Proteste gegen Boris Johnson in London
„Keep calm and carry on“. Das ist vorbei. / picture alliance

Brexit-Plan von Boris Johnson - Der schmale Grat zwischen Demonstration und Unruhe

Der Brexit-Plan von Boris Johnson, das Parlament in die Zwangspause zu schicken, treibt die Menschen in Großbritannien auf die Straßen. In einem Land ohne geschriebene Verfassung, droht ein Aufstand, der schlussendlich die Exekutive ausschalten könnte

Autoreninfo

Thomas Kielinger ist seit 1998 London-Korrespondent der Welt und Ehrenoffizier des „Order of the British Empire". Er ist Autor der soeben erschienenen Biografie „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England" (C.H. Beck).

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Drei und mehr Jahre hat es gedauert, bis sich der Schwelbrand EU-Referendum vom 23. Juni 2016 auf der britischen Insel heute zu einer fast nicht mehr zu löschenden Krise entwickelt hat. Die Briten stehen vor einer politischen Katastrophe, wie wir sie seit 1945 nicht mehr erlebt haben. Vorbei die viel gerühmte Gelassenheit des britischen Charakters, dieses „Keep calm and carry on“. Der Brexit lässt niemanden kalt, die Ruh‘ ist hin, so komplett wie der Grundkonsens, ohne den eine Gesellschaft nicht auskommen, nicht regiert werden kann.

Europa – genauer: der Kontinent – ist die Schicksalsfrage der Briten, alle vier vergangenen konservative Regierungen sind über dieser Frage geschmolzen oder gestürzt: Margaret Thatcher, John Major, David Cameron, Theresa May. Und jetzt auch Boris Johnson? Die Tage schürzen sich zum Höhepunkt eines Kriminalromans. Das hat mit seiner Spielernatur der neue Premierminister höchstpersönlich vollbracht, indem er die Sitzungszeit des Parlaments stärker verkürzen ließ, als es sonst üblich ist in einer auslaufenden Legislaturperiode und vor dem Beginn der folgenden.

Die Queen war machtlos

Das heißt: Die Abgeordneten haben kaum mehr Zeit, angemessen über die Absicht der Regierung zu diskutieren, einen Brexit selbst ohne Verhandlungsergebnis mit der EU durchzusetzen, einen „No Deal Brexit“. Die Ablehnung dagegen verläuft quer durch alle Reihen des Unterhauses, aber Johnson hat die Widerständler fast gelähmt, wenn nicht ausgeschaltet mit seiner Taktik. Ein Coup d’etat, wie die Gegner sagen, ein „Frevel“, wie selbst der Speaker des House of Commons, John Bercow, es nennt. Ein Angriff gegen die Demokratie.

Erste Straßendemonstrationen haben sich versammelt, der Grat zwischen „Demonstration“ und „Unruhe“ ist schmal, in der Politik stehen die Zeichen auf Sturm. Die Queen, bei der Johnson die Erlaubnis für seinen Schritt einholen musste, war machtlos: Sie muss verfassungsgemäß dem Wunsch der Exekutive nachgeben, denn er ist völlig legal. Das Recht, eine Legislaturperiode zu beenden, steht auf der Seite der Downing Street. Besonders, wo es um die längste ununterbrochene Sitzungsperiode des Parlaments seit Sommer 2017 geht.

Juristischer Präzedenzfall 

Das Unverschämte an Johnsons Schritt ist sein Machtkalkül: Er weiß, dass die verbleibende Sitzungsdauer zwar noch übliche Diskussionszeit über ein umstrittenes Gesetz wie den Brexit erlaubt, aber eben kaum mehr einen legislativen Vorstoß gegen einen No Deal. Ein solcher Vorstoß müsste in den nächsten Tagen erfolgen, wenn das Parlament sich gegen alle Statuen das Recht erobert, der Regierung Weisung zu erteilen, über den 31. Oktober hinaus, diese Deadline, mit der EU über den Brexit zu verhandeln – möglicherweise unter Umgehung des EU-Austrittsparagraphen 50, der bisher noch Ende Oktober das endgültige EU-Aus für die Insel festschreibt.

