John Bercow: Tief in die parlamentarische Trickkiste gefr
John Bercow: Tief in die parlamentarische Trickkiste gegriffen / picture alliance

Brexit - Order, order!

Damit hat Theresa May wohl nicht gerechnet: John Bercow, der Sprecher des britischen Parlaments, greift tief in die parlamentarische Trickkiste, um eine weitere Abstimmung über den Brexit zu verhindern. Dabei gehört Bercow eigentlich den Konservativen an. Ist er Teil einer stillen Revolte der Remainer?

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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1604 gab es in London eine Premiere. William Shakespeares Drama „Othello“ kam im Whitehall-Palast zur Aufführung. Unweit davon tagte ebenfalls zum ersten Mal das „gesegnete Parlament“ von König James I. Die englischen Abgeordneten gaben sich selbst eine Ordnung. Unter anderem hielten sie eine Konvention fest, nach der das Parlament nicht zum zweiten Mal innerhalb einer Sitzungsperiode über etwas befragt werden kann, wenn es „substantiell“ die gleiche Sache ist, die zuvor bereits abgelehnt worden war.

Die Stunde des Sprechers

415 Jahre später beruft sich nun der Sprecher des britischen Unterhauses, John Bercow, genau auf diese Konvention. Und zwar in der Stunde größter Brexit-Not. Denn die britische Premierministerin Theresa May hatte angekündigt, ihren bereits zwei Mal mit großer Mehrheit durchgefallenen Austrittsvertrag aus der EU noch zum dritten Mal abstimmen lassen zu wollen. Da sie sich weder von ihren Parlamentariern noch von ihren Ministern von diesem Ansinnen abbringen ließ, griff Bercow tief in die parlamentarische Trickkiste, um die Abstimmung zu blockieren. 

Der „Speaker of the House of Commons“, das Äquivalent zum deutschen Bundestagspräsident, ist nicht nur der Träger eines zeremoniell gesehen hohen Amtes. John Bercow legt im Unterhaus die Redeordnung fest, er sucht auch aus, welche Gesetzesänderungsanträge zur Abstimmung gelangen. Seit das Parlament versucht, der Regierung den chaotisch verlaufenden Brexitprozess aus der Hand zu nehmen, nutzt Bercow seine strategisch bedeutende Position weidlich aus. 

Held oder Verräter?

Der ehemalige Konservative – seit er ins Amt berufen wurde, ruht seine Parteimitgliedschaft – hat 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Für seine Fans, die ihm in sozialen Medien wegen seiner humorvollen Interventionen und seiner bunt gemusterten Krawatten huldigen, ist er eine Lichtgestalt. Für seine Kritiker ist er ein Verräter an der konservativen Sache, die darin besteht, das Brexit-Votum vom Juni 2016 umzusetzen und das Vereinigte Königreich aus der EU zu führen. 

Ob John Bercow den Brexit tatsächlich „frustrieren“ will, wie dies im eleganten Englisch ausgedrückt wird, ist nicht bekannt. Sicher aber ist, dass er sich seinen inzwischen legendär gewordenen Ruf „Order, order!“ sehr zu Herzen nimmt und die Regierungschefin davon abhalten möchte, die parlamentarische Ordnung zu missachten.  

Die „Bercow-Bombe“ explodierte am vergangenen Montagnachmittag. Bereits am heutigen Dienstag hatte die britische Regierungschefin ihre Antwort gefunden: Eine dritte Abstimmung über ihren Brexitdeal sei vor dem EU-Gipfel gar nicht nötig, Theresa May fahre jetzt erst einmal nach Brüssel in der Hoffnung, dass die 27 verbleibenden EU-Chefs ihr einen Aufschub des Austritts erlauben. Sie muss um die Verlängerung des Artikels 50 der EU-Verträge ansuchen. Artikel 50 ist die Austrittsklausel. Zwei Jahre nach Auslösung erfolgt automatisch der Austritt – egal, ob es einen mit der EU ausgehandelten und vom britischen Parlament ratifizierten Scheidungsvertrag gibt. Theresa May hatte den Artikel 50 am 29. März 2017 ausgelöst, ohne zu wissen, welchen Brexit ihre Briten eigentlich wollten. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, wissen sie das noch immer nicht. Im Rückblick wirkt Theresa Mays leichtsinniges Vorgehen irrsinnig.

