Boris Johnson
Großbritanniens Außenminister Boris Johnson gab seinen Rücktritt bekannt / picture alliance

Rücktritt Boris Johnson und David Davis - Der Dompteurin laufen die Tiere weg

Erst Brexitminister David Davis, nun verlässt auch Außenminister Boris Johnson Theresa Mays Kabinett. Gerade erst hatte Großbritanniens Premierministerin ihre Regierung auf einen sanften Brexit eingeschworen. Wird May diesen Nervenkrieg überstehen?

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Wie nennt man einen Minister, der wenige Monate vor dem Abschluss immens wichtiger Verhandlungen seines Landes den Job hinwirft? Ist er ein tollkühner, prinzipientreuer Held oder ein feiger, verantwortungsloser Geselle? David Davis, bisher Brexitminister in Theresa Mays konservativer Regierung, trat in der Nacht auf Montag zurück: Der Austritts-Deal, den die Regierungschefin anstrebe, „bringt die Kontrolle über unsere Gesetze nicht nach Großbritannien zurück“, erklärte er in seinem Rücktrittsschreiben. Am Montag erklärte er in einem BBC-Interview: „Ich hätte meinen Job nicht mehr gut machen können.“

Seine Demission war offenbar ein Schlachtruf für die Brexitiere, also die Befürworter eines raschen und harten Austritts aus der EU. Denn nun ist auch Außenminister Boris Johnson zurückgetreten. Es könnte der Startschuss für Theresa Mays Demontage sein. Nach innen ist die Regierungschefin dadurch geschwächt. Nach außen noch viel mehr: Wie soll die EU mit May verhandeln, wenn sie nach zwei Jahren nicht einmal mit den eigenen Ministern eine feste Position zum EU-Austritt erarbeitet kann?

May hatte die Regierung gerade zusammengebracht

Dabei hatte man am Wochenende gerade das Gefühl gehabt, May habe eine entscheidende Schlacht gegen die Brexit-Hardliner gewonnen. Recht rigoros hatte sie ihr Kabinett im Landsitz Chequers unter Druck gesetzt, den von ihr favorisierten sanftesten aller harten Brexit-Abkommen zu akzeptieren: Ein Common Rule Book, ein Abkommen über gemeinsame Regeln für einen Teil des Binnenmarktes. Demnach hätte Großbritannien nach dem Austritt aus der Europäischen Union zwar Zollunion und EU-Binnenmarkt im Prinzip verlassen, aber zumindest für den Güterverkehr weiter die EU-Regeln akzeptiert.

Vor allem hatte die Premierministerin nicht nur den harten Kern des Kabinetts eingeladen, in dem die größten Konkurrenten und Brexit-Euphoriker sitzen. Sie brachte alle 29 Mitglieder der Regierung zusammen. Den Ministern waren keine Berater und keine Mobiltelefone erlaubt gewesen. Unter den Staatssekretären ist eine Mehrheit loyal gegenüber der Frau, die ihnen den Job gegeben hat. Da keiner Chequers vorzeitig verlassen hatte und auch in der Folge während des sommerlichsten aller britischen Wochenenden niemand gegen Mays Plan öffentlich Einspruch erhoben hatte, wirkte sie kurzfristig wie eine erfolgreiche Dompteurin ihres Brexit-Zirkus.

Alle Augen auf Boris Johnson

Jetzt ist alles wieder anders. Der 69-jährige David Davis ist dabei nicht ihr größtes Problem. Sie hat ihn flugs mit einem anderen Brexit-Fan ersetzt. Der bisherige Wohnbauminister Dominic Raab – Sohn eines tschechischen Einwanderers - gilt aber als Pragmatiker. Weil die technischen Verhandlungen von einem hochspezialisierten Team von Beamten geführt werden und die Verantwortung bei der Premierministerin liegt, ist der neue Minister sowieso nicht von zentraler Bedeutung.

