Leonardo da Vinci
Er wollte der Nachwelt unbedingt im Gedächtnis bleiben: Leonardo da Vinci / picture alliance

Leonardo da Vinci - Seine Angst vor dem Vergessenwerden

Vor 500 Jahren starb das Universalgenie Leonardo da Vinci. Er hatte mehr Angst vor der Zeit, der „Verzehrerin der Dinge“, als vor dem Jüngsten Gericht. In der Erinnerung der Menschen erblickte er das ewige Paradies, weshalb er schwer an einer Legendenbildung um die eigene Person arbeitete

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Dr. Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963, Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biographien und Essays, sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte.

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Als Leonardo da Vinci am 2. Mai 1519, drei Wochen, nachdem er seinen 67. Geburtstag gefeiert und sein Testament aufgesetzt hatte, im Schloss Clos Lucé in Amboise starb, hatte die Legende vom großen Renaissancemagier längst ihren Siegeszug durch die Geschichte angetreten. Mochte Leonardos sterbliche Hülle zerfallen – sein Geist und sein Geheimnis, das ihn nach wie vor umweht, haben die Welt bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen.

Franz I., König von Frankreich, der Leonardo dieses Refugium der letzten Jahre aus wahrer Bewunderung für den Künstler und zum Beweis seiner eigenen Ritterlichkeit zur Verfügung stellte, weilte an diesem Tag weit von dem sterbenden Universalgenie entfernt in Saint-Germain-en-Laye. „Il re è lontano“ (der König ist weit weg), wie der gutinformierte Carlo Vecce schrieb. Dagegen behauptete ein früher Biograph, Giorgio Vasari, dass der alte Meister in den Armen des französischen Königs seinen letzten Seufzer tat.

Die Nachwelt stets im Blick

Diese Leonardo-Legende gewann im Laufe der Zeit derart an Bedeutung, dass sie schließlich im 19. Jahrhundert geradezu eine sakrale Höhe erklommen hatte. Doch dann erwies sie sich schließlich nicht als Tatsache, sondern als Topos. Aber die Entfernung von 200 Kilometern zwischen Amboise und Saint-Germain-en-Laye stand in keinem Verhältnis zu jener, die den toskanischen Meister von seiner Geburtsstadt Vinci trennte. Über 1000 Kilometer lagen in der Stunde seines Todes zwischen seinem Alterssitz und seiner Heimat, zwischen Clos Lucé und Florenz, zwischen Amboise und Mailand. Ein außergewöhnliches Leben ging zuende.

Man weiß nicht, wann diese Idée fixe von ihm Besitz ergriffen hat, aber Leonardo mühte sich, bei all seinem Tun stets die Nachwelt fest im Blick zu haben. Eine unstillbare Sehnsucht durchdrang ihn, in die Geschichte einzugehen. Nur das Gedächtnis der Nachwelt vermochte ihn zu retten: vor der Zeit, der „Verzehrerin der Dinge“, vor der „schnelle(n) Rafferin der geschaffenen Dinge“, die „viele Könige“, „viele Völker“ „schon vernichtet“ hat. Staaten haben, notierte Leonardo, sich gewandelt und „allerlei Zustände sind erfolgt“.

Angetrieben von schwarzer Galle

Schon sehr früh schaute Leonardo mit der Melancholie, die man in der Renaissance als die Gefährdung, zugleich aber auch als die Bedingung für das Genie, genauer für das Ingenium, angesehen hatte, auf das Vergehen seines Lebens, das wie ein Fluss im Meer erstirbt. Bereits das Problem XXX, 1 der „Problemata", die dem Werk des Aristoteles zugerechnet wurden, behandelte die Frage, warum alle außergewöhnlichen Menschen Melancholiker seien, wie auch Cicero in den „Disputationes Tusculanae“ behauptete.

