
- Europa ohne Zentrum
Die Europawahl 2019 hat die etablierten Verhältnisse erschüttert. Angela Merkel und Emmanuel Macron sind geschwächt, die politische Mitte ist geschrumpft und im Europaparlament gibt es keine klare Mehrheit mehr. Wie geht es nun weiter in der EU?
Eine Schicksalswahl sollte es sein, mindestens aber eine historische Richtungs-Entscheidung. Doch die Europawahl ist völlig anders gelaufen, als die teils apokalyptischen Warnungen aus den etablierten Parteien erwarten ließen. Nationalisten und EU-Gegner haben nicht die Macht in Brüssel übernommen, eine klare Richtung haben die 426 Millionen Wahlberichtigten aber auch nicht vorgegeben.
Im Gegenteil: Mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung von 50,5 Prozent haben die Bürger das Parlament kräftig durcheinander gewirbelt und die bisher tragende Mitte geschrumpft. Zugleich haben sie Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron eine empfindliche Klatsche verpasst. Das deutsch-französische Duo ist schwächer denn je, Europa steht ohne Zentrum da.
Das Monopol der Macht ist zerbrochen
Darüber kann auch der Jubel der Wahlgewinner von Grünen und Liberalen nicht hinwegtäuschen. „Es ist fantastisch, so viel Vertrauen zu bekommen“, freute sich die Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller am Wahlabend in Brüssel. „Das Monopol der Macht ist gebrochen“, sagte Margrethe Vestager von den Liberalen. Die etablierten Parteien müssten die Macht teilen und mit dem Status Quo brechen. Doch die „grüne Welle“ und die liberale „Renaissance“ haben ihren Preis: Erstmals seit 1979 stehen die zwei größten Blöcke – die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) – ohne eigene Mehrheit da. „Wir haben jetzt dieselbe Lage wie in den meisten Mitgliedstaaten“, klagt S&D-Spitzenkandidat Frans Timmermans: Das Parlament ist zersplittert, die Macht in Europa ist in den Grundfesten erschüttert.
Keine Mehrheit für niemand – das gibt es jetzt nicht mehr nur in Timmermans Heimat, den Niederlanden. Dies ist auch die neue Lage in Europa. Liberale, Grüne, aber auch Rechtspopulisten haben zugelegt. In einigen Ländern wie Großbritannien, Italien oder Frankreich haben sie sogar die meisten Stimmen auf sich vereint. Gleichzeitig sind die etablierten Parteien deutlich geschwächt.
Schlechtes Ergebnis für Merkel, Desaster für Macron
Besonders schwer wiegt dies in Deutschland und Frankreich. Im größten EU-Land haben Kanzlerin Merkel und ihre Christdemokraten das schlechteste Ergebnis aller Zeiten eingefahren, jedenfalls für eine Europawahl. Die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist angeschlagen, der von Merkel und AKK getragene Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) hat einen schweren Dämpfer erhalten. In Frankreich haben die Nationalisten um Marine Le Pen mehr Stimmen eingefahren als die Bewegung von Präsident Macron, „La République en marche“ (LREM). Für Macron, der sich im Wahlkampf wesentlich stärker engagiert hat als Merkel und sich als Vorkämpfer einer weltoffenen, liberalen EU präsentierte, ist dies eine schwere Niederlage. Sein Nimbus als Retter und Erneuerer der EU ist angekratzt.
Nun rächt es sich, dass Macron jahrelang auf Merkel gewartet hat – und dass die Kanzlerin die überfällige Reform der EU blockierte. Nun verlieren beide, das deutsch-französische „Paar“ steht blamiert auf der europäischen Bühne da. Doch ein neues Führungsduo zeichnet sich nicht ab. Das machtpolitische Zentrum der EU ist geschwächt, der Sondergipfel am Dienstag wird schwierig.
Die EU muss sich neu sortieren
Ursprünglich sollte dieses Treffen vor allem dazu dienen, das neue Europaparlament „einzunorden“ und das weitere Vorgehen zu klären. Nach der Europawahl muss nicht nur der Posten von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker neu besetzt werden. Auch das EU-Parlament, der Rat und die Europäische Zentralbank brauchen eine neue Führung; außerdem wird der Job des EU-Außenbeauftragten frei.
Doch nun müssen sich die EU-Chefs wohl erst einmal selbst sortieren – und orientieren. Anders als bei der Europawahl vor fünf Jahren wird ihnen das Europaparlament nicht nur einen, sondern gleich drei Anwärter auf den Posten des Kommissionschefs präsentieren. Und anders als 2014 wird es nicht mehr reichen, die Jobs einfach auf Konservative und Sozialdemokraten zu verteilen.
Die Liberalen und die Grünen wollen auch ein Wörtchen mitreden. Und neben dem konservativen Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) haben auch Timmermans und Vestager einen Führungsanspruch angemeldet. Weber will sich auf eine ganz große Koalition stützen, Timmermans auf eine „progressive Allianz“ mit Liberalen, Grünen und Linken. Und Vestager setzt auf einen Kompromiss zwischen Parlament und Rat, der sie zur Kommissionschefin befördern könnte.
Machtkampf um die Spitze
Es ist eine neue Unübersichtlichkeit, die den Verlust des Zentrums reflektiert – und in einem Machtkampf enden könnte. Merkel scheint entschlossen, trotz der Wahlschlappe an Weber festzuhalten. Doch Macron möchte Weber verhindern – und weiß dabei zehn andere Staats- und Regierungschefs hinter sich. Gleichzeitig halten sich Ersatz-Kandidaten wie der EU-Verhandlungsführer für den Brexit, Michel Barnier, oder IWF-Chefin Christine Lagarde bereit.
Als wenn das alles nicht schon kompliziert genug wäre, wackeln nun auch noch mehrere Regierungen in der EU. In Großbritannien hat Premierministerin Theresa May bereits ihren Rücktritt angekündigt. In Griechenland will Ministerpräsident Alexis Tsipras vorgezogene Neuwahlen abhalten. Und in Österreich muss sich Kanzler Sebastian Kurz einem Misstrauensvotum stellen. Bisher war Kurz auf EU-Ebene der wichtigste Fürsprecher für den deutschen Spitzenkandidaten Weber. Nun ist nicht einmal mehr klar, ob er noch beim EU-Gipfel am Dienstag erscheint.