Ein Kampf um die Vorherrschaft zwischen Parlament und Regierung, zwischen der Legislative und der Exekutive, in einem Land ohne geschriebene Verfassung, das allein aufgrund von Konventionen, Gesetzen und juristischen wie legalistischen Präzedenzfällen politisch regiert wird. Ein Aufstand des Parlaments könnte ein neues Präzedenz schaffen und die Exekutive in diesem Fall ausschalten.

Last exit: Oberstes Gericht?

Wird sich eine Mehrheit dafür im Unterhaus finden? Wird der Speaker es durchlassen? Oder wird der Streit vom Obersten Gericht entschieden, das derzeit berät, ob Johnsons Schritt verfassungsgemäß war? Oberflächlich betrachtet ist es, wie gesagt; der Premierminister, der über die Beendigung einer Legislaturperiode befinden darf. Aber darf er das auch, wenn ein so heiß umkämpftes Thema wie der No Deal Brexit das Land zweiteilt und das Parlament die Gelegenheit verlöre, ein solch umstrittenes Ziel zu verhindern? Die Richter sind um ihre Beschlussfindung nicht zu beneiden.

Darin spiegelt sich nur der Kern des Debakels wider, das Unentschieden des Resultats vom Juni 2016: Nur knapp 52 Prozent waren damals für den EU-Austritt, und immer dann, wenn die Brexiteers heute sagen, „das Volk“ habe gesprochen, die Regierung müsse folgen, bäumt sich die Hälfte der Gesellschaft auf, weil ihr Wille, in der EU zu verbleiben, nicht berücksichtigt wurde und wird. Das gleicht einem Bürgerkrieg, aber Bürgerkriege sind bekanntlich die blutigsten, die unversöhnlichsten Kriege überhaupt. Boris Johnson hat den Startschuss gefeuert für ein Drama, von dem nur so viel bekannt ist: Es wird die Insel in ihrem Kern zerreißen.

Thomas Kielingers soeben erschienene Biografie heißt: „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England" (C.H. Beck).

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Karsten Paulsen | Fr., 30. August 2019 - 12:25

"Erste Straßendemonstrationen haben sich versammelt, der Grat zwischen „Demonstration“ und „Unruhe“ ist schmal, ..."

Menschen demonstrieren und schon werden Unruhen heraufbeschworen. Das nenne ich Öl ins Feuer gießen. Diese altung zeugt von einem verqueren Demokratieverständnis des Autors. Leider steht er damit nicht allein.

Den Eindruck hatte ich auch sofort, lieber Herr Paulsen.
Nur ein Abstimmungsergebnis von 99% plus ist offensichlich
ein gutes, ein demokratisches Ergebnis. Claus Kleber hätte
nicht besser kommentieren können. Unter den heutigen
britischen Schreihälsen befindet sich sicher eine große
Gruppe, die vor drei Jahren den Urnen ferngeblieben ist.
Damals war die(!) Gelegenheit, seiner "Liebe" zum Kontinent
eine Stimme zu geben. Die britischen Gepflogenheiten sind
mir leider viel zu wenig vertraut - aber ein Boris Johnson nutzt
wohl nur seine Möglichkeiten und geht dabei auch volles
Risiko. Das haben wir zur Kenntnis zu nehmen. Gerade die
deutschen Journalisten, die ich in der Hauptsache als katz-
buckelnd und kotauisierend wahrnehme, scheinen nur noch
den Mut zu haben, vor allem "draußen" ihrer Aufgabe als
4. Gewalt gerecht zu werden, gerecht werden zu wollen.
Einfach nur traurig.

Aber die Wutbürger in Deutschland verunglimpfen, die noch viel mehr gebrochene Regierungsverantwortung zu beklagen haben.
Und dazu kein Wort über die unerbittliche und noch mehr Spaltung verursachende Haltung der EU in der Frage der Austrittsbedingungen. Diese hat Frau May das Amt gekostet und nicht die im Artikel gemutmaßten Besserwissereien.
By the way, was würden die "Demokratieverfechter" aller Länder wohl sagen, wenn sie einen Volksentscheid mit rund 52 zu 48 Prozent gewännen?