Bleibt es beim Austritt am 29. März?

Gibt ihr die EU Aufschub, was anzunehmen ist, weil die anderen Staatschefs einen geordneten Austritt Großbritanniens zu einem späteren Zeitpunkt einem chaotischen Brexit vorziehen, dann ist der 29. März als „Unabhängigkeitstag“ endgültig vom Tisch. 

Allerdings nicht ohne eine weitere Abstimmung der britischen Parlamentarier. Noch ist der 29. März als Austrittsdatum im britischen Gesetz festgeschrieben. Das muss das Parlament nächste Woche noch ändern. Welches Datum aber wird dann hineingeschrieben? Die Briten sind seit Shakespeares Zeiten großes Drama gewohnt. Sie lieben auch die zutiefst englische Tradition, dass im Parlament nicht nur Meinungen vertreten werden, sondern diese dort erst in heftiger Debatte geformt werden. Dafür aber braucht man Zeit. 

Genau die fehlt jetzt. Bekommt Theresa May nur ein paar Wochen Aufschub, dann wird sie dem Vernehmen nach versuchen, aus Brüssel noch zusätzliche Protokolle zur politischen Erklärung über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU aus Brüssel mitzubringen, Danach, so heißt es, wird May behaupten, dass sich die Lage grundsätzlich geändert habe. Stimmt Bercow dem zu, dann könne ihr Scheidungsvertrag noch einmal nächste Woche zur Abstimmung gebracht werden. Geht er durch, dann tritt Großbritannien nach Ratifizierung des Scheidungsvertrages noch vor den EU-Wahlen am 23. Mai aus. Notfalls erst vor der ersten konstitutionellen Sitzung des EU-Parlaments Anfang Juli.

Neue Chance für Brexit-Gegner

Die Alternative ist für eingefleischte Brexiteers in Theresa Mays eigener Partei der schlimmste Albtraum: Noch einmal bei den EU-Wahlen am 23. Mai antreten und dann in das ungeliebte EU-Parament einziehen zu müssen. Das aber ist die Alternative zu Mays Scheidungsdeal: Erst einmal in der EU bleiben und über 100 Millionen Euro für die Abhaltung der EU-Wahlen ausgeben. Eine längere Verschiebung bis mindestens Ende des Jahres böte die Chance, per Neuwahlen oder neuem Referendum zu definieren, ob und wenn ja, welchen Brexit Großbritannien eigentlich will. Für die Brexiteers stellt dies glatten Verrat dar. Zwanzig Tory-Hardliner haben bereits angekündigt, im Parlament in Stimm-Streik zu gehen. Dann hätte Mays Minderheitsregierung mit oder ohne die nordirischen Abgeordneten von der DUP keine Mehrheit mehr. 

Brexit-Gegner sehen darin allerdings eine demokratische Chance, die Frage jetzt im Hinblick auf realistische Brexitpläne ein für allemal zu klären. Am 23. März werden  die Befürworter eines zweiten Referendums noch einmal alle Proeuropäer aus dem ganzen Land zusammentrommeln, um gemeinsam im Zentrum Londons gegen den Brexit zu demonstrieren. Im Herbst waren zu diesem Zweck über eine halbe Million Menschen auf die Straße gegangen. Das Bercow-Manöver hat den Organisatoren des „People’s Vote“ jedenfalls neue Hoffnung gegeben – wenn das Parlament gar nicht mehr über Theresa Mays Deal abstimmen darf, dann wird eine Volksabstimmung wahrscheinlicher.

