Notre-Dame Wiederaufbau
Die Franzosen debattieren über das wie, nicht über das ob / picture alliance

Wiederaufbau Notre-Dame - „Von hier aus misst und denkt sich Frankreich“

Nach der Brandkatastrophe von Notre-Dame scheint ein gespaltenes Land geeint. Tatsächlich gehen beim Wiederaufbau die Debatten um Gerechtigkeit aber weiter. Doch die Franzosen führen sie nun anders. Auch die Gelbwesten sind leiser geworden

Kay Walter

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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Der Brand des Dachstuhls von Notre-Dame de Paris war noch nicht ganz gelöscht, da überboten sich die französischen Milliardärsfamilien Pinault (Gucci, Yves-Saint-Laurent, Puma), Arnault (Dior, Louis Vuitton, Moet) und Bettencourt (L'Oreal) bereits mit Spendenzusagen im dreistelligen Millionenbereich.

Es war noch nicht klar, ob es überhaupt möglich sein würde, die majestätische Kathedrale zu retten, da kündigte Präsident Emmanuel Macron bereits an, „es sei die Pflicht und das Schicksal der Franzosen“ dies Wahrzeichen von Paris und Frankreich wieder aufzubauen.

Einen Tag später legte er in einer Fernsehansprache nach. Er erklärte, Notre-Dame werde in fünf Jahren nicht nur wiederhergestellt sein, sondern „in neuem Glanz erstehen“. Er sagte „Wir sind ein Volk der Baumeister“. Und weiter: es gehe jetzt darum, „aus einer Katastrophe eine Gelegenheit (zu) machen, besser zu werden als das, was wir heute sind.“

Die Erwartungen erfüllt und neue geschürt

Große Worte – und exakt das, was die Mehrheit der Franzosen von ihrem Präsidenten hören wollte. Denn dafür ist ein (französischer) Präsident nach dem Willen der Bürger da. Er soll ambitionierte Ziele vorgeben, auf deren Erreichen man dann später mit Stolz schauen kann. Genau deshalb benutzte Macron diese, zugegeben sehr pathetische Variante von „Wir schaffen das“. Aber auch das Pathos wollen die Franzosen von ihrem Präsidenten hören. Der ist nicht Jedermann und der muss auch nicht so reden. Der muss allerdings dafür Sorge tragen, dass die Ziele auch erreicht werden können.

Am Geld wird es sicher nicht scheitern. Unterdessen haben die Spendenzusagen bereits die Milliardengrenze durchbrochen. Eher schon daran, dass es weltweit kaum genügend Fachkräfte gibt, den Bau in einem derartigen Tempo durchzuführen. Aber Macron hat auch in diesem Punkt schnell und zupackend gehandelt. Mit sofortiger Wirkung machte er Jean-Louis Gorgelin, den ehemaligen Generalstabschef der Armee zum Monsieur Wiederaufbau. General Gorgelin verfügt über die nötigen Fähigkeiten,Verbindungen und das Durchsetzungsvermögen – er ist amtierender Großkanzler der Ehrenlegion und war überdies Stabschef im Präsidialbüro von Jacques Chirac. Und seine Ernennung könnte, ganz nebenbei, das schwer angekratzte Verhältnis zwischen Militär und Präsident Macron verbessern helfen.

Wo sind die Gelbwesten hin?

Apropos angekratztes Verhältnis. Von den Gelbwesten hört man derzeit wenig. Wie auch. Wozu auch. Notre-Dame ist nicht in erster Linie katholische Kathedrale, Notre-Dame ist das Zentrum des französischen Selbstverständnisses: Hier wurde Heinrich der IV zum König gekrönt, Napoleon machte sich selbst zum Kaiser; die Glocken von Notre-Dame verkündeten das Ende der Weltkriege und den Abzug der Deutschen; ihr Läuten spendete Trost nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015; die Trauerfeiern für De Gaulle, Pompidou und Mitterand sind jeweils für eine Generation emblematisch. Zum Wiederaufbau kann in Frankreich niemand NEIN sagen, erst Recht nicht, wenn man sich, wie die gilets jaunes, als die einzig wahren Vertreter des Volkes gerieren möchte. Egal wie der Wiederaufbau gestaltet wird, er ist, hier stimmt das schreckliche Wort tatsächlich einmal, er ist alternativlos.