Bei Boris Johnson ist das anders. Alle Augen sind nun auf das Oberbrexitier gerichtet. Wenige Stunden nach David Davis wurde auch sein Rücktritt bekannt. Der 54-jährige bisherige Außenminister ist trotz seines Rücktritts Mays gefährlichster Konkurrent für den Posten in Downing-Street. Wegen seiner Zoten und Späße ist er beim Volk beliebter als die meisten seiner sonst eher trockenen Kollegen. Doch hat Johnson an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Jüngst flog er nach Kabul, um sich einer Abstimmung im Parlament zu entziehen. Es ging um die dritte Landebahn des Flughafens Heathrow. Die Regierung will diese bauen. Johnson hatte seinen Wählern leichtfertig versprochen, er würde sich lieber vor die Bulldozer legen, als dem zuzustimmen. Am Ende war er dann einfach nicht anwesend.

Mays einzige Stärke

Im allgemeinen Brexit-Chaos aber scheint es kaum mehr darum zu gehen, ob ein Politiker über Glaubwürdigkeit verfügt. Boris Johnson mag ein weiches Rückgrat haben, er könnte Theresa May trotzdem aus dem Amt jagen. Denn schließlich besitzt sie selbst keine wirklichen Überzeugungen. Als Innenministerin propagierte sie vor dem Referendum 2016 noch einen Verbleib in der EU. Erst als Regierungschefin im Juli 2016 ließ sie verlauten: „Brexit heißt Brexit.“ Und was das nun heißen soll, hat sie auch zwei Jahre später noch nicht einmal mit ihrem eigenen Kabinett klären können – geschweige denn mit den EU-Verhandlern in Brüssel.

Ihre einzige Stärke ist die Schwäche der Brexitiere. Denn wie David Davis auch am Montag nach seinem Rücktritt wieder deutlich machte, haben die harten Brexitiere keine Alternative zu Mays kompliziertem Spezialdeal. Will man sich nicht mehr mit der EU, dem größten Handelsblock mit heute 500 Millionen Menschen, auf harmonisierte Handelsregeln verständigen, dann bleibt nur der freie Fall zurück auf die Welthandelsorganisation WTO. Das wäre nach allen Studien extrem kostspielig für die britische Wirtschaft. Carolyn Fairbairn, Vertreterin der britischen Industriellenvereinigung CBI, bedauerte den Rücktritt des Brexitministers am Montag: „Business in Britannien will Klarheit. Und praktisch alle Geschäftsleute wollen friktionslose Handelsbeziehungen mit der EU. Wir brauchen einen Brexit, der das garantiert und Mays Vorschlag könnte uns das am Ehesten bringen.“

Bekommt May Unterstützung aus der EU?

Theresa May möchte nun versuchen, trotz allem auf der Basis ihres „sanften“ Plans mit der EU zu verhandeln. Die EU wiederum könnte versucht sein, der angeschlagenen Britin unter die Arme zu greifen und ihr zu einem Deal zu verhelfen, bevor die Hardliner sie stürzen. Das wäre auch im Interesse der EU. Denn was seit heute wieder als Horrorvision für alle Beteiligten im Raum steht, ist das „No-Deal“-Szenario. Setzt Theresa May sich nicht durch, bleibt bis zum Austrittsdatum, dem 29. März 2019, kaum mehr Zeit für neue und ernsthafte Verhandlungen.

Im House of Commons wetzen die Fans der härtesten Variante die Messer. Allerdings unterstützen bisher nur etwa zwanzig Abgeordnete auf den Hinterbänken der Tory-Partei diesen Sprung von der Klippe in den rechtsfreien Handelsraum. Für ein Misstrauensvotum gegen Theresa May müssten etwa 40 Tories mit der Opposition mitstimmen. Und nicht mal die Labour-Party ist sich derzeit sicher, ob sie das Land noch mehr Chaos aussetzen möchte.

Deshalb ist trotz der neuen Entwicklungen noch längst nicht sicher, dass Theresa May am Ende ist. Bisher hat die Premierministerin immer noch bessere Nerven gezeigt als ihre Herausforderer.

Dieser Text erschien zuerst in einer anderen Version auf Cicero Online. Aus aktuellem Anlass haben wir ihn aktualisiert

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Fritz Richter | Mo., 9. Juli 2018 - 13:55

Raus aus der Union ohne für und wider. und Dann schauen, wie man alleine am internationalen Parkett zurecht kommt. Denn der Commonwealth hat schon abgewunken, die Spesen zu übernehmen. Gürtel enger schnallen kann auch der Beginn einer Blüte sein...
Oder ohne für und wider drinnen bleiben- ohne Rosinenpickerei wie bisher. Sehr unwahrscheinlich. Aber von der Industrie gewünscht. Dass GB der EU viel bringen könnte, würden sie drinnen bleiben, steht ausser Zweifel...

