Rote Listen mit Modellbürgern in China
Hoffen auf die roten Listen – viele Chinesen sehen das Sozialkreditsystem positiv / picture alliance

Sozialkreditsysteme in China - „Viele empfinden die Daten-Überwachung als praktisch“

Der chinesische Staat beginnt, seine Bürger mit sogenannten Sozialkreditsystemen anhand riesiger Datenmengen zu bewerten. Warum viele Chinesen darin Fortschritt für mehr Lebensqualität sehen, darüber spricht die Sinologin Genia Kostka

Bastian Brauns

Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Frau Kostka, in China wollen der Staat und auch Unternehmen sogenannte Sozialkreditsysteme einsetzen, um Bürger und Kunden nach ihrem Verhalten zu bewerten und dadurch zu belohnen oder zu bestrafen. Sie haben dazu eine wissenschaftliche Studie erarbeitet. Worum geht es bei diesen Maßnahmen eigentlich?
In China gibt es bereits seit den neunziger Jahren Bemühungen, ein Bonitätssystem einzuführen, also letztlich die Kreditwürdigkeit der eigenen Bürger zu berechnen und abzubilden. Neu war 2014 die Ankündigung der Regierung, bis 2020 ein nationales Kreditsystem einführen zu wollen, das auch tatsächlich von ihr selbst geleitet wird. Neben der Kreditwürdigkeit geht es bei Sozialkreditsystemen jedoch auch um die „Vertrauenswürdigkeit“ der Bürger, Unternehmen und Organisationen in China. Diese geplante massenhafte Datenerhebung von allen Bürgern hat vor allem in der westlichen Welt zu Diskussionen geführt, in denen dieses Szenario mit Überwachungsdystopien wie etwa der Serie „Black Mirror“ oder im Buch „The Circle“ verglichen wurde.

Wie weit ist die Regierung mit diesem Projekt?
Derzeit gibt es mehr als 40 Pilotprojekte von Lokalregierungen zu Sozialkreditsystemen. Die haben wir uns im Rahmen einer Studie angeschaut. Manche Projekte spezialisieren sich auf die Bewertung von Unternehmen, und andere auf die der Bürger, die in der jeweiligen Pilotregion leben. Man muss außerdem zwischen den staatlichen Projekten und solchen von kommerziellen Anbietern wie zum Beispiel der Tochterfirma des Amazon Pendants Alibaba (Ant Financial) oder auch Tencent unterscheiden.

Was haben die für Ziele?
Die kommerziellen Anbieter wollen natürlich ihre eigenen Plattformen bewerben. Bei dem Sozialkreditsystem von Ant Financial namens Sesame Credit geht es zum Beispiel darum: Wer hat welche Produkte gekauft? Wer hat seine Rechnungen pünktlich bezahlt? Wer einen hohen Wert hat, bekommt dann etwa vergünstigte Kaufangebote oder bessere Bankkonditionen. Man will damit also die Nachfrage für die eigenen Produkte steigern. Die Pilotprojekte der Lokalregierungen hingegen wollen mehr Vertrauenswürdigkeit in der Gesellschaft fördern. Hier werden dann zum Beispiel rote und schwarze Listen veröffentlicht.

Rote Listen in Rongcheng, die vorbildhafte Bürger zeigen.
Rote Listen mit vorbildhaften Bürgern in der chinesischen Stadt Rongcheng / picture alliance

Auf den roten Listen sind Bürger oder Unternehmen zu finden, die sich nach den Maßstäben der chinesischen Regierung durch besonders soziales Verhalten hervorgetan haben, beispielweise Freiwilligen-Dienste geleistet oder Geld gespendet haben. Auf den schwarzen Listen befinden sich Bürger oder Unternehmen, die nach Regierungsmaßstäben durch besonders unsoziales oder illegales Verhalten aufgefallen sind.

Genia Kostka
Genia Kostka / Bildquelle:
Hertie School of Governance

Das klingt erschreckend. Und sie wollten herausfinden, ob Chinesinnen und Chinesen solche Überwachungssysteme akzeptieren?
Ja, unsere Frage für die Studie war: Was denken eigentlich die Chinesen selbst darüber?