Davon natürlich lassen sich die Franzosen ihre Lust zu streiten, jeden und alles zu kritisieren, nicht nehmen und natürlich debattieren sie heftig über den Wiederaufbau von Notre-Dame. Aber nur über das wie, ganz sicher nicht über das ob.
Es beginnt die Debatte, wieso einzelne Familien so viel Geld besitzen, dass sie problemlos hunderte Millionen Euro spenden können. Zu Recht wird die Frage gestellt, ob die Steuervorteile für derartige Spenden den Staat nicht am Ende teurer zu stehen kommen, als die kurzfristige Hilfe. Mancher nennt das auch hierzulande eine Neid-Debatte. Das ist Unsinn, und das könnten die Spender auch ganz leicht entkräften. Sie müssten lediglich auf die Steuervorteile verzichten, wie die Famile Pinault das bereits getan hat. Premierminister Édouard Philippe hat vorsorglich schon mal vollständige Transparenz im Umgang mit den Spendengeldern versprochen. Auch, das sie ausschließlich zum Wiederaufbau von Notre-Dame verwendet würden.

Notwendige Gerechtigkeitsdebatte, ohne Hysterie

Die Diskussion über die Spenden ist, um auf die gilets jaunes zurückzukommen, natürlich die Fortsetzung der von ihnen angestoßenen Gerechtigkeitsdebatte. Und die ist auch notwendig. Man muss darüber streiten, mit welchem Recht Banken und Versicherungen Millionensummen spenden können, die sie aus treuhänderisch zu verwaltendem Geld erwirtschaftet haben. Man muss debattieren, ob Privatvermögen in der Größenordnung von hunderten Milliarden nicht zumindest auch dadurch zustande kommen, dass sie nicht einer ernsthaften Besteuerung im Sinne des Allgemeinwohls unterzogen wurden.

Die Diskussion beginnt jetzt, aber sie wird in Anbetracht der Fast-Zerstörung eines nationalen Kulturguts nicht mehr so verletzend und geradezu hysterisch geführt, wie zuvor. Vor allem wird nicht mehr ein ganzes Land in Geiselhaft genommen. Das bedeutet im Übrigen nicht, dass es nicht bereits diesen Samstag wieder zu gewalttätigen Demonstrationen in Paris und anderswo kommen könnte, dass besagt „nur“, dass das allgemeine Verständnis, solche Gewalt für legitim, ja notwendig zu halten, rapide schwindet.

Der Vatikan will nichts spenden

Das Land besinnt sich auf seine Wurzeln. Und das (fast) ausnahmslos. Als vor der abgebrannten Kirche abwechselnd Choräle und die Marseillaise gesungen wurden, waren das nicht nur weiße katholische Franzosen, sondern alle. Sie applaudierten den Feuerwehrmännern, die aus den Trümmern kamen. Der Imam der Großen Moschee von Paris, Dalil Boubakir, ruft die Muslime im Land auf, für den Wiederaufbau zu spenden. Der Papst und die katholische Kirche beteiligen sich erklärtermaßen nicht an den Renovierungskosten. Begründung: Der Staat habe genügend Geld. Da muss man auch erst mal drauf kommen.

Die Selbstvergewisserung ist dabei mehr an Emotionen als an Fakten gekoppelt: Notre-Dame ist mitnichten die älteste gotische Kathedrale in Frankreich oder Paris, auch nicht die wichtigste; der zusammengebrochene Turm (fleche) über der Vierung stammt von Viollet-le- Duc und wurde bei der letzten großen Renovierung im 19. Jahrhundert zugefügt. Muss man nicht wissen, um sich von der Katastrophe betroffen zu fühlen. Im Boden vor Notre-Dame ist eine Rosette eingelassen, die den Nullpunkt markiert: Von hier aus misst und denkt sich Frankreich. Das ist der eigentliche Grund des Aufgewühlt-Seins. Die Île de la Cité ist Kern und Zentrum Frankreichs.

Die Katastrophe als Reflektieren über Vergänglichkeit

Den Vorgang des Abbrennes und den Zusammenbruch live verfolgen zu wollen ist einerseits – in Frankreich wie überall in der Welt – die reine Anteilnahme. Sie ist zweitens immer auch der schieren Sensationsgier geschuldet, desaster porn (Was für eine abwegige Diskussion wird da in Deutschland über live-Übertragung im öffentlich-rechtlichen TV geführt?). Niemand muss aus Informationsgründen sehen, wie eine Kirche brennt, solange das kein Anschlag war und keine Menschen zu Schaden kommen.
Sie birgt aber drittens die Chance, memento mori zu sein, die eigene Vergänglichkeit zu reflektieren und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Darauf zielt der Appell von Emmanuel Macron, besser zu werden, als man es vorher war: die Katastrophe als Chance anzunehmen. Selbstverständlich ist das auch eigennützig – warum auch nicht. Aber es stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt über den Eigennutz. Solidarität nannte man das, woran der Präsident appelliert, zu andern Zeiten.
 
