Das Kunstwerk „Descent Into Limbo“ (dt. „Abstieg in die Vorhölle“) des Künstlers Anish Kapoor im Serralves Museum. Ein Museumsbesucher ist buchstäblich in das Kunstwerk hineingefallen. Der Italiener habe das etwa 2,5 Meter tiefe Erdloch für eine optische Täuschung gehalten und wohl gedacht, es handele sich um einen aufgemalten Kreis, wie die Zeitung «Público» berichtete.
Ein Besucher stürzte 2,4m tief in das Kunstwerk hinein / picture alliance

Kunstmarkt - Der Sprung ins Nichts

Ein Museumsbesucher stürzt in Portugal in das Kunstwerk „Descent into Limbo“ des Turnerpreisträgers Anish Kapoor. Ist das Kunst? Von Sabine Bergk

Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Ein Mann fällt in ein Kunstwerk. Er fällt 2 Meter 40 tief und muss nach einem Bericht der Times ins Krankenhaus gebracht werden. Das ist schmerzhaft, aber es ist Kunst. Der italienische Museumsbesucher im Serralves Museum in Porto hat mit seiner Neugier und seinem Übermut genau das geschafft, was Kunst ausmacht. Er hat jedoch auch als Rezipient perfekt mitgespielt und die Täuschung als wahr erachtet. Natürlich ist ein Sturz unangenehm und schmerzhaft. Kunst muss aber aufrütteln und ein Stachel in der Gesellschaft sein. Bezeichnend ist, dass um das Kunstwerk herum zahlreiche Schilder aufgestellt waren. Es gab sogar ein eigens für die Installation engagiertes Sicherheitspersonal. Der Besucher war in diesem Fall stärker als das Kunstwerk.

Vielleicht hat dieser Mann mit seinem Sturz die Kunst selbst gerettet. Immerhin hat er sich dem Nichts kopfüber ausgesetzt. Dieser Prozess, der jeden Anfang eines Kunstwerks ausmacht und der wohl am härtesten auszuhalten ist, verflacht immer mehr. Die leere Seite, die weiße Leinwand, der blanke Marmorblock – schmerzen nicht mehr. Der Computer nimmt dem Denk- und Inspirationsvorgang zu viele Hindernisse ab. Damit wird der künstlerische Vorgang angenehmer, einfacher und auch schneller. Das verflacht das Kunstwerk. Es ist spürbar, ob ein Ringen um die Form stattgefunden hat, ob sich der Schaffende daran zerrieben hat. Auch die Zeit, die mit einem Werk verbracht wurde, ist wahrnehmbar. In Zeiten der Computerkunst geht diese Spürbarkeit verloren. Die Kunst selbst mag konzeptionell gut gedacht sein, sie ist jedoch nicht mehr mit dem Körper verbunden. Diese Verbindung ist durch den Fall des Mannes in das Kunstwerk wiederhergestellt worden. Ein wunderbarer Vorgang, wir müssten diesem Mann danken. 

Lebendiger Mythos

Dieser Fall ins schwarze Loch, den Anish Kapoor  erschütternder Weise als eine Schande bezeichnet haben soll, ist eine herrliche Überraschung. Mit seinem Sturz reißt ein Vorübereilender alle großen Fragen wieder auf: Wer sind wir und wohin gehen wir, gibt es etwas hinter dem Nichts? Ein Besucher wird hier zu einer Art Parsifal einer fest gefahrenen Konzeptkunstwelt. Er schenkt dem Kunstwerk, das mit Sicherheitspersonal bestückt war, die fehlende Unberechenbarkeit zurück.

Der Kunstmarkt ist, vom Geld überschwemmt, zu berechenbar geworden. Viele Künstler, die ihren Stil gefunden haben, bleiben lebenslang auf einer bequemen Schiene sitzen. Sie werden zu Fabrikarbeitern des Marktes und sind nur noch marginal schöpferisch tätig. Bevor sie die Leinwand füllen, ist schon klar, in welche Richtung sich ihr Werk bewegt. Sie schaffen damit nur noch narzisstische Variationen ihrer selbst, die zwar perfekt aussehen, aber im Grunde genommen nicht mehr interessant sind. Es sind Schattierungen, keine Neuschöpfungen. Orpheus schattiert nicht, er steigt in die Schatten hinab. In der Dunkelheit und nur dort, schöpft er Neues. Das Kunstwerk „Descent into Limbo“ heißt nicht nur übersetzt „Abstieg in die Vorhölle beziehungsweise Unterwelt“, es hat genau diesen Mythos lebendig werden lassen – sogar soweit, dass es einen Mann als Erfüllungsgehilfen in den Bann gezogen hat. Das Kunstwerk selbst ist damit schöpferisch tätig geworden. Das ist einzigartig.