Mit welchem Ergebnis?
Wir haben per Online-Umfrage gut 2.200 chinesische Bürgerinnen und Bürger befragt. Dabei kam heraus, dass mehr als 80 Prozent die staatlichen und auch die kommerziellen Sozialkreditsysteme als positiv bewerten.

Ist das in einem derart staatlich kontrollierten Land nicht ein sehr erwartbares Ergebnis?
Natürlich glauben auch wir, dass eine Umfrage in einem autoritären Staat immer eine gewisse Verzerrung hat. Das gute an unserer Online-Umfrage war aber, dass wir über private chinesische App-Anbieter unsere Fragen stellen konnten und diese im Gegensatz zu Telefonanfragen nicht zensiert wurden. Zusätzlich zu dieser anonymen Umfrage haben wir außerdem noch Interviews mit Teilnehmern geführt, um zu verstehen, ob es sich bei dem Ergebnis um einen Methodenfehler handeln könnte. Auch in den Interviews gab es eine Akzeptanz dieser Systeme von um die 90 Prozent.

Wie lässt sich diese Sorglosigkeit vor Überwachung erklären?
Das liegt nicht daran, dass die Befragten keine Privatsphäre schätzen und gerne alle Daten dem Staat geben. Es ist aber auch so, dass die Bürger nicht sonderlich überrascht sind darüber, dass der Staat von ihnen Daten erhebt. Die Kommunistische Partei, so denken viele, habe sowieso bereits viele Informationen über sie. Wenn das Politbüro auf Daten zugreifen möchte, bekommt es die auch. Das ist natürlich eine sehr passive Haltung zum Datensammeln. Tatsächlich zeigt die hohe Zustimmung für die Sozialkreditsysteme vor allem, dass die Befragten sich eine gesteigerte Lebensqualität wünschen. Viele empfinden die Systeme nämlich schlicht als praktisch.

Das müssen Sie ausführen.
Man muss sich bewusst sein, dass es in den vergangenen 40 Jahren in China viele Transformationsprozesse gab. Dabei blieb etwa das Bankensystem insbesondere für die Bürger stets unterentwickelt. Große Teile der Bevölkerung haben zum Beispiel über Jahre hinweg keine Kredite erhalten. Wenn die kommerziellen Anbieter nun ein System anbieten, bei dem man durch eine hohe Bewertung schneller an einen Kredit kommen kann, ist das für viele sehr attraktiv. Das Wort Sozialkreditsystem bedeutet im Chinesischen zwar Kredit, aber auch Vertrauen. Wir denken zuallererst an so etwas wie bei uns die Schufa. In China impliziert die doppelte Bedeutung auch, dass man Vertrauen in den Markt schaffen will. 

Und ein zweites Problem für viele Chinesen sind die zahlreichen Regulierungslücken. Die Rechtsdurchsetzung klappt in China nur sehr schlecht. Gerade bei Themen wie Nahrungsmittelsicherheit ist den Bürgern das verständlicherweise aber sehr wichtig. Wenn jetzt also auch Unternehmen danach bewertet werden, ob sie bestimmte Lebensmittelvorschriften einhalten, kann man diese Unternehmen auch besser einschätzen. Das führt dann zu mehr Sicherheit und Vertrauen bei Kaufentscheidungen.

Welche Daten werden denn konkret von den chinesischen Bürgern erhoben?
Das unterscheidet sich tatsächlich bei jedem dieser Pilotprojekte. In Shanghai fokussiert man sich zum Beispiel darauf, Unternehmen zu bewerten. Dafür werden dann Daten von verschiedenen lokalen Regierungsbehörden zusammengeführt. Dass diese Institutionen diese Daten nun über eine Plattform teilen, ist ein gänzlich neuer Vorgang.

