Sängerin Nicole bekommt eine Rose von einem Kind
Für „ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude“ warb die Sängerin Nicole / picture alliance

Rhetorik von Politikern - Im Würgegriff der Verniedlichungen

Überall wird zurzeit eine klare Haltung gefordert, gerade auch im Politischen. Doch alles, was der Mensch bekommt, ist jederzeit und überall „ein bisschen.“ Warum das keine Petitesse ist, sondern ein Krankheitsbild

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Wolf Reiser (64) lebt und arbeitet in München als Buchautor, Reporter und Essayist. Mehr hier

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Entweder Sie glauben mir das einfach oder – besser noch – Sie prüfen es nach, indem Sie zukünftig genauer zuhören, wenn sich Volksvertreter, Experten, Sportsleute oder Medienschaffende sich zu irgendeinem Punkt äußern. Gerade, wo ich diese Zeile schreibe, sehe ich Jogi Löw, wie er zischend Feinstaub einsaugt und von Unmengen „Ähs“ ornamentiert Verständnis einfordert für „ein bisschen, ja, eine Art von, ja, sagen wir mal, warum nicht, doch... Generationswechsel.“

Fast in jeder Aussage hierzulande versteckt sich dieses armselige „ein bisschen“. Lars Klingbeil will sich „ein bisschen“ mehr um die Menschen draußen im Land kümmern. Mathias Döpfner rät, den Zeitungslesern mit „ein bisschen“ weniger Arroganz daherzukommen. Und jeder von uns weiß, dass er „ein bisschen“ mehr fürs Klima tun muss. Ein Ruck ist angesagt auf der Andrea Doria, „ein bisschen“ mehr Optimismus, Herrschaften, mal wieder „ein bisschen“ stolz sein und an sich glauben, etwas selbstbewusster auftreten, aber bloß nicht überheblich, weil dann geht es schief. Nach einer TV-Stunde ist eine ellenlange Liste absurdester Verwendungen dieses schwindsüchtigen Indefinitpronomens erstellt.

Lange vor der epidemischen Verwendung gab es ein Lied. Es wurde im Jahre 1982 von einer jungfräulichen Erscheinung vorgetragen, der 17-jährigen Nicole mit ihrer taubenweißen Friedensgitarre. Warum auch immer gewann sie den Grand Prix Eurovision. Flankiert vom Kalten Krieg, Friedensmärschen und apokalyptischem Unbehagen wurden nach und nach fünf Millionen Singles mit der frohen Botschaft verkauft, in der es unter anderem heißt: „Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne für diese Erde, auf der wir wohnen. Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude, ein bisschen Wärme, das wünsch' ich mir...“

Die Kastration des Deutlichen

Ja, es gibt es derzeit weiß Gott wichtigere Themen, Terror, Migration, Pflege, Klima und klar, Bildung. Doch das inflationäre und sublative „ein bisschen“ steht für mehr als rhetorischen Zeitgewinn. Es steht für eine kollektive Verbauljauche und liegt wie ein toxisches Piercing auf den Zungen. Es ist alternativloser Bestandteil der verzagten Melodie und sagt mehr über dieses Land und die innere Verfassung seiner Bewohner aus als soziologische Wälzer und pausbäckige Analysen.

Ein bisschen heißt nicht viel, ein klein wenig, etwas mehr als Nichts und auf gar keinen Fall das volle Maß oder das große Ganze. Klartext, ein konkretes Bekenntnis, der entschiedene Wille oder eine felsenfeste Überzeugung stehen nicht zur Debatte. Man mag damit keiner Seele wehtun, auch und gerade nicht der eigenen. Es feiert sich klammheimlich die Unschlüssigkeit und Indifferenz, das Vage und Vorsichtige und jederzeit Relativierbare. „Ein bisschen“ hat keinerlei Lust auf Konfrontation. Jede Form von Rückzug oder späterer Negation soll ermöglicht sein. Hier geht es um Nebel, Schwamm und Morast. Die Kastration des Deutlichen wünscht sich ein bisschen mehr Beinfreiheit – wir erinnern uns.

Hätte man auch nein sagen können?

Ein bisschen, das ist wie das Pfeifen aus dem letzten Loch, faul, feige, konfus und wertneutral, dem idealen Tonfall zugeneigt für einen politisch korrekt sedierten Volkskörper zwischen Luftballons und Mausefallen. Wenn Sie also in Zukunft genauer zuhören, dann werden Sie  wahrnehmen, wie man von Ihnen „ein bisschen mehr Radikalität“ einfordert, „ein bisschen mehr Haltung“ und „ein bisschen entschlossene Zivilcourage“ im Kampf gegen das Übel oder die Realität.

