Frank-Walter Steinmeier
Was ist Vernunft? Frank-Walter Steinmeier misst sich mit den größten Philosophen / picture alliance

Rede von Steinmeier über Politik und Vernunft - Der Phrasenpräsident

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine ambitionierte Rede über Politik und Vernunft gehalten. Wer sie als Selbstaussage Deutschlands zu seinem Zustand bewertet, muss feststellen: Es sieht nicht gut aus. Von Alexander Kissler

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Soll dieser Satz von einer Amtszeit bleiben? Vielleicht erhoffen sich der Bundespräsident und seine Redenschreiber, dass man einmal sagen wird, Steinmeier sei jener Präsident gewesen, der dazu aufrief, „die Demokratie auch im Futur zu denken“. So formulierte es der Präsident in seiner ambitionierten Berliner Rede am 5. März unter dem Titel „Geht der Demokratie die Vernunft aus?“. Steinmeier sagte laut Manuskript weiterhin, „mit dem Verlust der Offenheit“ verliere „eine Gesellschaft auch den Blick für die Wirklichkeit.“ Es war eine interessante Rede aus starkem Bewusstsein, schwachen Thesen, historischen wie logischen Widersprüchen und fortlaufender Sprachunrichtigkeit. Es ist die beste derzeit verfügbare Selbstaussage Deutschlands im Jahre 2019.

Kann man etwas im Futur denken?

Frank-Walter Steinmeier zeigte sich von der Zukunft beseelt und von der Gegenwart bedrückt. Dem Morgen und Übermorgen und damit dem schlechthin Unbestimmbaren zeigte er sich verschworen. Gegenwart und Vergangenheit stießen auf präsidiale Großskepsis. Doch kann man etwas „im Futur denken“? Kann man tun, was man zu tun beabsichtigt? Nur in jenem Reich der Träume, das Steinmeier, der als realitätsfester Politikmanager auftrat, gerade vermeiden wollte. Und inwiefern bedarf es der fast ebenso konturschwachen „Offenheit“ – gegenüber dem Fremden zum Beispiel –, um realistische Erfahrungen zu machen, realistische Einschätzungen abgeben zu können? Auch im „geschlossenen Handelsstaat“, wie ihn der Philosoph Johann Gottlieb Fichte einst skizzierte, hätte es einen „Blick für die Wirklichkeit“ gegeben. Ebenso im Feudalismus mit seinen zahlreichen voneinander abgegrenzten Fürstentümern. Und der DDR kann man vieles nachsagen, aber gewiss nicht, dass ihre Bürger alles Wirkliche nur durch die idealistische Brille sahen. Da ist der Sinn verrutscht.

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Petra Führmann | Do., 7. März 2019 - 13:18

der Hammer, Herr Kissler! Wenn ich das mal so salopp sagen darf.
Die beschrieben Rede.. ich tue sie mir nicht an, denn es sind, wie Sie richtig konstatieren, nichts als Phrasen. Die allerdings finden ja nicht nur in solchen Reden statt, sondern in sehr vielen Äußerungen aus Berlin. Und die Sache mit dem grassierenden Verlust der Vernunft.. meine erste Reaktion war: Ach, hat man in Berlin endlich mal in den Spiegel gesehen? Da ist sie so gut wie nicht vorhanden. Und wenn doch in Ausnahmefällen, dann erfolgt sogleich Gegenwind, und es wird zurückgenommen. Lobbyismus und Bedenkenträger, Neider, Faule.. das ist mein Eindruck vom Politikbetrieb. In großen Teilen der Bevölkerung und bei wenigen Autoren, von denen Sie und auch andere beim Cicero, bei der Welt (Robin Alexander z. B.) einer der wichtigsten sind, finde ich sogar sehr viel Vernunft, sie wird von den Zuständigen in Berlin aber nicht angenommen; vermutlich lesen die nicht mal in den Medien.

Heidemarie Heim | Do., 7. März 2019 - 14:18

Habe die Rede unseres Präsidenten zwar nicht verfolgt, aber allein die von Herr Kissler so vortrefflich getätigte Übersetzung einzelner, der darin verwendeten Idiome stellt meinen Verstand grenzwertig auf die Probe;-).Ist das die neue Art der Bürgeransprache? Wie soll ich bei festgestellt "grassierendem Verlust an Vernunft" future denken, wenn in der Gegenwart 1000 offene Fragen noch immer im Raum stehen? Wenn die Regierung es da im besten Sinne an Offenheit missen lässt, braucht man sich eigentlich nicht wundern wenn Bürger nach dem Motto "Besser eine einfache als keine Antwort" handeln. In den fast schon imperativen Appellen an die Vernunft sowie die ständige Forderung nach mehr Offenheit während man selbst im Trüben verharrt, versucht man letztendlich das, was man den Anderen als Manipulation vorwirft. Wie auch der Beitrag hier aufzeigt,ist es vielleicht besser die Adressaten solcher Ansprachen unterlassen es ihre Vernunft walten zu lassen.Dies schützt evtl.vor Gehirnspasmen. MfG