Bernd Fischer | Mo., 9. Juli 2018 - 18:53

Antwort auf von Fritz Richter

betrieben die vertraglich vereinbart waren.

Jedermann wusste das, was GB innerhalb der EU für Sonderrechte hatte.

Aber wer kümmert sich schon darum das die sogenannten "Avantgarde-Führungs-Länder der EU" sich ( arrogante ) Sonderrechte gegenüber den kleineren EU-Staaten für sich herausnehmen.

Ich erinnere an das kleine ( zwergenhafte ) Luxemburg das jahrelang wenn nicht so gar über Jahrzehnte ( fiskalisch ) gegen jede EU-Norm..Vorgaben moralisch und praktisch verstoßen hat. ( andere EU-Länder mit Steueroasen sind selbst nicht besser )

Aber so ist es nun einmal. dieses kleine Land und seine Politiker ( auch die in Brüssel sind gemeint ) maßt sich an, die restlichen EU-Länder mit moralischen Attitüden ... ...sprich Keule ( egal welches Thema ) zu erpressen.
Das GB die S.....e nun voll hat verstehe ich vollkommen.
Wäre uns die abstruse Flüchtlingspolitik der "Merkel" erspart geblieben, wäre uns auch der Brexit erspart geblieben.

Joachim Wittenbecher | Mo., 9. Juli 2018 - 14:33

Es sind zwei Erkenntnisse, welche die Briten immer mehr in Bedrängnis bringen:

Brexit und ein Offenhalten der inner-irischen Grenze schließen sich im Grunde aus. Die kleine irische Wiedervereinigung ist akut gefährdet, der alte Nordirland-Konflikt könnte neu aufbrechen.

Briten, die damit kalkuliert haben, die enge EU-Bindung durch eine noch engere Beziehung zu den USA zu kompensieren, sehen sich ernüchtert, da ihr Gegenüber - Donald Trump - kein Treueverhältnis und auch kein Verhältnis auf Augenhöhe will, sondern eine kühle Kosten-Nutzen-Analyse in seinem Sinne anstellt.

Ein tragisches Dilemma. Leben wir generell in einer Zeit der Jahrhundert-Fehlentscheidungen?

hatten schon immer eine höhere Affinität zu den USA als zu den europäischen Staaten. Pech für GB (und übrigens auch für D und die EU), dass D.T. deren Nibelungentreue nicht honoriert, sondern sein Credo “Amerika first“ gnadenlos zurchzieht. Er wird in die Geschichte eingehen als der erste Politiker, der seine Wahlversprechen tatsächlich erfüllt.

Dimitri Gales | Mo., 9. Juli 2018 - 14:36

den Blutverlust der britischen Wirtschaft zu stoppen oder wenigstens zu mildern. Daher versucht sie, grob umrissen, der Öffentlichkeit einen quasi nicht-Brexit als Brexit zu verkaufen. Wichtig ist aber auch, was hiesige Presseorgane übergehen, unterschätzen, die Grenze zu Nordirland. Irland ist noch immer ein latentes Pulverfass. Die Grenzfrage ist daher von hoher Priorität.

Arne Bruhn | Mo., 9. Juli 2018 - 15:48

Brexit ja oder nein - das aus meiner Sicht bewundernswerte ist die Tatsache, dass für Minister in GB das Wort 'Rücktritt' absolut kein Fremdwort ist. Um die britische Kasse zu füllen sollte die GB-Regierung einmal VHS-Kurse für die deutsche(n) Regierung(en) anbieten.

Bernd Wollmann | Mo., 9. Juli 2018 - 20:31

Antwort auf von Arne Bruhn

eines Ministers, weil er die Fehlentscheidungen seiner Chefin nicht mehr mittragen kann, ist in Deutschland völlig illusorisch. Man muss nicht unbedingt die Überzeugungen der beiden britischen Minister teilen, Charakter scheinen sie aber zu haben.