Der Notschrei der Kunst

Der fallende Mann hat mit seinem Körper die kalte Kunstwelt wieder etwas angewärmt. Er hat der Kunst den Notschrei zurückgegeben, den der Komponist Arnold Schönberg in seiner Kunstdefinition zentral an den Anfang stellte. Oder hat sich das Kunstwerk selbst diesen Notschrei zurückgeholt, übermüdet von all den Computerwerken, Börsenspekulanten und Sicherheitsbeamten? 4.33 nannte John Cage ein berühmtes leeres Musikstück. Diese 2 Meter 40 könnten neben 4.33 bestehen. 

Mit diesem Beitrag endet die Kolumne „Morgens um halb sechs“. Die Autorin ist Cicero dankbar, dass sie ihre Gedankenspaziergänge über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr mitteilen konnte. Nun aber ist es Zeit, sich wieder ins Unbekannte zu stürzen und neue Herausforderungen anzugehen.

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Dorothee Sehrt-Irrek | So., 26. August 2018 - 16:10

dieser Betrachtungen über Kunst, aber ich freue mich, dass ich sie lesen konnte, wie auch die anderen Überlegungen der Autorin.
Vielen Dank und alles Gute für den weiteren Weg.

Wilhelm Maier | So., 26. August 2018 - 16:28

„Die Kunst selbst mag konzeptionell gut gedacht sein, sie ist jedoch nicht mehr mit dem Körper verbunden.“ so ist es leider zur Zeit.
„Die leere Seite, die weiße Leinwand, der blanke Marmorblock – schmerzen nicht mehr"...
Was schmerzt, ist die leere Seele...
Die Schwarze Löcher ziehen an...
Es ist spürbar...
Überall...
Wo ist das nächste Schwarze Loch?:
es steht in den Sternen...
Ein Geheimnis bleibt vorerst, wie die Sterne in den Einflussbereich des Schwarzen Lochs geraten sind: https://www.planet-wissen.de/technik/weltraumforschung/astronomie/pwies…
Danke Frau Bergk für Sonntagsandacht.
Alles Gute.

Dorothee Sehrt-Irrek | So., 26. August 2018 - 16:38

finde ich dieses Kunstwerk "hinterhältig", wenn es nicht ausreichend gesichert war, denn es gibt nicht Nichts.
Der Mann hätte sich das Genick brechen können.

Liebe Frau Sehrt-Irrek, ein Kunstwerk ist nicht "gut" oder "böse", also auch nicht "hinterhältig". Ein Kunstwerk "ist" - und sonst gar nichts. Der Vorwurf kann also weder an das Kunstwerk noch an den Künstler gehen. Für die Gefahr des Genickbruchs, bzw. die Abwendung desselben wäre m.E. das Museum/der Aussteller zuständig und verantwortlich.

Das Kunstwerk spielt evtl. mit Sein oder Nicht-Sein im Zusammenhang mit einem Loch. Fester Boden umschliesst eine Nicht-Mehr an festem Boden, eben das Loch und verleiht dadurch dem Loch den Schein von Existenz. Das Loch ist aber nicht. Es ist ein Nicht-Mehr an Materie oder etwas, in das ich hineinfallenkann.
Es steht und fällt mit der Materie um es herum und also auch der Materie weiter unter, die ich nicht sehen kann.
Ist es ein schwarzes Loch, das uns anzuziehen vermag?
Nur, wenn uns unsere Sinne täuschen.
Wenn schwarze Löcher vor allem daraus bestehen, nicht mehr zu sein, wäre das eine mich teils auch erschreckenden Erkenntnis, denn ich glaube an das ewige, sprich vereinigte Leben.
Die Nichtexistenz ist Nicht-Mehr. Wie kann so etwas existieren? Sie können aber beruhigen, wenn man bis zu sich selbst zurückgehen kann.
Ist das dann Kunstwerk oder Philosophie?
Das Museum muss seine Besucher schützen.
Schwarze Löcher könnten ein Irrweg des Nicht-Mehr sein, denn sie sind aktiv?

Wilhelm Maier | Mo., 27. August 2018 - 15:25

Antwort auf von Dorothee Sehrt-Irrek

Sorry dass ich mich einmische. Ich meine - in jedem Fall kein Kunstwerk, sonder mehr philosophische Verwirrung:
"oder ER hat mich auf eine neue Art geträumt, oder scheine ICH ihm?"
„Jedes echte Kunstwerk bedeutet Zuwachs an Sein.“ so
Dr. Carl Peter Fröhling
Alles Gute.

Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 27. August 2018 - 16:52

Antwort auf von Dorothee Sehrt-Irrek

Ein Irrtum kann nur einer in Bezug auf Etwas sein, seitens eines Etwas.
Also werden schwarze Löcher evtl. solche kosmischen EXISTENZEN sein, die nicht zu sich selbst kommen konnten.
Dem müßte man eigentlich abhelfen können...sie heilen können.
Wenn ich nicht positiv denken kann, baldower ich so lange, bis ich mir eine "Lösung" vorstellen kann.
Das ist für mich auch die Verheissung Christi, es macht Sinn, nach Lösungen zu schauen und nach vorne.
Also alles Gute für Sie Frau Bergk

Juliana Keppelen | So., 26. August 2018 - 18:39

Nein das ist Leute verar...........
Auf der anderen Seite solange Kunstschaffende mit ihrer Kunst noch so viele Menschen verzaubern (oder verar.....) können und das auf freiwilliger Basis darf man sich auch nicht beschweren.

Michaela Diederichs | So., 26. August 2018 - 19:32

Liebe Frau Bergk, vielen Dank für viele schöne Beiträge. Ihnen, Baby und Hund (ggf. auch dem Kindsvater) alles alles Gute, bleiben Sie alle gesund und viel Glück bei den neuen Herausforderungen (mir persönlich hat Baby als Herausforderung in den ersten Jahren gereicht). Ganz herzliche Grüße

Michaela Diederichs

Dimitri Gales | So., 26. August 2018 - 20:46

weil ich mich mit Kunstwerken umgebe; ich verfolge die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt. Allerdings lassen mich "Werke" wie hier vorgestellt, total kalt, ich kann damit überhaupt nichts anfangen. Auch was die zeitgenössische Malerei angeht. Da gibt zum Beispiel in Frankreich einen Maler, der nur schwarze Farbe verwendet, er wird auf dem Markt als Schwarzmaler hochbezahlt. Vor einiger Zeit gab es eine grössere Ausstellung zu seinen Gunsten in Paris. Ich schrieb dem Direktor, er solle doch vor der Eingangstür ein Schild anbringen: für Besucher mit depressiven Neigungen nicht geeignet.
Der Kunstbegriff bedarf einer Reformierung. Die Öffentlichkeit scheint verunsichert zu sein, sie weiss nicht mehr recht, was Kunst eigentlich ist, was sie darstellen soll. Nur noch Provokation, oder nicht nachvollziehbare "Installationen", oder der Künstler als "showman", oder Sublimierung einer persönlichen Neurose?.......?

Fritz Gessler | So., 26. August 2018 - 23:55

es gibt doch keinen schlimmeren/besseren beweis für den absoluten nullpunkt auf dem sich derzeit die offizielle kunst befindet - als diese installation. kunst als mörderisches spektakel? da sind mir die internet-ballerspiele doch noch mehr kunst.

Robert Müller | Mo., 27. August 2018 - 10:42

Dieser Kunstfall könnte aber auch nur eine Geschichte sein, die sich irgendwer ausgedacht und den Medien untergejubelt hat. Hat es auch schon gegeben.

Ich habe versucht mir eine Deutung einer solchen fabrizierten Meldung zu überlegen. Die "Unterwelt" würde man dann mit Trumplandia gleichsetzen, was durchaus Sinn machen würde. Jedenfalls wäre die "Unterwelt" dann nicht nur ein 2.4 m tiefes, schwarz angepinseltes Loch im Museum.

Wilhelm Maier | Mo., 27. August 2018 - 13:29

„Morgens um halb sechs“ wird mir sehr fehlen.
Heute ist wieder Montag, und das "Schwarze Loch- Kunst?" sieht für mich aus wie eine stinkende Abwasserschacht ohne Deckel. -Montag...
Passen Sie gut auf sich auf bei „ins Unbekannte zu stürzen“ .
Danke und Alles Gute.

Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 27. August 2018 - 16:14

Antwort auf von Wilhelm Maier

wenn man auch gehen oder einfach nur schauen kann.
Was glaubt Frau Bergk, was ein Baby ist?
Die Dimension nach uns:)
Jedenfalls wunderschön.
Wenn sich so mancher fragt, woher ich etwa unverdientermassen so ein großes Ego habe? Das habe ich gar nicht, aber ich könnte Stunde um Stunde von diesem Glück, Kinder zu haben erzählen.
Mal sehen, was Frau Bergk einfallen wird.
Sie hätte aber auch mal schreiben können, wie es sich nun mit der flinken schwarzen Gestalt geklärt hat.

Kommt bestimmt noch...
Aber mit der Katze habe ich damals etwas nicht ganz! am Hut..,
Fremde Katzen pinkeln gern auf fremde Sofas. Sorry, habe gerade eine Katze von meinem Sohn, der in´m Urlaub ist... Na ja. Oder Sofa tauschen, oder? Stingt nicht himmlisch...