Die eigene Regierungschefin ist den meisten inzwischen unheimlich. Dass der „Maybot“, wie sie spöttisch genannt wird, einfach weitermacht trotz der heftigen Ablehnung ihrer Brexitpläne, die ihm aus Parlament und Regierung entgegenschlägt, als sei nichts geschehen, macht selbst einen phantasievollen Autor wie Ian McEwan sprachlos. In der Literatur sei ihm keine Figur bekannt, die mit Theresa May vergleichbar sei, sagt der Schriftsteller Ian McEwan. „So viel Sturheit gibt es selbst bei Shakespeare nicht.“

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gabriele bondzio | Di., 19. März 2019 - 17:48

Die „Bercow-Bombe“ explodierte am vergangenen Montagnachmittag."...damit hatte wohl keiner gerechnet.
Aber gleich hagelte es Einwände:... aus dem 17.Jahrhundert! Aber wenn eine Regel so funktioniert, das sie trotzdem nicht völlig angestaubt daherkommt. Auch für unser Jahrhundert, ihren Zweck erfüllt. Bendet sie die ewige Abstimmerei und das parlamentarische Hirn muss weitersuchen. Vielleicht födert man ja aus dem Fundus, noch mal was Erstaunliches zu Tage!

„ Hoch- und Landesverrat sind niedergeschlagen, die(norwegischen)Eindringlinge vertrieben, aber drei Hexen... und ihre Prophezeihungen geben der Sache einen anderen Verlauf. "Doppelt plagt euch, mengt und mischt! Kessel brodelt, Feuer zischt.“
―William (Shakespeare)...darf´s auch eine Hexe sein, Herr Maier? Ich beerdige die Sache noch nicht!

Ernst-Günther Konrad | Di., 19. März 2019 - 17:52

Das ist aber eine seltsame Aussage der Autorin. Der Speaker wendet die Parlamentsordnung an und kommt seinem gesetzlichen Auftrag nach und entscheidet über seine sonstige Parteilichkeit in seinem jetzigen Amt neutral und rechtskonform. Wir Deutschen haben ja inzwischen ein ambivalnetes Verhältnis zur Geschöftsordnung im BT - siehe Nichtwahl AFD-Bundestagsviziepräsident -. Auch wenn diese Geschäftsordnung aus dem Jahre 1604 stammt, sie hat wohl Gültigkeit und ist deshalb zu beachten. Die Engländer haben sich mehrheitlich zum Austritt entschieden. Artikel 50 tritt nach zwei Jahren in Kraft. Austrittvertrag wurde vom Volk nicht entschieden. Also keinen Vertrag und raus, so wie es GB wünscht. In beneide die Briten für ihren unbedingten Willen, ihre eigenen Gesetze anzuwenden und selbst zu entscheiden, wer ins Land kommt und wer nicht. Die Briten leben Demokratie pur, das ist für Deutschland wohl eine Droge ungestreckt und nicht verdaulich. Dieser Speaker verdient Anerkenung und Respekt.

In der EU ist es inzwischen völlig undenkbar, daß man nach einem Votum nicht nochmals endlos abstimmen kann, wenn das Ergebnis nicht passt (s. Abstimmungen zum EU-Vertrag: wie oft mussten die Iren abstimmen?)

Wilhelm Maier | Mi., 20. März 2019 - 16:43

Antwort auf von Gerhard Heger

Aber nur
„Irland ist das einzige EU-Land in dem die Bevölkerung über den Vertrag abstimmen musste, alle anderen Mitglieder hatten sich für eine Ratifizierung durch die Landesparlamente entschieden.“
http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/69669/eu-referendum-in-ir…
Geht doch einfacher... eine Ratifizierung... durch die Landesparlamente zu entscheiden. Ob es Demokratischer ist? Einfacher und problemloser bestimmt.
Zur Zeit ist Big Ben abgeschaltet und die Glocke schweigt.
Zu ganz besonderen Anlässen könnten die Glocken ausnahmsweise doch noch manchmal läuten.
Das ist nicht zu fassen:
„Es war ein klarer, kalter Tag..., und die Uhren schlugen gerade dreizehn...“
Könnte die Glocke auch 13?
Warten wir ab...