Kann sein, dass ich mich irre, aber ich fürchte, Sie haben Herrn Kielinger falsch verstanden. Zwar zeigt sich der Autor sehr besorgt über eine bevorstehende "politische Katastrophe" und bemüht sogar den Vergleich mit einem "Bürgerkrieg", doch macht er für diese Entwicklungen vor allem das Machtkalkül des neuen PM verantwortlich ("Das hat mit seiner Spielernatur der neue Premierminister höchstpersönlich vollbracht, indem er die Sitzungszeit des Parlaments stärker verkürzen ließ, als es sonst üblich ist..."), dessen Vorgehen er als "Angriff auf die Demokratie" bezeichnet.
Vollends kurios wird es, wenn Herr Binder Ihnen, Herr Paulsen, beipflichtet, denn während Sie die Proteste ja verteidigen, hält Herr Binder, die Demonstranten für "Schreihälse", denen er teilweise unterstellt, sich vor drei Jahren nicht am Referendum beteiligt zu haben.

Henning Magirius | Fr., 30. August 2019 - 12:32

So ist es einfach, und darum sage ich zu diesem Thema seit Juni 2016 (!) nur: Brexit - That’s it.

Robert Hans Stein | Fr., 30. August 2019 - 13:20

Antwort auf von Henning Magirius

"Nur knapp 52 Prozent waren damals für den EU-Austritt, und immer dann, wenn die Brexiteers heute sagen, „das Volk“ habe gesprochen, die Regierung müsse folgen, bäumt sich die Hälfte der Gesellschaft auf, weil ihr Wille, in der EU zu verbleiben, nicht berücksichtigt wurde und wird." Die größere "Hälfte" (ich kenne den Witz) würde sich berechtigterweise aufbäumen, bliebe das Ergebnis des Referendums folgenlos. Das sagt uns, der Schreiber des Beitrags ist nicht unbefangen, er verkündet seine Meinung. Man kann auch anderer Meinung sein, selbst wenn in unsderen Medien der Eindruck erweckt wird, diese sei falsch und nicht sehr verbreitet. Demos gegen den Brexit, Stars gegen Johnson usw. Seine Anhänger und Brexitbefürworter in GB sind in unseren Medien gemessen an ihrer Zahl unterrepräsentiert. Sie finden fast nicht statt. Mediales Fiasko!

..ich lebe seit Jahren in England (Cotswolds) und kann Ihnen nur beipflichten.
Viele Bürger (auch ich) sind froh, dass Boris die Sache jetzt angeht, und es zu einem Ergebnis kommt. Mit oder ohne Deal. Und den angekündigten Demos morgen, sieht jeder hier gelassen entgegen. Von wegen innerlich zerissenes Land. Kopletter Quatsch.

Gerhard Lenz | Fr., 30. August 2019 - 13:45

Antwort auf von Henning Magirius

Die Briten hatten nämlich keine Ahnung, wie ihre zukünftiges Verhältnis zur EU aussehen sollte. Ganz zu schweigen davon, dass im Vorfeld des Referendums gelogen, manipuliert und mit falschen Zahlen hantiert wurde.
Sogar unmittelbar nach der Abstimmung versprach der Clown Johnson, Britannien würde auch zukünftig uneingeschränkten Zugang zum Gemeinamen Markt haben!

Solche Leute bejubelt man höchstens in der AfD.

Wolfgang Brauns | Sa., 31. August 2019 - 10:27

Antwort auf von Gerhard Lenz

Das ist es, was Ihre Beiträge so "wertvoll" macht.
"Gelogen, manipuliert und mit falschen Zahlen hantiert" wird bei Ihnen immer nur auf der anderen Seite.
Substanz Ihres Beitrags also gleich null.