Knapp zwei Jahrzehnte gingen nach Nicoles zauberhafter Ballade ins Land. Urplötzlich hielten erklärte Pazifisten die Regierungsverantwortung in ungeübten Händen. Zügig nahmen sich Bill Clinton und Madeleine Albright das rotgrüne Salonrebellen-Duo zur Brust und verordneten ihnen und uns die neue Rolle auf der großen Bühne. Die Ära der senilen Bettflucht, des auf ewig angelegten Abduckens wurde beendet und das Gebot der Stunde hieß:  Deutschland muss erwachsen werden. Wie bei jeder Initiierung für höhere Aufgaben bestand die erste Schwellenbegehung darin, schuldig zu werden.

Eine Shithole-Bruchbude namens Kosovo bot sich als Übungsfläche für den Sündenfall an – inklusive „ein bisschen Uran auf Belgrad“ und „ein bisschen Freude, ein bisschen Wärme, das wünsch' ich mir...“ Hätte man in Washington auch nein sagen können? Klartext statt Lavieren? Mut statt Demütigung? Bachfuge statt Nicole?

Aussitzen als Nationalcharakter

Machen wir es kurz für heute: Der Siegeszug des „ein bisschen“ steht für unsere kollektive Feigheit, für das Vertagen und Aussitzen als Nationalcharakter und das relativistische Siechtum unserer Geistesverfassung. Es bildet einen Kompromiss zwischen Realität und Eventualität und verspricht ein provisorisches Rückzugsgebiet für Ausreden und Ausflüchte. Ein bisschen, niedlich und infantil, will meinen, dass man das so wie zitiert nicht gesagt, beziehungsweise gemeint hat, und überhaupt wurde es aus dem Zusammenhang gerissen, und bevor man sich um Kopf und Kragen redet, wird die Angelegenheit den Anwälten übertragen. Selbst unsere Ministerien lassen Nachfragen unbeantwortet, und schriftlich wird erklärt, dass man ohnehin nicht zuständig sei, und aus Rücksicht auf ein laufendes Verfahren stünde man zum jetzigen Zeitpunkt nicht zur Verfügung.

Wieso können wir nicht mehr klare Worte aussprechen? Was genau hindert Sie daran, eine echte und von Herzen kommende Meinung auszusprechen? Wie lange soll das noch weitergehen in diesem Disneyland-Zeltlager? Würde ein Mensch die Republik durchmessen, wie Herodot etwa oder Pausanias, dann käme ein Bericht heraus, der sich lesen würde wie Gullivers Besuch im Zwergenreich. In Briefen an seine Frau würde jener Reisejournalist bemerken, dass ein schweres Rad der Geschichte über diese Menschen gerollt sein muss, die andauernd „ein bisschen“ sagen, ohne Not, ob Bettler oder Minister.

Tool des neuen Kannibalismus

Und so machen wir es uns gemütlich in der Diktatur des Vielleichts. Man hält in der neuen Gartenlaube „ein bisschen Kontakt“, trinkt ein „bisschen über den Durst“, glaubt „ein bisschen an Gott“ oder sein Gegenteil, geht „ein bisschen auf Distanz“ oder „ein bisschen in sich“ und gibt sich gegenseitig „ein bisschen Recht“. Weil wir eine musische Nation sind, ist der Hang zum Romantischen naheliegend. Nur so sind Hits möglich, wie jener von Roberto Blanco: „Ein bisschen Spaß muss sein, sonst gibt’s keinen Sonnenschein.“

Was tun? Mensch sein. Größe anstreben. Würde bewahren. Das Leben in die Hand nehmen. Wenig Mist verzapfen. Vornehm sein, gerade im Kleinen. Jedesmal, wenn ich mich dabei ertappe, „ein bisschen“ gesagt zu haben, überweise ich mir 50 Euro auf mein Panama-Konto. Entweder bin ich bald ein steinreicher Mann oder einer, den ich mag.

