuzustimmen. Das ist die wirkliche Kondition im Subtext. 

Fleiß und Flexibilität 

Wir Hongkonger sind bekannt für unseren Fleiß und unsere Flexibilität. Das sieht man an der Art, wie wir protestieren. Mit der Zeit bildeten sich zwei Gruppen innerhalb der pro-demokratischen Seite. Eine hält sich an eine friedliche, rationale und gewaltfreie Art, zu demonstrieren. Das hat am Anfang gut funktioniert. Die andere Seite aber ist der Meinung, der Polizeigewalt und der Untätigkeit der pekingtreuen Regierung müsse man mit Gewalt begegnen. Man müsse zurückschlagen. 

Zwischen beiden Gruppierungen schwelte ein starker Konflikt über die Vorgehensweise im Kampf für die Demokratie. Inzwischen aber arbeitet man zusammen, spricht sich ab, wechselt sich mit demonstrieren und kämpfen ab. Beide streiten für dasselbe Ziel, deshalb dulden sie sich gegenseitig. Zerstritten bringen wir uns nichts. Manchmal braucht man friedliche Märsche, aber manchmal müssen die Tapferen vorangehen und dem Staatsapparat zeigen, dass die Hongkonger keine Feiglinge sind. Zumal die härteren Aktionen, verglichen mit anderen Protesten auf der Welt, noch ziemlich harmlos sind. Es ist meist die Polizei, die mit brutaler Gewalt angreift. Seit Mitte Juli schossen sie über zweitausend Tränengasbomben ab. 

Tagsüber Arbeiter, abends Demonstrant

Seit drei Monaten kämpfen die Hongkonger gegen die Tyrannei. Tagsüber gehen sie arbeiten, ganz normal, studieren oder zur Schule. Am Abend ziehen sie sich Gesichtsmasken über und Helme auf, sodass sie anonym bleiben und sich einigermaßen schützen, ziehen auf die Straße und konfrontieren die bis an die Zähne bewaffneten Polizisten in Vollmontur mit ihrer Unrechtskultur. 

Teilnehmer wie ich, die Berichte in verschiedenen Sprachen schreiben, sorgen für internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung. Wir haben nur ein Ziel: Freiheit und Demokratie zu erkämpfen. Wir hoffen, dass wir uns eines Tages „unter'm Topf“, sprich vor dem Regierungssitz, versammeln und unsere Masken abnehmen können. Ohne Angst. Und uns umarmen können. Das wäre unser Traum.

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Tomas Poth | Sa., 31. August 2019 - 15:34

und Demokratie, dafür das Parlament stürmen müssen wir uns beeilen. Die Pläne für die Abschottung des Bundestages wurden ja schon publik gemacht.
Aber ohne Ironie, warum den Bundestag als Festung ausbauen, was haben die Altparteien mit uns vor, sich vor uns zu schützen?

Klaus Funke | Sa., 31. August 2019 - 18:26

Die Hongkonger Demonstranten, von denen nicht klar benannt wird, wie sie sich organisieren oder wer sie finanziert, fordern "Freiheit und Demokratie". Selber strafen sie sich mit ihren Aktionen Lügen, denn sie dienen weder der Freiheit, noch sind sie ein leuchtendes Beispiel für Demokratie. Hongkong liegt nun mal in China und die Briten haben es nach langer Besatzungszeit, korrekterweise an China zurückgegeben. Würden denn die Briten Hongkong wieder zurücknehmen? Westberlin lässt grüßen. Die Hongkonger sind Chinesen so wie die Münchner Deutsche sind. Daran ist nicht zu rütteln. Was wollen sie? Was verstehen sie unter Freiheit und Demokratie? Wollen sie der ewige Pfahl im Fleische sein? Sicher, der Westen und die USA wollen das. Ich bin, auch wenn man mich hier auf dem Forum "steinigt", für eine finale Lösung. Wer Wind sät, soll Sturm ernten, heißt es in der Bibel. China soll gnadenlos und hart durchgreifen, ohne Rücksicht auf die Heuchler im Westen. Ausnahmezustand! Schießbefehl!

Ulf Müller | Sa., 31. August 2019 - 22:22

Ich habe gestern im Cash.ch einen Kommentar von Marc Faber gelesen, Börsenexperte aus Hong Kong lebte dort dreißig Jahre und hat immer noch ein Büro dort. Das klang anders, Chinesen sind pragmatisch und haben andere Werte. EMPFEHLE PSYCHOGRAMM einer Weltmacht von Stefan Baron und seiner chinesischen Ehefrau. Dieser Artikel klingt wie ein Märchen für Spiegel- oder Zeitleser, tapfere Revolutionäre gehen den Unterdrückerstaat. Tagsüber Arbeiter und Abends Demonstrant, wers glaubt wird selig, ich hab bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr im Maschinenbau in einer Fabrik gearbeitet. Aber klingt für deutsche Vorstellungen sehr plausibel. Das Schöne, das Gute und das Richtige sind doch universelle Werte oder? Ulf Müller