Elisabeth Ellermann | Do., 7. März 2019 - 14:29

Es ist ja ein sehr redlicher Versuch von Herrn Kissler, die Rede Steinmeiers auf Sprachunrichtigkeiten und ihren Gehalt hin zu untersuchen, ich glaube nur, er ist im Ansatz schon zum Scheitern verurteilt. Es geht wie so oft nicht mehr um Inhalte, es geht wie immer nur um "Haltung". Das ist keine Rede eines Politikers sondern die Predigt eines Pastors (ist sein Redenschreiber vielleicht derselbe wie der der Pastorentochter?). Worte wie "Offenheit" versus "Abschottung" stehen längst nicht mehr für ihren eigentlichen Wortsinn, sie haben den Rang eines parteipolitischen Kampfbegriffs und werden auch allein zu diesem Ziel verwendet. Linguistische Analyse zwecklos.

Dorothee Sehrt-Irrek | Do., 7. März 2019 - 14:33

die Rede des Bundespräsidenten ist ambitioniert, ich überlege nur, ob man die Zukunft nicht auch aus der Vergangenheit heraus verfehlen kann.
Trifft Steinmeiers Zeitdiagnose zu?
Beschreibt er die Nazis richtig?
Rückwärtsgewandtheit, Mystizismus, Führerapotheose, ich denke doch.
Aber das gilt nur für den Hardcorebereich.
Die große Masse war froh, dass gehandelt wurde und wandte sich später mit Schrecken ab.
Wenn ich also etwas an der Rede bemängeln würde, dann, dass Steinmeier seine Zunft zuwenig betrachtet, zu wenig kritisch vor allem.
Die Menschen möchten, dass Politik Antworten gibt, nicht nur die evtl. richtigen Fragen stellt.
Politik muss aufpassen, dass Menschen nicht irgendwann den wählen, der etwas beendet, gleichwie -> Krieg und sei es ein humanitärer.
Nur weil sich Hitler vergöttlichte, taten das doch die Wenigsten seiner Zeit, eher noch Propagandaapparate.
Wenn Politik in der Realität, an ihr scheitert, scheltet nicht die Wähler.
Ihr tragt Verantwortung

Differenzieren, abwägen, usw., besonders wenn es um Sozialdemokraten, Grüne oder andere Politikschaffende links der Mitte geht, ist nicht unbedingt Herrn Dr. Kisslers bevorzugtes Hobby.

Das jedenfalls könnte man (fast) meinen, wenn man seine Texte regelmässig verfolgt.

Insofern kann auch dieser Kommentar nicht überraschen.

Jürgen Keil | Fr., 8. März 2019 - 13:08

Antwort auf von Gerhard Lenz

Ja Herr Lenz, es gibt tatsächlich noch Journalisten, die sich nicht den Regierenden als Claqueure andienen und die nicht nur die bösen Rechten, braunen Sachsen und AFD- Wähler diskreditieren. Das ist gut so. Kritik von diesen Journalisten an Sozialdemokraten, Grünen und rot-grünen Schwarzen ist erlaubt. Die tragen ja für die meisten unserer heutigen Probleme auch viel Verantwortung. Natürlich muss man differenzieren, abwägen usw.. Die SPD aber auch! Gestern las ich auf Vorwärts- online ein Lob für eine "Replik" die Herr Schulz als Gastbeitrag SPON gegeben hatte. Neugierig geworden las ich diese. Nichts Neues! Menschen, die die EU kritisieren, die andere Meinungen zu ihr haben werden als Hetzer und Spalter bezeichnet, die Europa (wieso eigentlich Europa?) angreifen und in eine dunkle Vergangenheit ziehen wollen. Differenzierung vom gescheiterten Vorsitzenden? Fehlanzeige. Lob aber für Macron, der die Geduld mit den Deutschen verlöre. Wenn die mal nur nicht die Gelbwesten verlieren.

Stefan Jurisch | Do., 7. März 2019 - 14:54

die Abiturienten mit den geschönten Deutschnoten nun als Redenschreiber im Dienste unserer Oberen angelangt. Dann wird er bestimmt in Zukunft noch einige mehr dieser abstrusen Reden geschrieben bekommen haben. (Doppeltes Futur II)

Gisela Fimiani | Do., 7. März 2019 - 16:20

Erschreckend ist vor Allem, dass nach einer solchen Rede niemand lautstark feststellt, dass der Kaiser nackt ist. Dass „Vernunft“ eingefordert wird, wo es an Verstand mangelt. Dass von Demokratie die Rede ist und man den Despotismus der paternalistischen Regierung meint, anstatt die res publica des freien mündigen Bürgers. Die Rede zeichnet sich durch Denkschwäche- und Verweigerung aus, aber offenbar durch gelungenes „framing“, denn die Kritik hält sich sehr in Grenzen. Danke, Herr Kissler, dass ich Ihre treffliche Kritik lesen kann.

