
- „Wer von offenen Grenzen träumt, wird damit nicht viel anfangen können“
Mit dem UN-Migrationspakt haben sich rund 190 Staaten auf 23 gemeinsame Ziele für eine weltweite Migrationspolitik geeinigt. Nicht nur in Deutschland stößt das Abkommen auf Widerstand. Wird damit der ungebremsten Zuwanderung nach Europa Tür und Tor geöffnet? Ein Staatsrechtler gibt Antworten
Dr. Roman Lehner ist Habilitand am Lehrstuhl von Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Christine Langenfeld an der Universität Göttingen und beschäftigt sich vor allem mit Migrations- und Flüchtlingsrecht.
Herr Dr. Lehner, mit dem UN-Migrationspakt haben sich fast alle Staaten der Welt auf ein gemeinsames Abkommen über Migration geeinigt. Was genau regelt dieser Pakt?
Zum ersten Mal wird hier das Thema Migration in einem sehr umfassenden Sinn in einer internationalen Verabredung aufgegriffen – also nicht nur der enge Bereich des Flüchtlingsschutzes, der ja völkerrechtlich bereits durch die Genfer Flüchtlingskonvention geregelt ist, sondern auch die normale Migration. Dabei werden viele verschiedene Aspekte des Migrationsgeschehens angesprochen, der Kampf gegen den Menschenhandel ebenso wie die Sicherung der sozialen Rechte von Migranten. Die Staaten haben erkannt, dass es wichtig ist, die internationale Zusammenarbeit zu stärken, um die Migrationsströme zu steuern, aber auch zu reduzieren.
Zu reduzieren?
Durchaus. An vielen Stellen wird zum Beispiel die Bekämpfung der Ursachen von Migration angesprochen. Das betrifft Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, aber auch eben solche, die vor Armut oder Naturkatastrophen fliehen, was durch die Klimaerwärmung wahrscheinlich künftig eine viel größere Rolle spielen wird. Im Übrigen wird auch die Notwendigkeit thematisiert, im Bereich der Rückkehrmigration zusammenzuarbeiten.
Die EU scheitert seit Jahren daran, Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen – wie kann es sein, dass die Vereinten Nationen bei Migration zu einem so breiten Konsens kommen?
Das hängt wohl damit zusammen, dass sich aus dem Abkommen für den Einzelfall keine konkreten Anleitungen ableiten lassen. Wenn zum Beispiel von Staatensolidarität, also letztlich fairer Lastenverteilung gesprochen wird, dann ist das ein sehr unbestimmter Begriff, den jeder Staat anders verstehen wird. Italien wird eine andere Vorstellung davon haben als Deutschland – und Deutschland wieder eine andere als Polen. Das liegt in der Natur der Sache. Letztlich wird es vom konkreten Willen aller Staaten abhängen, was man daraus ableiten kann.
Der Widerstand ist trotzdem ziemlich groß – warum?
Na ja, das hat natürlich mit der allgemeinen politischen Stimmungslage zu tun. Alles, was nach „mehr Migration“ klingt, löst Ängste und Sorgen aus, das kann man auch verstehen. Der Vertrag scheint zu einer Art Projektionsfläche geworden sein. Aber wie gesagt, wenn man sich die Dokumente genau anschaut, kann man daraus eigentlich nichts Verpflichtendes für die einzelnen Staaten ableiten.
Ungarn und die USA haben bereits angekündigt, sich nicht am UN-Migrationspakt zu beteiligen. Was sind denn die größten Kritikpunkte?
Offenbar bestehen Befürchtungen, dass sich aus dem Pakt Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen oder Migranten ergeben würden. Begründet ist diese Befürchtung aber nicht.
Was sagen Sie zu der Unterstellung, der Vertrag sei die Vorstufe von Migration als einem universellen Menschenrecht?
Da findet sich eigentlich kein Hinweis darauf. Es werden natürlich die internationalen Menschenrechte angesprochen, aber die haben Geltung ganz unabhängig davon, ob jetzt dieser Pakt unterschrieben wird oder nicht. Wer von offenen Grenzen träumt, der wird mit diesem Dokument nicht so viel anfangen können, weil es auch über Grenzkontrollen spricht, über nationale Souveränität und über Rückkehrpolitik.
Inwieweit ist die Unterzeichnung des Abkommens mit der Abgabe von nationaler Souveränität verbunden?