Klaus Peitzmeier | Fr., 30. August 2019 - 12:56

Es gibt doch nicht wenige, die die von den Briten über Jahrzehnte geforderte Sonderbehandlung u die Erpressungen gegenüber der EU u immerwährende Brexitandrohung reichlich nervte. Nun gab es eine, wenn auch knappe, Volksentscheidung in freier Wahl gegen die EU. Möglicherweise brauchen die Briten mal ein richtig reinigendes Gewitter, um Erleuchtung zu erfahren, daß sie einfach nur Britain u keinesfalls mehr "Great" sind.
Daß sie erkennen, ein ganz gewöhnlicher Teil von Europa zu sein u es für alle great wäre, wenn sie sich entsprechend verhielten. Europa braucht die Briten u auch die Briten brauchen Europa um zumindest in wirtschaftl. Hinsicht in der Welt erfolgreich bestehen zu können. Vielleicht müssen die Briten tatsächlich erst voll vor die Wand fahren, um dies zu erkennen. War bei den größenwahnsinnigen Deutschen doch auch nicht anders.

Lese ich da eine gewisse Gehässigkeit gegenüber UK raus?
Für ein wirtschaftlich erfolgreiches Europa reicht der Staatenbund, sh. EWG.
Ein EU-Bundesstaat würde garantiert ins sozialistische abdrehen und für Konflikte der Teilstaaten untereinander sorgen.
Die Briten werden sicherlich nicht gegen die fahren, dafür sind sie viel zu pragmatisch.
Sie sind von den Briten genervt, in einem VE-Europa werden Sie sich vor den Zug werfen ob der inneren Verteilungskämpfe, die jetzigen Nettozahler werden vor den Karren des Restes gespannt.

Christa Wallau | Fr., 30. August 2019 - 13:07

Es mache sich niemand etwas vor:
Die EU mit ihrer Entfremdung von den Bürgern bietet das Potential, in jedem Mitgliedsland über kurz oder lang große Unruhe zu stiften wegen des Themas: Drin bleiben oder nicht?
Das Vereinigte Königreich macht da nur den Anfang.
Der Riß, der durch die Völker geht, trennt die EU-Gläubigen und die Skeptiker in vielen Ländern.
Je nachdem, wie wichtig es einem Menschen ist,
seine Selbstbestimmung (demokratischen Rechte)
zu retten, wird er sich der einen oder anderen
Partei zuordnen. Auf jeden Fall ist k e i n
Friede-Freude-Eierkuchen in Sicht - weder für den Fall des Bleibens in der EU noch für den Fall des
Austritts.
Das große Experiment EU wurde nachlässig
bzw. fahrlässig aufgebläht, anstatt zwischendurch immer wieder einmal kritische Rückschau zu halten. Kurz: Das Kind ist längst in den Brunnen gefallen. Es lebt noch, aber ohne große Schäden
wird es nicht geborgen werden können.

Gisela Fimiani | Fr., 30. August 2019 - 13:35

Inzwischen zum Moral-Weltmeister aufgestiegen, können sich Deutsche den Hochmut wieder leisten. Außerdem lenkt die Kritik an anderen Ländern, von den massiven Problemen in Deutschland und der EU trefflich ab. Sie stärkt den fatalen Eindruck, dass wir alles besser wissen und können. Wir sollten uns zurückhalten.

Tomas Poth | Fr., 30. August 2019 - 14:06

ein Vertragsentwurf vor, das Parlament braucht nur zuzustimmen!!
Bei den Jammerern über die Brexitabstimmung liegt ein merkwürdiges Verständnis über Demokratie vor!

Ernst-Günther Konrad | Fr., 30. August 2019 - 15:19

so jetzt lese ich das erste mal klar und deutlich, dass das was er macht, rechtskonform ist. Also. Austritt am 31.10.2019, so wie es die Mehrheit des Volks will. Die Urmutter der Demokratie ist Gründer des Mehrheitsbeschlusses. Also muss es diesen Mehrheitsbeschluss auch jetzt in diesem Fall anwenden und umsetzen. Nichts anderes macht Johnson. Zeit zum Diskutieren haben sie seit 2016. Was kam heraus? Rin in de Kartoffeln, raus de Kartoffeln. Nicht Fisch nicht Fleisch. Es langt. Man kann es nicht mehr hören und lesen.