Kann man sagen, dass China damit im Zeitalter von Big Data im Hauruckverfahren nachholt, was in der deutschen Verwaltung seit Jahrzehnten organisch und einigermaßen behutsam gewachsen ist?
Es hat viel damit zu tun, dass an der Spitze des chinesischen Staates nun Xi Jinping steht, der explizit mehr gegen Korruption unternehmen will und muss. Das Sozialkreditsystem bietet eine ideale Möglichkeit, mehr Informationen über Bürger und Unternehmen auch auf lokaler Ebene zu sammeln. Peking versucht nun online zu verschiedensten Themen Daten zu sammeln, um die Informationsflüsse in dem riesigen Land besser zu organisieren. Bei uns in Deutschland wäre es nicht möglich, dass verschiedene Behörden so einfach Daten austauschen.

Für Deutschland sind solche Ideen also nicht vorstellbar? Schließlich könnte man auch hierzulande mit Effizienz, Korruptionsbekämpfung und Rechtsdurchsetzung argumentieren.
Da bin ich äußerst skeptisch. Dazu müsste man zahlreiche Datenschutzregeln und -gesetze mal eben so überspringen. Was allerdings auch in Deutschland teilweise längst existiert, sind zahlreiche kommerzielle Online-Anbieter, die Daten sammeln. Da gibt es durchaus Parallelen, worüber wir in der Gesellschaft meines Erachtens viel stärker diskutieren sollten. Was darf mit unseren Daten passieren? Wie viele Daten sollten verfügbar sein? Das sind wichtige Fragen für unser Verständnis von Gerechtigkeit.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es sich die Menschen in China gefallen lassen, auf einer öffentlich einsehbaren schwarzen Liste als „schlechter Bürger“ angeprangert zu werden?
Momentan stehen auf diesen Listen noch sehr wenige Bürger. Das System funktioniert derzeit noch auf eine Weise, dass vor allem die Vorteile guten Verhaltens hervorgehoben werden. Etwa dadurch, dass beim Bikesharing oder Carsharing keine Kaution hinterlegt werden muss. Darum gibt es wohl auch keinen großen Aufruhr. Was die Studie aber auch zeigt, dass den Befragten Fairness sehr wichtig ist. Momentan empfinden die Leute ihre Bewertung offenbar als fair. Sollte sich das ändern, hätte das mit Sicherheit Auswirkungen auf die Akzeptanz.

Vor dem Bürgeramt von Rongcheng sind auf großen Postern die Porträts von «Modellbürgern» ausgestellt.
Vor dem Bürgeramt von Rongcheng sind auf großen Postern die Porträts von Modellbürgern ausgestellt. / picture alliance

Wie transparent sind diese Scoring-System denn gestaltet? Erfahre ich, wie sich mein Wert zusammensetzt?
Auch das ist je nach System unterschiedlich. So gibt es zum Beispiel ein kommerzielles System, bei dem es einmal pro Monat ein Update des persönlichen Scores gibt. Dann erhöht oder erniedrigt sich die persönliche Punktzahl. Man erfährt aber tatsächlich nicht, warum man nun nach einem Monat mehr oder weniger Punkte hat. Bei den lokalen, staatlichen Systemen gibt es nicht unbedingt eine Zahl. Bürger bekommen nur in einzelnen Pilotprojekten konkrete Bewertungen wie AAA für eine sehr gute Bewertung oder C für eine schlechtere Bewertung. Probleme haben die Befragten aber tatsächlich damit, was man unter Credit Repair versteht.

Also damit, wie sie ihren individuellen Wert verbessern können?
Ja. Wer zum Beispiel krank war und sich deshalb verschulden musste, kann seine Bewertung nur sehr schwer wieder verbessern. Wir haben online dazu Diskussionen beobachtet, in denen dieser Zustand als ungerecht empfunden wird. Für die chinesische Regierung steckt in diesem System also durchaus sozialer Sprengstoff, wenn sie es nicht schaffen sollte, es einigermaßen gerecht und nachvollziehbar auszugestalten. 

Also müssen diese Systeme zwangsläufig irgendwann zumindest transparenter werden?
Der Finanzdienstleister von Alibaba, Ant Financial, weist immerhin fünf Kriterien aus, aus denen sich der Score zusammensetzt. Sie veröffentlichen jedoch keine genauen Beschreibungen der einzelnen Kriterien oder zu welchen Anteilen diese Kriterien schließlich in die Bewertung einfließen. Dabei wird ein Kriterium besonders stark diskutiert, nämlich der Faktor des sozialen Netzwerkes. Die Frage, die sich viele stellen, ist: verringert sich mein Score, wenn ich viele Kontakte mit einem niedrigen Score habe?