Man muss generell sagen, dass dieser Pakt rechtlich nicht bindend sein wird. An vielen Stellen wird sehr deutlich klargestellt, dass es sich hier nur um politische Absichtserklärungen handelt - was die politische Bedeutung nicht mindert, aber wichtig ist, um sich zu vergegenwärtigen, dass die migrationsrechtliche Souveränität der Staaten in keiner Weise eingeschränkt wird. Deutschland bleibt in Migrationsfragen, vom Recht der EU mal abgesehen, weiter Herr im Haus.
Handelt es sich also um reine Symbolpolitik?
Diese Frage wird man sich wohl immer stellen müssen, wenn etwas rechtlich nicht bindend ist. Im Grunde handelt es sich einfach um viele politische Bausteine, die einen Common Sense für die politische Zusammenarbeit in der Zukunft abbilden. Da sie sehr detailliert sind, ist das Abkommen schon mehr als ein bloßes Symbol.
Aber ist Deutschland nicht trotzdem angehalten, dieses Richtlinien oder Empfehlungen in seine nationale Politik umzusetzen?
Der Vertrag sagt ausdrücklich, dass es sich um ein nicht bindendes Instrument handelt, also eher um eine Art Selbstverpflichtungserklärung. Nichts, was im Vertrag genannt wird, und sei es noch so konkret, ist einklagbar und es bedeutet auch keinen Rechtsverstoß, wenn die Staaten sich nicht daran halten. Hinzu kommt, dass jeder Staat selber entscheiden soll, wie er die Ziele verfolgt. Das heißt, man einigt sich eigentlich nur auf gemeinsame Ziele, und was daraus abzuleiten ist, das entscheidet im Grund jeder Staat selbst.
Das heißt: Man kann aus dem Vertrag nicht entnehmen, wie eine Umsetzung in Deutschland aussehen wird?
Nein, das kann man nicht. Aber es gibt sicherlich Punkte, die die deutsche Debatte beeinflussen werden, wie zum Beispiel der Zugang zum Arbeitsmarkt. Im Vertrag wird betont, dass es wichtig wäre, den Schutzsuchenden noch während Ihres Aufnahmeverfahrens den Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Wer bei uns Asyl beantragt, aber aus einem sicheren Herkunftsland wie einem Westbalkanstaat kommt, der hat während des ganzen Asylverfahrens keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, weil praktisch keine Bleibeperspektive besteht. Ich würde fast wetten, dass es Stimmen geben wird, die nach Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes sagen werden, das sei nun völkerrechtswidrig. Das wäre natürlich juristisch völlig abwegig, weil das Abkommen rechtlich nicht bindend und auch nicht hinreichend konkret ist.
Die Baseler Zeitung schreibt, dass die Migranten von Anfang an Zugang zum Sozialsystem und zur Gesundheitsversorgung haben sollen. Stimmt das?
Das bezieht sich auf Ziel 15 des Paktes. Allerdings geht es hier nur um die Sicherung des Existenzminimums, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Gedanke elementarer Sicherung ist aus deutscher Sicht aber natürlich auch nicht spektakulär und ergibt sich bereits aus Artikel 1 des Grundgesetzes. Wer sich in einem Asylverfahren befindet, bekommt heute schon Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und partizipiert am staatlichen Gesundheitssystem.
Aber es geht ja jetzt nicht nur um Asylbewerber, es geht ja auch um „normale“ Migranten?
Auch für diese gilt Artikel 1 des Grundgesetzes. Hieraus folgt natürlich kein Recht auf Zuwanderung in ein Sozialsystem, wohl aber das Recht auf Mindestsicherung während des Aufenthalts in Deutschland – auch, wenn es sich um einen illegalen Aufenthalt handelt. Eine Besonderheit gilt für EU-Ausländer, denn diese sind gesetzlich und auch kraft Europarechts von einem Zugang zu Sozialleistungen ausgeschlossen, wenn sie etwa allein zum Zweck der Arbeitssuche einreisen. Der UN-Pakt kann diese verbindlichen Vorgaben meines Erachtens nicht überspielen.
Geht es in dem Pakt darum, Ein-und Auswanderung generell zu erleichtern?
Ja, das kann man schon sagen. Ein Ziel zum Beispiel ist, dass legale Migrationsrouten ausgebaut werden sollen, und das soll natürlich der Migrationserleichterung dienen. Das Dokument ist im Zeichen der europäischen Flüchtlingskrise entstanden, weshalb an mehreren Stellen angesprochen wird, dass auch darum gehen muss, Leben zu retten. Legale Migrationsrouten sollen ein Gegenstück darstellen zu der faktischen Situation, wo eben Menschen unter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer kommen. Aber auch da werden keine rechtliche Verpflichtung begründet oder gar Zahlen vorgegeben.
