Der Deutsche Buchpreis: ein augenzwinkerndes Stück Realutopie
Der Deutsche Buchpreis: ein augenzwinkerndes Stück Realutopie / picture alliance

Deutscher Buchpreis 2016 - Mosebach und Zschokke fehlen

Die Vorauswahl zum Buchpreis ist trotz prominenter Auslassungen gelungen. Sie bildet Tendenzen der Gegenwartsliteratur ab und hat einen Favoriten. Schade nur, dass wieder kein Platz war für ein besonders eigensinniges Werk

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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In der Tat: Der Bücher-Jahrgang 2016 ist ein „ausgezeichneter Jahrgang“. Die Einschätzung Christoph Schröders, des Sprechers der diesjährigen Jury für den Deutschen Buchpreis, stimmt. Insofern mag man die Juroren um ihre Aufgabe, aus 178 eingereichten Romanen 20 prämierenswerte auswählen zu müssen, beneiden oder sie bedauern. Auf der unverändert schrecklich betitelten „Longlist“ fehlt denn auch, womit unbedingt zu rechnen war: der neue, reihum gepriesene Mosebach („Mogador“), der neue, in die Filmindustrie der Weimarer Republik zurückführende Kracht („Die Toten“) und der neue Roman des Preisträgers von 2011, Eugen Ruges Big-Data-Humoreske „Follower“. Auch „Der Scheik von Aachen“ von Brigitte Kronauer und „Das Geräusch des Lichts“ von Katharina Hagena, selbst Juli Zehs überschätzter Bestseller „Unterleuten“ wären solide Kandidaten gewesen. Spricht das gegen die Auswahl?

Der Preisträger darf sich über 25.000 Euro freuen, exakt die Hälfte des für den Georg-Büchner-Preis ausgelobten Betrags. Die ökonomischen Folgewirkungen des Buchpreises sind indes trotz rückläufiger Absatzzahlen größer, wird doch auf der Frankfurter Buchmesse anders als in Darmstadt kein Gesamtwerk ausgezeichnet, sondern „der beste Roman in deutscher Sprache“. So lautet der unbescheidene Anspruch, der, wie jeder ästhetische Superlativ, uneinlösbar ist. Der Deutsche Buchpreis ist ein augenzwinkerndes Stück Realutopie: Seht her, sagt er, ihr Verlage und Leserinnen und Autoren, schaut hin und tut mit uns für einen Augenblick, als wäre Literatur eine Manegenkunst mit dem lautesten Applaus für die waghalsigste Aktion. Lasst uns aus der stillsten aller Beschäftigungen – dem Träumen und Schreiben – einen Zirkus machen, farbenfroh, wertungsstark.

Ein Erfolg für den S. Fischer-Verlag

Die 20 benannten Romane zeigen bei aller Subjektivität Tendenzen. Dass erstens weder Luchterhand – trotz Michel Wallner („Der Flug nach Marseille“) und Clemens Berger („Im Jahr des Panda“) – noch Hanser – trotz Wilhelm Genazino („Außer uns spricht niemand über uns“) und Tilman Rammstedt („Morgen mehr“) – den Sprung in die Vorauswahl geschafft haben, wird in München für betretenes Schweigen sorgen. Die mittlerweile dramatische Hanser-Krise unter Neuverleger Jo Lendle, für die der Weggang Martin Mosebachs zu Rowohlt Symptom und Fanal war, setzt sich fort. Immerhin ist mit Hans Platzgumers „Am Rand“ aus dem Wiener Verlag Paul Zsolnay eine Hanser-Tochter vertreten. Luchterhand hingegen könnte auf ein ungünstiges Momentum und individuelle Geschmacksvorlieben verweisen.

Schade natürlich für den findigen Züricher Kleinverlag Secession, dass Steven Uhlys im Kernsinn poetischer „Glückskind“- und „Königreich der Dämmerung“-Nachfolger „Marie“ den Einzug ins Halbfinale verfehlte. Triumphal hingegen ist die fünffache Berücksichtigung von S. Fischer zu nennen. Ernst-Wilhelm Händlers „München“, Reinhard Kaiser-Mühleckers „Fremde Seele, dunkler Wald“ oder aber Thomas von Steinaeckers „Verteidigung des Paradieses“ könnte es auf die „Shortlist“ der glücklichen Fünf schaffen. Peter Stamms schon breit rezipiertes „Weit über das Land“ und Arnold Stadlers ambitioniertes Großprojekt „Rauschzeit“ werden an dieser Hürde wohl scheitern. Stadlers anspielungsreiche Geschichte des Übersetzerpärchens Alain und Mausi wartet immerhin mit gewitzten Sottisen auf, „Was ist Glück? Nachher weiß man es“. Vom Jahr um Jahr haifischigeren Verlagswesen gilt das Nämliche.

Ein Debütroman hat Chancen auf den Sieg

Eine zweite, eine nicht-ökonomische Tendenz ist die Unverwüstlichkeit der Altmeister mit großem Namen, Stadler et tutti quanti. Sibylle Lewitscharoff schreibt mit jenem titelgebenden „Pfingstwunder“, das eine Gesellschaft internationaler Dante-Forscher in Rom ereilt, weiter an ihrem einzigartigen abendländischen Kosmos aus Schrulligkeit, Bildung und Transzendenz, „Heilandzack!“. Bodo Kirchhoff legt mit dem lässigen Protokoll einer Liebesfahrt zu zweit im Cabrio vom Achensee nach Süditalien, vorbei an lakonisch eingebetteten Wahrnehmungen des Flüchtlingstrecks, eine wunderbar entspannte Novelle vor, „Widerfahrnis“, mit 224 Seiten länger geraten als mancher angebliche Roman. Leonie Palm und Julius Reither, so heißt hier das Paar in abermals des Lebens zweiter Hälfte, entdecken und überholen ihre Liebesklugheit; „es war die Nacht zum zwanzigsten April“, als „die Evidenz der Welt, einer Welt mit Abermillionen von Fluchtgeschichten,“ sich verlor „im Gehäuse eines Autos“. Die „Drehtür“ wiederum der Katja Lange-Müller, diese eindrücklichen Szenen einer Überforderung im Milieu der Helfer, taugt eh’ zum Buch der Saison.