Die ursprünglich für Montag geplante TV-Ansprache von Macron, angesetzt um der Nation seine Schlussfolgerungen aus der grand débat zu erläutern und die für Mittwoch vorgesehene zugehörige Pressekonferenz sind vorerst augesetzt. Ebenso der Europawahlkampf. Das alles rückt vor den Bildern der brennenden Kathedrale in den Hintergrund. Für Macron könnte der Brand von Notre-Dame zu dem werden, was für Helmut Schmidt die Sturmflut oder für Gerhard Schröder das Elbehochwasser war (mit dem entscheidenden Unterschied, dass in Paris niemand verletzt oder gar getötet wurde): Der Beweis von Handlungsfähigkeit und herausragenden Managementfähigkeiten in einer durch äußere Umstände erzwungene Ruhepause von „normalen“ Politikbetrieb. Bisher hat er keinen Fehler gemacht. Er scheint gewillt, die sich bietende Chance zu nutzen.

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Max Müller | Sa., 20. April 2019 - 10:54

"Notre-Dame ist nicht in erster Linie katholische Kathedrale, ..."
Natürlich ist Notre-Dame in erster Linie ein Ort des Glaubens, - alle nationale Symbolik hat davon gezehrt (oder sich daran nur abgearbeitet).
Ein Ort des Gebets und der Verkündigung, - jetzt zu Ostern insbesondere die Verkündigung der Auferstehung, so wie Paulus berichtet:
"Zuerst habe ich euch weitergegeben, was ich selbst empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben.
Das ist das Wichtigste, und so steht es schon in der Heiligen Schrift. Er wurde begraben und am dritten Tag vom Tod auferweckt, wie es in der Heiligen Schrift vorausgesagt ist.
Er hat sich zuerst Petrus gezeigt und später allen aus dem engsten Kreis der Jünger. Dann haben ihn mehr als fünfhundert Brüder und Schwestern zur gleichen Zeit gesehen, von denen die meisten heute noch leben.
Später ist er Jakobus und schließlich allen Aposteln erschienen.
Zuletzt hat er sich auch mir gezeigt, der ich es am wenigsten verdient hatte."

Jürgen Lehmann | Sa., 20. April 2019 - 11:40

Leider zu viel Pathos in dem Artikel. So naiv können die Franzosen nicht sein, dass plötzlich alle Probleme vergessen sind!
Zynisch kann man sagen, dass Macron die – teilweise – Zerstörung von Notre-Dame sehr willkommen war.
Auch ein guter Schauspieler ist vergänglich.

Warten wir ab wie sich das Verhalten der Franzosen die nächsten „Jahre“ entwickelt.

Ernst-Günther Konrad | So., 21. April 2019 - 09:13

Macron hat den Brand über die seit Monaten andauernden, berechtigten Interessen eines Teiles seines Volkes gestellt. Mit seiner großkotzigen Ankündigung, den Notre Dame in 5 Jahren wieder aufzubauen, hat er einen Fehler gemacht. Er hätte den Gelbwesten sagen müssen, dass die Lösung ihrer Probleme weiterhin an erster Stelle stehen und dass daneben versucht wird, sich um den Wiederaufbau des Notre Dame zu kümmern. Für die demonstrierenden Franzosen, von denen sicher viele natürlich wünschen, dass der Notre Dame aufgebaut wird, ist aber das Hemd näher als die Hose. Wieder hat Macron die falschen Prioritäten gesetzt. Der Brand spieglt nicht die Alltagsprobleme der Franzosen wieder. Die Politik hat völlig das Fingerspitzengefühl verloren. Ich sagte diese Woche schon an anderer Stelle, dass die Gelbwesten nur wegen des Brandes nicht einknicken werden. Inzwischen weis man bei der franz. Polizei ohnehin, das die Antifa mit 1500 bis 2000 Chaoten im sog. "Schwarzen Block" die Gewalt bringen.

Hallo Herr Konrad,
eines muß man aber fairness halber E. Macron zugute halten: Er war direkt zum Ort der Katastrophe geeilt!
Wäre so ein Brandt (Hambuger Michel, Kölner Dom) in Deutschland passiert, hätte (wenn überhaupt) doch AM nur ihren Sprecher S. Seibert vorgeschickt und die üblichen Floskeln herunterleiern lassen!
Gibt ja genügend Beispiele dahingehend...

Yvonne Pfeiffer | So., 21. April 2019 - 10:47

Kann ich nach den letzten Tagen nicht erkennen !? Ich denke der gemeine Bürger in Frankreich hat andere Sorgen, als den Wiederaufbau einer Kirche. Und die Großspender, mit Heiligenschein, setzen ihre Spenden von der Steuer ab.