Wo wir gerade bei Fluchtrouten sind: In Zielvorstellung 8 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten dazu, nicht nur Such-und Rettungsaktivitäten auszubauen, sondern auch humanitäre Hilfe für Migranten nicht mehr als rechtswidrig zu qualifizieren. Wird dadurch nicht indirekt illegale Migration begünstigt?
Das kann man in der Tat kritisch sehen, allerdings wird die Formulierung verwendet, wonach es nur um „ausschließlich“ humanitäre Hilfe geht. Das betrifft die Fälle, in denen Menschen aus Seenot gerettet werden, aber sicherlich nicht solche, in denen sie mehr oder weniger direkt von den Flüchtlingsbooten übernommen werden. Solche kleinen Formulierungsdetails sind wichtig, weil sie Differenzierungen ermöglichen und somit den Staaten politische Freiräume belassen. Man darf ja bei alledem nicht vergessen: Enthielte der Pakt an dieser Stelle oder auch an anderer weitgehende, konkrete und verbindliche Vorgaben, hätten wohl kaum rund 190 Staaten die Unterzeichnung in Aussicht gestellt.
Im Vertrag ist die Rede von der Bekämpfung von Intoleranz gegenüber Migranten und von der Förderung eines Diskurses, „der zu einer realistischeren, humaneren und konstruktiveren Wahrnehmung von Migration führt.“ Das soll bis zur Streichung von Fördermitteln gehen. Bedeutet das, dass der Vertrag die Unterzeichnerstaaten dazu anhält, Kritik an Migration zu unterbinden?
In der Tat ist das ein Punkt, wo man in einer freiheitlichen Gesellschaft ein bisschen ein Unwohlgefühl bekommt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist aber klar, dass das Recht auf Meinungsfreiheit weiterhin gilt. Dem Pakt lässt sich nicht entnehmen, dass der Diskurs nun in irgendeiner unzulässigen Weise eingeschränkt werden dürfte. Öffentliche Förderung der Medien ist etwas, was in Deutschland sowieso eher unüblich ist. Wir haben ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem und darüber hinaus haben wir ja sowieso keine Subventionen an irgendwelche Medienhäuser.
Unter anderem verpflichten sich die Staaten dazu, Hassstraftaten gegen Migranten unter Strafe zu stellen. Was ist denn nach deutschem Recht unter Hassstraftaten zu verstehen?
Volksverhetzung zum Beispiel. Der Begriff „hate crime“ kommt aus dem angelsächsischen Raum, vor allem aus den USA und zielt in erster Linie auf Delikte, die wir oftmals als Volksverhetzung auffassen würden, wie zum Beispiel öffentliche Hetze gegen bestimmte ethnische Gruppen. Das ist bei uns jetzt schon strafbar.
Das heißt, es müsste auch kein neuer Straftatbestand geschaffen werden, um eine solche Zielvorstellung umzusetzen?
Nein, nein, auf keinen Fall. An diesem Punkt kann man ganz schön verdeutlichen, was es bedeutet, dass jeder Staat selber entscheiden soll, wie er diese Zielvorstellungen umsetzt: In Deutschland könnten wir eben sagen: Wir haben bereits einen Straftatbestand, der diese „hate crimes“ abdeckt, insofern haben wir diese Zielvorstellung schon wunderbar verwirklicht. Aber es mag andere Staaten geben, wo das eben nicht der Fall ist, wo Hetze gegen bestimmte ethnische an der Tagesordnung steht, vielleicht sogar durch staatliche Funktionsträger mitbetrieben wird. Da mag diese Regelung eine Innovation sein.
Muss der Bundestag der Unterzeichnung zustimmen?
Das muss er streng genommen nicht, weil es sich um ein sogenanntes „non-binding agreement“ handelt. Das kann man wegen der politischen Bedeutung aber auch anders sehen. Meines Erachtens zeigt schon die öffentliche Debatte, die ja gerade erst beginnt, dass es sich um ein Politikum handelt. Ob verfassungsrechtlich geboten oder nicht, sinnvoll wäre eine Befassung des Bundestages schon.
Welche Schwächen hat der Vertrag?
Nun, es fehlt wohl so etwas wie eine Positionierung: Soll der Vertrag zu mehr Migration führen, oder zu weniger Migration? Das Dokument liest sich wie eine Auflistung von allen Themen, die irgendwie im Migrationsbereich relevant sind, aber es fehlt ein bisschen der Schwerpunkt. Das ist andererseits aber auch die Stärke des Paktes, weil er in dieser Gretchenfrage offen bleibt. Deshalb müssten sich eigentlich Migrationsbefürworter wie Migrationskritiker zumindest prinzipiell dahinter stellen können.