Der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino, ein Zeitgenosse Leonardos, vertrat in seinem Buch „De vita libri tres“ die aus der Antike stammende Auffassung, dass die Melancholie vom Übermaß an schwarzer Galle herrühre. Wenn sich die schwarze Galle im Menschen erhitze, dann rufe sie im Menschen kreative Kräfte herkulischen Ausmaßes hervor, erkalte sie jedoch, dann senkten sich auf die menschliche Seele Lust- und Antriebslosigkeit. Ficino galt nicht zuletzt als Autorität in diesen Fragen, weil er auch Medizin studiert hatte.

Angetrieben von erhitzter schwarzer Galle erkannte Leonardo in der Zeit auch folgende Kraft: „Du gibst den geraubten Leben, indem du sie in dir verwandelst, neue und verschiedene Behausungen.“ Ließe sich eine „neue Behausung“ in der Zukunft finden, würde es ihm gelingen, mit der Zeit einen Pakt zu schließen? Ging es nicht um ständigen Wandel und Verwandlungen, wie Ovid es in seiner großen Dichtung „Metamorphosen" nicht müde wurde zu zeigen? Es kam dem Versuch gleich, stets die Welle zu reiten. Manche Geste gewinnt ihre volle Bedeutung erst vor diesem Hintergrund. Man versteht Leonardo nur, wenn man mitbedenkt, dass vieles von dem, was er unternahm, nicht allein für seine Zeitgenossen getan wurde, sondern zugleich auch für die Späteren, für uns und für die, die nach uns kommen.

Philosoph statt Christ

In der ersten Ausgabe der Vite von 1550 schrieb Vasari noch schwungvoll über Leonardo: „Dafür hat er in seinem Geist so ketzerische Gedanken entwickelt, die keiner Religion mehr nahekamen, weil er es weit höher schätzte, Philosoph statt Christ zu sein.“ In der Ausgabe von 1568 hatte der vorsichtiger gewordene Vasari diesen Satz jedoch gestrichen, denn nach dem Konzil von Trient und der einsetzenden katholischen Reform erwiesen sich Sätze dieser Art als gefährlich – für die Bewertung Leonardos, aber auch für den Autor selbst.

Zwar hatte Papst Paul III. mit der „Bulle Licet" ab initio am 4. Juli 1542 die Heilige Römische und Allgemeine Inquisition gegründet, deren Hauptaugenmerk auf der Häresie und auf der Abweichung vom katholischen Glauben lag, doch wusste man erst nach dem Konzil von Trient verbindlich, was katholisch war. Vasari, den Biographen Leonardos und Michelangelos, mahnte zur Vorsicht, dass bereits 1564 durch den Erlass „Pictura in Capella Apostolica cooprinatur" die Darstellung der Nacktheit in der Bildenden Kunst verboten und Daniele da Volterra damit beauftragt worden war, die anstößigen Stellen in Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Dem armen Daniele da Volterra brachte dieser unehrenhafte Auftrag den Beinamen Braghettone (Hosenmaler) ein. Bei aller Ambivalenz in seiner Einschätzung Leonardos stand es nicht in Vasaris Absicht, sich selbst oder das Ansehen Leonardos für die Nachwelt zu beschädigen.

Ein Leben in Gegenwart und Zukunft

Dem Menschen des 21. Jahrhunderts, der sich dem Konzept der Nachwelt entfremdet hat und ganz in der Ars vivendi, reduziert auf eine Ars consumendi, aufgeht, mag es schwerfallen, diese Motivation angemessen zu würdigen. Leonardo aber lebte früh schon in zwei Welten: in seiner Gegenwart und in der Zukunft, die aus seiner Perspektive gesehen die Ewigkeit schlechthin bedeutete. Für ihn galt das Konzept der Nachwelt in sogar noch weitaus höherem Maße als für seine Zeitgenossen. Vielleicht war die Nachwelt sogar die Form, wie er sich das Paradies vorstellte, zumindest in der Zeit, bevor er in Amboise lebte.