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Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 15. April 2019 - 14:05

Ich mache es gerne.
Muss ich seiner Meinung sein?
Bestimmt nicht, zuallererst, wenn man den Autor fragt.
Sie schreiben "ohne Not", Herr Reiser.
Das sehe ich so nicht.
Das direkte politische Geschäft ist schliesslich in Ihrem Artikel auch nicht konkret die Sache, sondern im Allgemeinen.
Nein Herr Reiser, vielleicht bilde ich es mir nur ein, vielleicht bin ich zu vorsichtig geworden mit zunehmendem Alter, aber am liebsten würde ich für jeden Kommentar eine "Haftpflichtversicherung" abschliessen.
Das politische Klima in Deutschland finde ich entsetzlich, da mögen sich verschiedene an die
eigene Nase fassen.
Deshalb kommentiere ich nur noch hier, auch Dinge, die ich woanders gelesen habe.
Die Wucht, mit der in Deutschland verbal "attackiert" wird, ist nicht mein Ding.
Wir haben keinen Krieg, nach meinem Dafürhalten, aber viele gehen hin.
Ich mag es nicht und wenn ich könnte und es wäre auch nur irgendwo besser, ich wäre weg.
Aber ist es das irgendwo?
"Gehe ich halt ein"

ich dachte, ich hätte es nicht abgeschickt.
Manchmal schreibe ich mir etwas von der Seele, lasse es stehen, verändere es, lasse es vielleicht nocheinmal stehen und lösche.
Meistens schreibe ich so, wie ich denke, dass Kommentare geschrieben werden dürfen.
Hoffentlich irre ich mich nicht.

Denn klare Worte und kontroverse Diskussionen benötigen eine gesunde Streitkultur. Dafür jedoch gibt es in Deutschland keine Tradition, hat es nie gegeben. Sprache wird zunehmend "zahmer", weil man sich scheut, Dinge auszusprechen?
Darüber kann man streiten. Nicht alleine für die sozialen Medien kann solches nicht bestätigt werden.
Stattdessen ist eine zunehmende Verrohung zu beobachten. Nicht alleine in Deutschland, aber bei uns ist man aufgrund unser unrühmlichen Vergangenheit klugerweise sensibler.
Dann gibt es noch die, die die "Political Correctness" auf den Müllhaufen der Geschichte werfen möchten. Die dann aber, selbst Opfer geworden, sofort zum Gericht laufen, und genau diese Correctness für sich selbst einfordern. Oft zu beobachten: Klar und vor allen Dingen laut wird angeklagt! Aber immer den Anderen! Wird man selbst zur Zielscheibe, fühlt man sich mit der N-Keule reduziert oder rennt direkt zum Rechtsanwalt.

faschistoider Müll. Wer solche Kunstbegriffe verteidigt die allein zur Erlangung von Deutungshoheit dienen, die extra legem geschaffen wurden und nur als Ersatz für fehlende Sachargumente dienen, der darf sich auch den Vorhalt gefallen lassen damit nicht auf dem Boden der FDGO zu stehen.
Angemessene Sachverahltsbeschreibungen sind Grundlage eines jeden Diskurses, schön wenn Sie das anders sehen.
Es gibt diese "correctness" schlicht nicht, auch wenn Sie darin ein willkommenes Herrschaftsinstrument, ein Diskursinstrument ist es nicht, sehen wollen.

Finde ich auch liebe Frau Sehrt-Irrek! Ihren Wunsch nach einer "Haftpflichtversicherung" teile ich ebenso des Öfteren;). Was den Krieg und seine Auswüchse an "ehrenrührigen" Verbalattacken wie ich sie altmodisch nenne betrifft, so könnte es sich auch um ein unserer Zeit gemäßes Phänomen handeln? Über die Idee, das es sich bei diesen kriegerischen Auseinandersetzungen um eine Art sprachlichen Guerilla-Kampf um die Meinungs-/Deutungshoheit handeln könnte, fand ich auf Wikipedia den Begriff des "Guerilla-Marketings", womit man mit verschiedenen Taktiken und "markanten Kampfbegriffen" gegenüber dem Kunden Wirkung bzw. Aufmerksamkeit erzielt. Ansonsten habe ich letztens den Aufenthalt auf Gran Canaria sehr genossen! Jenseits jeglicher Sprachkenntnisse meinerseits, war eifriges Gestikulieren, lächeln und sonstig erholsamer Austausch mit meinem Gegenüber angesagt. Kleine Fluchten. Alles Gute! MfG

Ernst-Günther Konrad | Mo., 15. April 2019 - 14:09

Herr Reiser, ob ihres hervorragenden Statements. Sie bilden exakt das ab, was allenthalben überall vorherrscht. Ich sage mal im Ergebnis: "Die haben keinen Arsch in der Hose". Oder wie die Jugend heute gerne vergleichend attestiert: "Die haben keine Eier."
Die Politker sind alle bestrebt, bloß keine ganzen Wahrheiten, bloß niemanden böse, es sei den es sind diejenigen, die Wahres sagen. Habe gerade im Radio FFH gehört, das Gesetz zum EU-Urheberrecht ist durch. Deutschland will es ein bischen durchsetzen, nämlich ohne Uploadfilter. Aha, wer jetzt noch sagt, Sie haben übertrieben Herr Reiser, dem entgegne ich, mitnichten.
AKK macht Politik für die Konservativen - ein bischen- für die Liberalen- ein bischen -für sich selbst -ein bischen- für Merkel- ein bischen- für den Wähler ? Naja, wir wollen es mit dem bischen jetzt aber nicht übertreiben. Es gibt auch etwas, da haben sie ganze Arbeit geleistet. Was? Sie haben ganz das Vertrauen ihres Volkes verspielt und das nicht nur ein bischen.