Den Charakterroutiniers stehen – drittens – jüngere Kollegen zur Seiten, die nicht auf Juvenilität setzen. Schreibende Kindsköpfe mit Botoxgesichtern fanden keine Gnade; auch sie gibt es. Stattdessen das Debüt der 26-jährigen Michelle Steinbeck, die Erwachsenenwerdungstravestie „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, und die Glücksforschergroteske der 1984 geborenen Österreicherin Anna Weidenholzer, „Weshalb die Herren Seesterne tragen“, verlegt bei Matthes & Seitz, die mit Frank Witzel den Vorjahressieger beisteuerten. Philipp Winklers straßentauglicher Erstling „Hool“ über eine Gruppe Hooligans dürfte reale Chancen auf den Sieg haben. Der Autor ist 30 Jahre alt oder jung, je nachdem.

Favorit: Gerhard Falkners „Apollokalypse“

So bleibt denn wirklich bedauerlich nur das Fehlen Martin Mosebachs, der mit „Mogador“ eine fast ausschließlich in Marokko spielende Huren-und-Ganoven-Komödie im Märchenton vorlegte. Neben dem süffigen Mosebach-Sound voller Ironie, Delikatesse und Diminutiv prunkt „Mogador“ mit mustergültig pastosen Naturschilderungen – „es war die sinkende Sonne, die sie anzog, die rote Feuerkugel im hellblau wässrigen Luftmeer, deren Kontur, in der Höhe noch flammenumwoben, im Tiefersinken immer schärfer wurde, bis sie kurz vor dem Verschwinden von einer gestochen klaren Linie umgrenzt war“.

Und erst recht fehlt, einmal mehr, Matthias Zschokke. Niemand schreibt so beharrlich, so selbstvergessen, so klug eine Chronik des übersehenen Lebens. Insofern hat die Jury dem Roman „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin“ jenes Schicksal bereitet, das den Zschokkeschen Helden allesamt auf oft komische Weise widerfährt, und ihn ausrangiert, weggelegt, übersehen. Zschokke wird es nicht aus der Bahn werfen, seinen jüngsten Protagonisten, den schreibenden Gewohnheitsmenschen Roman, sowieso nicht, „er war daran gewöhnt, zu Boden zu blicken“.

Gibt es Gerechtigkeit im Haifischbecken, dann wird Gerhard Falkners „Apollokalypse“ den Sieg am 17. Oktober davontragen. Nach 30 Jahren der Vorbereitung, Niederschrift und Lebensrundung debütiert der Lyriker als Romancier mit einem saftigen Berlin-Epos, das neben Reminiszenzen an Stasi, RAF und Mauerfall und Querverweisen zu Ovid und Proust einige der schönsten Formulierungen zumindest dieses Bücherjahrgangs aufbietet: „Es gibt Orte, an denen die Normalität ihre Prototypen zur Welt bringt und sie erstmals öffentlich ausstellt, wie auf einer Messe, um sie von dort aus in die Welt zu exportieren. Ein solcher Ort ist der Steglitzer Kreisel.“ Also denn, „Apollokalypse“, den Namen wird man sich merken müssen.

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Michael Lager | Do., 25. August 2016 - 22:30

Irgendwie ist das komisch. Vielleicht tue ich auch dem einen oder anderen Buch unrecht, aber ich habe die alle mal angeklickt, mir die Inhaltsangabe durchgelesen, auch mal reingehört - und danach hat mich noch genau ein Buch interessiert. Und dieses Buch scheint eine Art "Tagebuch" zu sein, das auf reelen Erlebnisen basiert. Also ich glaube, dass das keine Fiktion ist, sondern eher eine Art Bericht (T. Melle, Die Welt im Rücken). Es gibt dt.-sprachige Gegenwartsliteratur, die mich interessiert, so ist das nicht, aber diese Liste ist schon sehr trist. Das ist auf jeden Fall mein Eindruck, wie gesagt, der kann auch täuschen. Vielleicht bin ich auch zu jung für diese Art von Literatur, obwohl ich so jung auch wieder nicht bin. Immer weniger Leute lesen, manchmal kann ich das sehr gut verstehen. Das hat alles so diesen Klagenfurter Spinnenweben-Touch. Geschichten, die nen Bart haben, alles Grau in Grau, monotoner Satzbau, alles alt, redundant, langweilig ... Depressionen. Geht anders.

Matthias Noack | Fr., 16. September 2016 - 14:00

spricht für sich. Jetzt wo ich den verschachtelten Artikel überlebt hab, weiß ich auch wieder warum ich keine Bücher mehr lese, die Konzentration ist weg, bzw. das Interesse. Meinem Vorkommentator kann ich mich insofern anschließen, dass mich heute eher Handlungen interessieren als Drumherumgerede, also Kurzprosa und Gedichte in denen etwas getan anstatt geträumt wird. Generation ADS, es erwischt uns alle. Andererseits tummeln sich wahrhaftige Bücherwürmer wahrscheinlich nicht so häufig im Internet.