Richard Niebuhr | Mo., 9. Juli 2018 - 17:53

Gewisse Ähnlichkeiten zwischen GB und D werden deutlich. Brexit und Migration sind Themen, die das Land und die Regierung gleichermaßen spalten. Die Lösung beider Probleme ist viel schwieriger als manche sich vorgestellt haben. Allerdings ist AM eher Teil des Problems wogegen TM eher noch Teil der Lösung ist.

Wolfram Rieger | Mo., 9. Juli 2018 - 20:03

Wer das alles nicht begreift, fährt am besten mal rüber über den Kanal auf die Insel, ist nicht weit.

Man findet überall viel Vergangenheit, und Stolz auf sein Land.
Und da ist das Meer, rundum, was die Bewohner in jeder Hinsicht geprägt hat.
Und da sind die netten, gastfreundlichen und liebenswürdigen Bewohner der Insel.
Und man kann in den Pubs und auf der Strasse seine politische Meinung äußern, ohne Schaden zu nehmen.

Daran wird auch der Brexit nichts ändern.

Gott sei Dank.

Lesen Sie mal die Kommentarseiten in den britischen Medien. Leider hat der Linkspopulismus auch dort die Oberhand gewonnen und man darf auch dort nicht mehr seine Meinung sagen ohne als Nazi beschimpft zu werden. Ebenso sind die Kriminalitätsraten, durch Massenmigration und massiven Stellenabbau bei der Polizei, dramatisch gestiegen. Die Justiz ist genau wie bei uns, zur Lächerlichkeit verkommen. Es ist leider nicht mehr das England das es einmal war.

Dieter Zorn | Di., 10. Juli 2018 - 09:31

May macht das doch einfach Klasse! Ihr Drohszenario gegenüber der EU ist schon immer: Wenn ihr nicht kompromisbereit seid, machen wir einfach die Tür hinter uns zu. Damit hat sie schon viel erreicht. Ihr Angebot aus Chequers, die EU Regeln für Waren zu akzeptieren, für Dienstleistungen und Freizügigkeit jedoch das eigene Ding zu machen, setzt die EU nun möchtig unter Druck. Nur ein politischer Hanswurst wie Boris Johnson will den Vorteil nicht erkennen, weil er meint, nun sein eigenes Süppchen kochen zu können. Am Ende wird sich die Eiserne Lady durchsetzen. Daheim und gegen die EU.

martin falter | Di., 10. Juli 2018 - 13:31

Antwort auf von Dieter Zorn

Die Briten sind in den Brexit gestolpert. Jetzt wird den ersten bewusst dass es ohne EU sehr schwer werden wird. Als die Briten noch in der EU waren bzw. nicht austreten wollten, war Rosenpicken ihr Lieblingssport. Schuld war immer die EU.
Jetzt wo das Tuch zerrissen ist wird von der EU die Sonderstellung Englands nicht mehr akzeptiert. Die sind draußen und es wird schwer werden für Europa aber noch viel schwerer für GB. Nicht die EU ist unter Druck sondern England und die ersten Ratten verlassen das sinkende Schiff.

Thorsten Rosché | Di., 10. Juli 2018 - 14:07

Wenn es Länder gibt, die nicht so ticken wie es unsere Politiker und Presse gerne hätten, wird alles schlecht gemacht. Wenn es eine Nation gibt, die gerade degeneriert, dann ist es Deutschland. Verlogene und korrupte Wirtschaft und Politiker, zerfallene Infrastruktur, erodierende Sozialversicherung und eine Spreizung zwischen Arm und Reich, wie sie in westlichen Industriestaaten nicht zu finden ist. Und die Briten marschieren ins Chaos ?

Juliana Keppelen | Di., 10. Juli 2018 - 16:54

Huch da kann die Chefin nur hoffen, dass dem bösen Russen wieder was spektakuläres einfällt um von dem Desaster abzulenken. (Ironie off)

Christoph Kuhlmann | Mi., 11. Juli 2018 - 08:13

dass das Land überhaupt in der Lage ist, die Aufgaben der EU-Bürokratie auf der nationalen Ebene zu erfüllen. Hinzu kommt dann noch der Aufbau einer nationalen Zollbehörde. Man kann nur hoffen, dass England noch etliche Jahre im Binnenmarkt bleibt.