
- Berlins größte Nachspielstätte
Der Intendant der Berliner Volksbühne, Chris Dercon, ist nach monatelangen Anfeindungen zurückgetreten. Er ist den Erwartungen nicht gerecht geworden, die Verantwortung für das Debakel aber trägt die Berliner Politik. Die Suche nach einem Nachfolger dürfte alles andere als einfach werden
Chris Dercon, der umstrittene Theatermacher, der sich seine Meriten als Direktor des Hauses der Kunst in München und der Tate Modern in London verdiente, schmeißt seinen Job als Intendant der Berliner Volksbühne zum Ende der ersten Spielzeit. Nun ist „umstritten“ in der Kunst nicht die schlechteste Zuschreibung für einen Theaterintendanten. Frank Castorf, der das Haus jahrzehntelang prägte, war in der Szene und beim Publikum auch höchst umstritten, als er das Haus im Osten Berlins nach der Wende übernahm. „Umstritten“ stand bei ihm für schräg, provokant, für den Bruch mit der Tradition. Bei Dercon und seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock hörte man von Anfang an nur große Worte und Kulturkauderwelsch. Ein paar Performances im Museum, die Dercon als theatralisches Verdienst aufweisen konnte, waren dann doch nicht der Ideenschub für eine Stadt, in der es alles schon gibt: Vom experimentierfreudigen HAU, über das Berliner Ensemble, die Schaubühne am Lehniner Platz, dem Deutschem Theater und diversen Tanztheatern und kreativen Off-Bühnen. Daneben ein Theater mit Alleinstellungsmerkmal und Publikumsmagnet aufzubauen war schwer.
Dercon hat sich von Anfang an selbst überschätzt. Und auch diejenigen, die ihm nach der rüden Ablehnung durch die aus dem Haus vertriebene Castorf-Truppe schon aus Fairnessgründen eine Chance geben wollten, wurden von Mal zu Mal stärker enttäuscht. Wohlmeinende mochten zugestehen, dass die vorübergehende Besetzung des Hauses durch eine jugendliche Krawalltruppe und die Dauer-Attacken des Kultursenators Klaus Lederer (Die Linke) die Vorbereitungen der ersten Spielzeit behinderten. Aber noch so viel Pech und „Knüppel zwischen die Beine“ kann es gar nicht geben, um das Dercon-Desaster zu entschuldigen.
Keine Neuerungen
Dercon hat nicht Wort gehalten. Er hatte kein Netzwerk in der internationalen Theaterszene. Er wollte historische und moderne Inszenierungsstile miteinander konfrontieren – eine theatergeschichtlich interessante Idee – aber es reichte dann doch nur für drei Beckett-Einakter inszeniert vom einstigen Beckett-Assistenten Walter Asmus. Die moderne Inszenierung fiel aus. Dercon kündigte ein „neues Repertoire“ an, „in dem die verschiedensten Kulturen und Sprachen zum Ausdruck kommen und in dem sich eine wandelnde Welt spiegelt“. Dieser Ansatz war im Programm tatsächlich zu erkennen. Die „Iphigenie“ der Syrer Al Attar und Omar Abusaada wurde mit syrischen Darstellerinnen schon bei der sommerlichen Eröffnung der Dercon-Episode auf dem Flughafen Tempelhof aufgeführt und dann ins Repertoire übernommen. Es war nicht die hundertste Beschreibung von „Flucht, Bootsfahrt und Schrecken“, wie eine der Darstellerinnen sagte, sondern sie bot berührende Charakterbilder von acht Frauen, die ihre Seelenzustände beschreiben, die sie in die Flucht getrieben haben und von denen sie sich durch das Theaterspiel befreien wollten. Ein Stück über die befreiende Kraft des Theaters. Das war ein Plus für Dercons Start.
Mit der Übernahme der Susanne-Kennedy-Inszenierung „Women in Trouble“ von den Münchner Kammerspielen präsentierte er danach eine erfolgreiche Nachwuchsautorin in Berlin. Noch ein Plus. Aber es war ein Übernahme und keine Eigenproduktion. Als Kennedy dann ihre „Die Selbstmordschwestern“ als Uraufführung in Berlin herausbrachte, wurde die Inszenierung ein Flop, eher komisch als kreativ. So blieb das große Haus mangels eigener Produktionen weitgehend unbespielt und wenn gespielt wurde, war es halb leer. Den Garaus machte dem Theater eine altertümelnde Inszenierung von Dercons Lieblingsregisseur Albert Serra von dessen Stück „Liberté“. Da half auch die Verpflichtung des boulevardkompatiblen Helmut Berger nicht, um den Schlamassel zu retten. Das Publikum sagte endgültig „Tschüss“. Auch bei den Tanzaufführungen gab es – anders als angekündigt – nichts grandios Neues. Auch hier verdiente die Volksbühne sich mit Übernahmen den Ruf als Berlins größte Nachspielstätte. Für ein Haus dieser Größenordnung künstlerisch eine Pleite. Und der Pleitier? Jeder fragte sich: Wie will Dercon das überstehen? Die Pressestelle rief schon nicht mehr zurück. Jetzt ist Schluss.
Die Verantwortlichen
Bei aller Hybris des Spitzenteams, das in der wohlfeilen Kunst des Versprechens Weltmeister war, ist der selbstverschuldete Dercon-Rücktritt aber auch ein eklatantes politisches Versagen. Der Mann, der dafür Verantwortung trägt, ist Tim Renner. Ihn, von Beruf Musikproduzent, hatte Klaus Wowereit, der neben dem Amt des Regierenden Bürgermeisters auch das Kulturressort übernommen hatte, zum Kulturstaatssekretär berufen. Wowereits Nachfolger Michael Müller ließ Renner im Amt. Eine Fehlentscheidung. Kein Beispiel zeigt besser, wie Kulturpolitik ohne Kompetenz schweren Schaden anrichten kann, denn ohne Kenntnis der internationalen Theater- und Musikszene hat Renner die Berufung Dercons durchgesetzt und damit auch die Regierenden Bürgermeister am Nasenring durch die Kulturarena geführt.
Sowohl Wowereit wie Müller als Kultursenatoren sind als weisungsgebundene Chefs ihres Kulturstaatssekretärs verantwortlich für die Dercon-Pleite, die Berlins Ruf als Theaterstadt schwer geschädigt hat. Jetzt liegt das Heft des Handelns in der Hand des neuen Kultursenators Klaus Lederer. Er war und ist bekennender Castorf-Fan. Aber eine Rückkehr zum Alten ist nicht drin. Lederer ist Fan der Freien Szene, die er kräftig fördert. Jetzt muss er eine andere Bühne bespielen. Was er bei der Intendantensuche braucht, ist frei nach Goethes „Vorspiel auf dem Theater“: „Phantasie, Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft“. All das, was die Politik bisher vermissen ließ. Viel Glück bei dieser Premiere!