Georg Wilhelm Hegel kalauerte einmal, Friedrich Schiller zitierend, dass die Weltgeschichte das Weltgerichte sei. Vieles spricht dafür, dass sich Leonardo stärker vor der Weltgeschichte als vor dem Jüngsten Gericht fürchtete, zumal die Tiefe seines christlichen Glaubens in Zweifel stand, wofür Vasari einen prominenten, aber nicht den einzigen Beleg lieferte. Es mag als allzu moderner Gedanke erscheinen, aber der Meister des Abendmahls und der Mona Lisa erblickte in der Erinnerung der Menschen das ewige Leben im Paradies, im Vergessenwerden hingegen die Hölle.

Untrennbarkeit von Legende und Biographie

Nur zu gut wusste er, dass darüber, ob seine Erdentaten bleiben oder in den nachfolgenden Zeiten verwehen, einzig und allein die Nachwelt entschied. Doch wie konnte man sie beeinflussen, ihr beikommen? Wie ließe sie sich zwingen, seine Taten für immer im Gedächtnis zu bewahren?

Wer sich dem Leben Leonardos nähern will, muss stets im Blick haben, dass gelebtes Leben und versuchte Legendenbildung die zwei Seiten seiner Existenz ausmachen, mehr noch, dass Biographie und Legende nicht strikt getrennt voneinander sind, sondern ineinander übergehen. Und selbst wenn seine Biographen in dem einen oder anderen Falle einer von Leonardos Lebensdichtungen, einer seiner Mystifikationen aufsaßen, so schadet das nicht, weil sie einen so innigen Teil seines Lebens bilden. Leonardo jedenfalls befeuerte bewusst und kalkuliert die Legendenbildung um seine Person.

 

Cover Leonardos GeheimnisKlaus-Rüdiger Mai verfasste das Buch: Leonardos Geheimnis. Die Biographie eines Universalgenies, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 432 Seiten, 25 Euro

 

 

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Dorothee Sehrt-Irrek | Do., 2. Mai 2019 - 15:15

bitte nicht als Kritik um der Kritik willen auffassen.
Für mich ist Rembrandt der große Maler des Lichts, Leonardo da Vinci eher ein Maler der Dunkelheit des Lebens.
Es gibt schöne Gemälde von Rembrandt auf Schloß Wilhelmshöhe.
Ich frage mich auch, wie ich es wagen kann, da Vinci als evtl. Gegenpol zur Renaissance und zum Humanismus zu sehen.
Dan Brown hat mich darauf gebracht und der Umstand, dass ich die Mona Lisa immer schon so hässlich fand, dass ich sie mir nicht einmal im Louvre angesehen habe.
Hässlich, wie das?
Da Vinci arbeitete evtl. an einer Religion des "heiligen Grals", der Weitergabe des Blutes Christi.
Wir erinnern "Vater, Sohn und heiliger Geist", kurz die Genealogie Christi, die genau noch Maria als weibliche Heilige zulässt.
So auch für da Vinci, weshalb das "Abendmahl" ganz gewiss NICHT Maria Magdalena zeigt, sondern Johannes, geboren aus dem Blute, dem Kelch Jesu?
In der Tradition sah sich da Vinci vmtl.?
Die Mona Lisa ist der vollkommene Mann incl. Frau?

Leonardo da Vinci eröffnete auch die Möglichkeiten des autonomen menschlichen Denkens, das sich eben nicht auf das Weltbild von Papst und Kirche bezog. Jedes Individuum konnte jetzt zur Quelle von Erkenntnissen werden. Die theologische Vorstellungswelt verlor damit auch seine Aussageautorität- die ebenso für weltliche Zwecke zur Unterwerfung der Gläubigen diente.