Eine erschreckende Vorstellung.
Ja, das sehen viele auch so. Ant Financial hat darauf insofern reagiert, indem sie sagten, dass das so nicht ganz stimme. Entscheidend sei vielmehr, ob man viele oder wenige Freunde habe. Wer mehr Freunde hat, solle demnach seinen Score nach oben verbessern können. Die genaue Berechnung bleibt aber sehr intransparent. Die meisten Befragten gaben an, schlicht nicht zu wissen, wie sich der eigene Wert berechnet.
 

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Wolfgang S. | Mi., 25. Juli 2018 - 03:07

Eine sehr interessante Interviewpartnerin, die mir erstmals Einblick in ein System gewährt hat, das wohl für einen Teil der Welt die Zukunft darstellt. Ich bin zwar froh, nicht unter diesem System zu leben, aber in den deutschen Mainstreammedien wurde bisher stets nur oberflächlich und dann meistens abschätzig darüber berichtet. Eine wohltuend andere und arbeitsintensivere Form des Journalismus hier im Cicero. Danke!

Petra Führmann | Mi., 25. Juli 2018 - 11:01

Liebe Redaktion, mein Kommentar bezieht sich nicht auf den Artikel, aber ich weiß nicht, wohin ich das schreiben kann; es geht um die heutige Karikatur. Kann es sein, dass auch hier wieder EU und Europa in einen Topf geworfen werden? Europa sind für mich die Länder und deren Bürger, gegen keinen einzigen habe ich etwas, ganz im Gegenteil: Wir sollen, wollen und werden zusammenhalten! Was ich aber ablehne, ist das Konstrukt aus Brüssel... zumindest in seiner jetzigen Form und in seiner gegenwärtigen Besetzung und Zielsetzung. Wenn es immer wieder heißt, es wären einige gegen "Europa", so glaube ich das nicht, und die meisten erkennen den Unterschied nicht. Es geht gegen Gleichmacherei, Bevormundung etc. Und das ist nicht Europafeindlich!

Ada Gietto | Mi., 25. Juli 2018 - 15:01

Ein weiterer Fortschritt in Richtung „social Engineering“. So ein System hätte allerdings in Deutschland keine Chance, weil sich dadurch bestimmte Bevölkerungsgruppen massiv benachteiligt fühlen würden.

Dr. Rolf Stempf | Do., 26. Juli 2018 - 09:46

Ein System dieser Art macht nur dann Sinn, wenn es für den Einzelnen nachvollziehbar ist. Wird aber anhand eines Algorithmus ausgewertet, der von einer an das unendlich grenzender Anzahl von Variablen abhängt, wird dieses System boykottiert und als „unfair“ bezeichnet.

Bernd Muhlack | Do., 26. Juli 2018 - 11:50

Zitat: "Bei uns in Deutschland wäre es nicht möglich, dass verschiedene Behörden so einfach Daten austauschen." --- Sehr geehrte Frau Kostka, insoweit irren Sie sich, denn insbesondere die Finanzbehörden dürfen auf sehr viel andere öffentlich-rechtlichen Datenbanken zugreifen. Das gilt ebenfalls für Arbeits-/Sozialämter sowie die Jobcenter. Insoweit besteht auch für die betroffenen Bürger eine gesteigerte Auskunfts- und Mitwirkungspflicht (Unterlagen, Belege etc.) Okay, beim BAMF und den Ausländerbehörden nimmt man es wohl nicht so genau! (Weisung von gaaaanz oben, nicht wahr?)

Ansonsten ein sehr interessantes Gespräch!

Frank Rech | Do., 26. Juli 2018 - 13:31

Belohnung und Bestrafung bei Erwachsenen, wie bei Tieren. Aber das ist der reale Marxismus. Der Mensch ein Konsumgut, sonst nichts. Es wäre hoch an der Zeit, daß die kommunistische und materialistische Funktionärskaste abgelöst würde.