Danke lieber Herr Konrad! Mir fällt es heute ein bisschen schwer zu kommentieren. Und da bin ich heilfroh über meine lieben Co-Kommentatoren! Wie Sie so richtig übersetzten, sehe ich innerhalb dieser ganzen ein "bisschen Konsens"-Vertreter Keine oder Keinen mehr mit der notwendigen Größe, um das, wie Sie ebenso richtig bemerkten, verspielte Vertrauen in Politik wieder herzustellen. Geschweige denn die Spaltung innerhalb unserer Gesellschaft, ebenfalls ganze Arbeit!, zu überwinden.
"Ganz oder gar nicht!" gibt`s nicht mehr. Mit vollem Panamakonto und verzagten Trippelschrittchen nähert man sich der eigenen Klippe;-) Alles Gute! MfG

Max Müller | Mo., 15. April 2019 - 16:24

Mir hilft es, immer wieder meinen Maßstäb bezüglich klarer Sprache an guten Texten zu kalibrieren. Deshalb schlage ich so gerne die Lutherbibel auf. Was Luther für die deutsche Sprache an Klarheit und Rhythmus geleistet hat, wurde seither kaum übertroffen.
"Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens."

ja Kalibrierung, das täte vielen mal nötig. Sie machen das über die Luther Bibel, warum nicht. Nur wer Kalibrierung sucht muss auch Selbstreflektion kennen und merken, das er aus seiner Mitte ist. Ja, und da fängt das Problem bereits an.

Norbert Heyer | Di., 16. April 2019 - 05:03

Wer von allem ein bisschen fordert oder ausspricht, ist auf den direkten Weg in die politische Korrektheit. Wir haben es uns angewöhnt, klare Ansagen zu vermeiden, wenn es der allgemein verkündeten Grundmeinung widerspricht. Haltung ist angesagt, Zustimmung zur derzeitigen Politik ist Haltung, Ablehnung derselben ist „Nazi“. Über 70 Jahre nach dem Ende dieser Diktatur kann man immer noch mit diesem Begriff Menschen und Meinungen diskriminieren. Da bleibt dann tatsächlich nur die Möglichkeit der Anpassung, vielleicht mit ein bisschen Kritik im Rahmen eines beschränkten Freiraums. Missliebige Meinungen werden - noch nicht - mit Willkür in juristischer Hinsicht bestraft, aber mit Ausgrenzung und beruflichen
Konsequenzen. So wie im Mittelalten der Hofnarr das Ventil für kontrollierte Kritik war, ist heute ein „bisschen“ an festgeschriebene Dogmen zu rütteln, das Ventil für Kritik im noch geduldeten Rahmen. Mit der Akzeptanz von ein „bisschen“
werden wir die Freiheit komplett verlieren.

Wolf-Dieter Hohe | Di., 16. April 2019 - 10:43

@Frau Sehrt Irrek,
Prima Kommentar
Nicht nur mit diesem Ihrem kreativen Satz haben Sie es* = die* derzeitigen gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Punkt gebracht.
(M)ein Problem damit umzugehen ist, dass sehr vieles mit Menschen verknüpftem Tun mit Denken nicht erklärbar ist. Es sei denn man kommt zu dem simplen, "erlösenden" Schluss, dass "der" Mensch eben so ist.
MfG WDH

Walter Rupp | Mi., 17. April 2019 - 06:17

Politik und Rhetorik sind seit Alkibiades und Cicero, und bestimmt auch davor von der Lüge befleckt, die abgeschwächt werden muss, in einem akzeptablen Gewand daherkommen möchte. Es handelt sich um ein schmutziges Geschäft, wie das der Banker, das aber gleichzeitig immer in der Waschtrommel steckt. Sie ist das Bemühen eines Sauhirten, der im Stall arbeiten muss und darauf achtet, dass er die reine Weste vorzeigen kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass uns dieselben Politiker vor den wirklichen Diktatoren bewahren. Andererseits sollte ihnen niemand, bevor er in Urlaub fährt, den Hausschlüssel anvertrauen.