Bercow hätte konsequenterweise schon die zweite Vorlage von Mays Deal ablehnen müssen. So aber vermischen sich willkürliches Handeln und uralte Gesetze. Das Brexit-Referendum war das Ergebnis eines politischen Spielchens, das David Cameron verlor - zuvor hatte er noch mit der EU in der Hoffnung verhandelt, seine Landsleute von der Mitgliedschaft überzeugen zu können. Leute wie Boris Johnson handelten aus plumper Machtgier, in der Hoffnung, als Kopf der Brexit-Bewegung direkt ins Amt des Premierministers wechseln zu können. Brexit-Befürworter haben mit zahlreichen Unwahrheiten gearbeitet, was das Risiko zeigt, ein komplexes Thema in ein Ja/Nein-Referendum zu pressen. Die Briten haben zwar dafür gestimmt, die EU zu verlassen, aber nicht, wie ihre zukünftigen Beziehungen zur EU aussehen sollen. Man kann sicher sein, dass die meisten Briten im gemeinsamen Markt bleiben möchten, sie möchten nur keine politische Union. Bercows Einwand ist keineswegs als pro-Brexit Stellungnahme zu sehen.

Norbert Heyer | Mi., 20. März 2019 - 07:32

In einer alten Demokratie kann man in der Stunde der Not immer noch auf ehemalige Beschlüsse zurückgreifen und sind sie auch aus dem 17. Jahrhundert. Ansonsten bleibt festzuhalten, dass die altehrwürdige Seemacht sich gewaltig verrudert hat. So eine festgefahrene Situation ist kaum noch zu lösen. Wie kam es zu dem Brexit? Liegt die Schuld bei den jungen Wählern, die nicht zahlreich genug für einen Verbleib gestimmt haben, den sie jetzt wohl wünschen? Hat sich aus Sicht der Briten die alles überlagernde Frage der Migration positiv verändert oder ist die Angst vor dem Alleinsein grösser? Die anderen EU-Staaten werden wohl einer Änderung der Austrittsregeln zustimmen, im Brechen von Gesetzen und Regeln hat man ja schon eine gewisse Routine erlangt. Die entscheidende Frage ist: Wie gut kann die Zusammenarbeit mit einem Mitgliedsstaat sein, der erst raus möchte, vielleicht wieder rein möchte und dann doch wieder nichts von beidem möchte, im Hinblick auf die anstehenden Probleme der EU sein?

Heidemarie Heim | Mi., 20. März 2019 - 12:51

Ein letzter Versuch des Eingriffs durch Mr.Speaker das Unheil zu verzögern, bzw. Mrs. Mabots Pokerspiel ein Ende zu bereiten? Und abermals entbrennt eine Diskussion über Sinn und Unsinn bestehender Gesetze? Wie glaubwürdig ist es eigentlich, diese je nach Eigennutz und Gutdünken, mal mehr oder weniger als passend zu erachten? Gerade wir Deutschen haben doch so gesehen keinerlei Berührungsängste mit z.B. einer uralt beschlossenen Steuergesetzgebung zum Vorteil des Staates, sei der Grund dafür auch noch so lange entfallen. "Sektsteuer" für die Flotte, obwohl man angesichts unserer "Gorch Fock" durchaus überlegen könnte;-)…, bis hin zum Soli und seinen Verlängerungen trotz gegenteiliger Versprechen bei der Einführung. Aber zetern sobald andere in ihre Gesetzes-Mottenkiste greifen! Kümmern wir uns um unseren eigenen Kram! In dieser Brexit-Nummer kommt so oder so keiner ungeschoren davon. Geteilte Freud` und nun halt in Bälde geteiltes Leid unter Freunden ist das Motto der Stunde! MfG