helmut armbruster | Do., 7. März 2019 - 16:51

Das Amt unseres Bundespräsidenten ist das höchste im Staat und gleichzeitig ein Witz.
Der höchste Mann im Staat darf sich nicht in die Politik einmischen, keine Richtlinien vorgeben, keine Gesetze erlassen.
Für ein paar Sachen braucht man seine Unterschrift. Aber das ist nur eine Formalität.
Ich finde, wenn man nur eine Galionsfigur haben wollte als BP hätte eine Statue mit einem Unterschriftsstempel auch genügt.
Sie wäre zudem viel billiger.
Armer BP ohne jede Macht.

Bernd Muhlack | Do., 7. März 2019 - 16:52

Herr Steinmeier und das Futur 2: er wird alsbald Bundespräsident gewesen sein!
Und zwar einer der Schlechteren. OK, nach Friedrich von Weizsäcker war die Messlatte, Sprunghöhe quasi unerreichbar, exorbitant, nicht wahr?
Roman Herzog war auch gut und Horst Köhler bewies ob seines Rücktritts Charakter!

Zitat: Steinmeier sagte laut Manuskript weiterhin, „mit dem Verlust der Offenheit“ verliere „eine Gesellschaft auch den Blick für die Wirklichkeit.“ Zitat Ende
Was will uns Herr Steinmeier damit predigen, verkünden?
Ich beziehe das einmal auf den Herbst 2015, also die in der Tat offenen Grenzen, jedoch nur für Schengenbürger!!!
Andersrum wird doch ein Schuh daraus! Wer die Wirklichkeit verkennt, diese sich schön und faktisch alternativlos redet, der hat auch ein falsches Verständnis von Offenheit. Offenheit, Freiheit sowie Toleranz basieren denknotwendig aufeinander und es bedarf einer homogenen Gesellschaft zur praktikablen Umsetzung.
FUTUR 1: D wird alsbald fertig haben!

Eric Runkel | Do., 7. März 2019 - 17:31

Lieber Herr Kissler,
Sie haben ja Recht. Aber nörgeln nur um des Nörgelns Willen ist normalerweise nicht Ihr Stil. Es ist tröstlich, dass Sie sonst besser sind.
Gruß Eric Runkel

Lisa Werle | Do., 7. März 2019 - 19:34

... ist ohne Zweifel Herr Steinmeier. An seiner Seite Königin Merkel. Ich konnte schon bislang beider Phrasen-Schwurbelei kaum zuhören. Und nun geht das noch viel weniger - und das ist vermutlich auf meinen inzwischen 'geschärften Verstand' durch das Lesen des Buches von Alexander Kissler zurückzuführen ('Widerworte'). Kaufen, es lohnt sich!! Respekt, Herr Kissler :)
Wenn Steinmeier nun auch noch vom 'Verlust der Vernunft' schwafelt, dann wäre unbedingt ein Blick in den Spiegel anzuraten. Ich nehme an, so etwas gibt es auch in Schloss Bellevue.

Hubert Sieweke | Do., 7. März 2019 - 20:40

dass die zwangsläufig gewählten Parteipolitiker mittlerweile beliebig und einföltig sind. Nie und nimmer wäre dieser Mann gegen zehn oder zwanzig intelligente und auch ökonomisch denkenden Köpfe gewählt worden. Leuten wie ihm, der als Taschenträger Schröders begann, fielen die Ämter in den Schoß, weil sie irgendwie der Partei angehörten und es dem Konsens geschuldet war. Schauen sie sich Maas oder AKK aus dem kleinen Saarland an, oder den MP aus SH, oder- meine Güte - den Gnom aus Oche, alles Typen, die jeder übersehen hätte, wären Konkurrenten da gewesen.
Als Zuschläger Gerhards mag er noch erfolgreich gewesen sein, aber bereits seine Karriere in Schröders Schatten ging voll in die Hose.
Sein Kampf um den Vorsitz der Fraktion war peinlich, wollte er doch sofort mehr Gehalt und unterlag rethorisch sogar dem damaligen Parteichef Siggi, und das will was heißen. Nie wäre er von den Menschen in dieses Amt gewählt worden. Er war reif für die EU, dem Gnadenbrothafen der "Eliten".

Hans-Jürgen Stellbrink | Do., 7. März 2019 - 20:45

Diese gedanklichen Schlampereien, diese diffusen emotionalen Bilder zur Beschwörung eines Gesellschaftsbildes, das nicht mehr mit der Realität in Deckung zu bringen ist. Eine präzise Analyse sieht anders aus. Steinmeier fordert hier nicht Vernunft, sondern Gefolgschaft. Wie könnte er auch, gehört er doch einer Partei an, die sich nach Kräften bemüht, den Leuten das Nachdenken abzugewöhnen.