Der Mensch begann das Unerklärliche der Naturphänomene erklärbar zu machen. Zunächst durch Beobachtung der Natur und durch Experimente. Er trat den Beweis an und wurde zum Schöpfer. Da Vinci: „Der Flug eines Vogels erfolgt nach mathematischen Gesetzen“, mit derartigen Erkenntnissen arbeitete man jetzt an Problemen der Physik, der Chemie, der Biologie, der Medizin, usw.. Und noch heute sind Wissenschaft und Kunst übernational, zivilisatorisch und universal ausgerichtet.

Ich liege auf dem Felde Kunst eher brach, habe jedoch im Louvre die Mona Lisa eingehend betrachtet; sie/er? hat mir sogar zugezwinkert!
Der Louvre ist absolut toll u ein jeder sollte einmal dort gewesen sein!

Nein, ich finde Mona Lisa nicht hässlich, das wäre ja übrigens diskriminierend, oder? Vielleicht war sie/er ja damals in einer der AfD vergleichbaren Bewegung?
Dann wäre sie/er natürlich hässlich, nicht wahr?
So sieht u sagte das ja bekanntlich Ihr Parteikollege Johannes Kahrs im Bundestag in Richtung der AfD.
Er wurde nach Beendigung seiner Tirade seitens Dr. Schäuble gerügt!

Dan Brown´s Roman ist natürlich lesenswert; sogar die Verfilmung ist okay, was selten der Fall ist!
Ja, diese Freimaurer u ihr Clan!
Ich durfte einmal solch einen Zeremonienraum betreten, das war sehr "interessant"! "Wo sind denn die Spitzhauben?"
Sie verstehen sicherlich was ich meine?

Eines noch: Frau Sehrt-Irrek, ich lese Ihre Postings sehr gerne, bin jedoch ab u an "überfordert"?!?

Ich war im Louvre wegen einer Impressionisten-Ausstellung.
"Hässlich" hätte ich in 3-fache Gänsefüsschen setzen sollen.
Ich bitte um Entschuldigung.
Ich finde die These auch SEHR gewagt.
Sie ist so gewagt, dass sie wohl schwerlich das Denkmal da Vincis zum Einsturz bringen kann. Andererseits war Newton doch auch Alchimist?
Vielleicht darf man umfassender und kritischer forschen?
Aber gerade die auch bei Wiki zu lesenden Äusserungen über seine Zeitgenossen fielen mir auf.
Schreibt so ein Humanist?
Andererseits vielleicht zu krass formuliert.
Ich kenne mich bei Freimaurern nicht aus, nur bei Mozart.
Da schweigt jede abfällige Bemerkung.
Ich weiss nicht, ob der Mozart-Film von Milos Forman Salieri gerecht wird, der Göttlichkeit Mozart vielleicht doch.
Setze meinen Kommentar nachträglich in Gänsefüsschen.

da wir mittlerweile ein anerkanntes 3. Geschlecht haben.
Meine Überlegung geht ein bisschen dahin.
Malte da Vinci das 3. Geschlecht, aus Sicht eines Mannes?
Sah ich Ähnliches in der Kunstaustellung zur Malerei der Jahrhundertwende (1900) in der alten Pinakothek in München?
Gibt es ein 3. Geschlecht aus Sicht einer Frau? Eine Frau incl. Mann?
Aber die malten nicht, jedenfalls nicht offiziell?
Vielleicht beschrieben sie es in ihren Büchern?
Ich liebte das Bildnis eines jungen Mannes von Rembrandt in der Gemaldegalerie auf Schloss Wilhelmshöhe (Kassel).
Und neige ansonsten zu der Ansicht, dass Frauen nie nur aus Frauen bestehen und Männer nie nur aus Männern, was bitte soll dann Sexualität?
Kinder sind immer ein Resultat der gemeinsamen Sexualität ihrer Eltern oder wurde das schon bestritten?
Nur die Ausprägungen sind unterschiedlich.
Natürlich bin ich auch ein Kind meines Vaters, nicht zu überlesen...
Ich hatte als Kind das Gefühl, er schrieb hauptberuflich Leserbriefe:)