Blick durch Stacheldraht in das frühere Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Nie wieder? Der Blick in das frühere Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau / picture alliance

Polens Holocaustgesetz - Die Taten der Opfer

Das Holocaustgesetz ist seit gestern in Kraft. Polen betont, Wissenschaftler und Zeitzeugen seien davon ausgenommen. Aber das Reden über die Vergangenheit ist kein Exklusivrecht. Geschichte besteht aus Geschichten. Sie zu erzählen ist unser aller Aufgabe, auch und gerade die der Deutschen. Von Sarah Stricker

Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Zwei Geschichten. Die erste beginnt im Frühjahr 1946, knapp ein Jahr nach der deutschen Kapitulation, und handelt von einem, der eigentlich nur nach Hause möchte. Baruch Dorfman hat seine polnische Heimat seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Er ist krank und abgemagert, außer der Kleidung, die er am Leib trägt, besitzt er nichts. Aber er lebt noch – was in diesen Tagen schon an ein Wunder grenzt. Alle anderen in seiner Familie sind von den Nationalsozialisten ermordet worden; nur er ist, kurz, bevor die Wehrmacht anfing, die Juden des Orts auf dem Marktplatz zusammenzutreiben, noch rechtzeitig geflohen, hat sich in die Sowjetunion durchgeschlagen, in bitterster Armut gelebt, musste sein letztes Hab und Gut verkaufen, um das Geld für die Heimfahrt aufzubringen. Doch als er an der Tür klopft, die 21 Jahre lang die seine war, öffnen ihm fremde Leute. Nein, das sei jetzt ihr Haus, sagen sie, und noch mal nein, von seinen Sachen sei leider nichts mehr da, wo er denn jetzt eigentlich herkomme, wie Russland?, bist du ein Kommunist?, worauf sich die Tür ganz schnell wieder schließt. Baruch weiß nicht wohin, fährt zu Freunden, die sich ebenfalls als tot herausstellen, landet schließlich in Kielce, einer Stadt, in der vor dem Krieg rund 24.000 Juden lebten. Tausende von ihnen sind in überfüllten Massenunterkünften an Typhus gestorben oder jämmerlich verhungert, die übrigen wurden mehrheitlich nach Treblinka deportiert. Aber ein paar wenige sind auch hier der Hölle entkommen, haben es irgendwie zurückgeschafft und wohnen jetzt im ehemaligen Gemeindehaus in der Plantystraße 7, wo auch Baruch erstmal eine Bleibe findet.

Die Aussage eines verängstigten Kindes

Ungefähr zur gleichen Zeit zieht der neunjährige Henryk Blaszczyk mit seinen Eltern nach Kielce. Aber Henryk fremdelt mit der Stadt. Er vermisst seine Freunde, die Felder, die Obstbäume, auch er will nach Hause, und als seine Eltern bei der Arbeit sind, stiehlt er sich davon, springt auf einen Pferdewagen und fährt die 25 Kilometer in sein Heimatdorf. Erst am folgenden Abend kommt er zurück, drei Pfund Kirschen im Gepäck, die er ziemlich schnell verschwinden lässt, als er seinen wutschnaubenden Vater auf sich zukommen sieht. Er sucht nach einer Ausrede, murmelt etwas von einem Mann, der ihn mitgenommen habe. Freunde seiner Eltern helfen ihm auf die Sprünge, wie?, ein Fremder?, vielleicht ein Zigeuner?, oder noch schlimmer, so ein Rückkehrer? 

Am nächsten Morgen geht der Vater zur Polizeistation und gibt zu Protokoll, Henryk sei entführt und im Keller des „Judenhauses“ gefangen gehalten worden. Die Polizisten sagen dem Vater, er solle am nächsten Tag wiederkommen – und geben der Geschichte so genug Zeit, sich in der Stadt zu verbreiten. Das Gerücht des Ritualmords macht die Runde, jene seit dem Mittelalter kursierende Legende, die besagt, Juden würden Christenkinder rauben und ihr Blut zu hohen Feiertagen in Matzen einbacken; eine Frau glaubt zu wissen, dass das Pessachfest bevorstehe. Eine andere erinnert sich plötzlich daran, Schreie aus dem Keller gehört zu haben. 

Die Polizei ist keine Hilfe

Es ist der 4. April, kurz vor 10:00 Uhr, als sich die Polizisten mit Henryk und dessen Vater in die Plantystraße aufmachen, begleitet von einer wachsenden Gruppe Kielcer Bürgern. Die Stimmung ist aufgeheizt, einige Männer haben Schlagstöcke dabei, andere Eisenstangen. Henryk wird unbehaglich; in einem Interview Jahrzehnte später wird er erzählen, in dem Moment, in dem die ersten Steine durch die Scheiben flogen, habe er sich kurz überlegt, seine Lüge einzugestehen. Aber er ist noch immer ein neunjähriger Junge; jetzt das Wort gegen den tobenden Mob zu erheben, traut er sich nicht. Und es tut auch sonst keiner. Nicht die Polizisten, die tatenlos zusehen. Nicht die Soldaten, die von den Juden im Inneren telefonisch herbeigerufen werden – sich, nachdem sie ein Weilchen mit den Menschen auf der Straße geredet haben, aber doch entscheiden, lieber denen zu helfen. Ein Offizier verschafft sich Zutritt ins Gebäude, kommt ins Arbeitszimmer des Gemeindevorsitzenden Seweryn Kahane, der noch immer eine Nummer nach der anderen wählt, in der Hoffnung, jemanden an die Strippe zu kriegen, der Hilfe schickt. Der Offizier erklärt ihm, er solle die Waffen herausgeben – Waffen, die einige der Juden legal besitzen – dann würde sich schon alles beruhigen. Als der Anruf mit der Kielcer Sicherheitsbehörde zustande kommt und Kahane sich abwendet, schießt ihm der Offizier aus nächster Nähe in den Hinterkopf. 

Flucht nach Israel

Die Lage eskaliert, das Gebäude wird gestürmt, von Soldaten, bewaffneten Milizen, aber auch Zivilisten sind dabei, Hausfrauen, Bauern, schleppen die Juden an Händen und Füßen nach draußen. Zwei kleine Mädchen werden aus dem Fenster geworfen, ein Mann in den Fluss gezerrt und gesteinigt. Das Blutbad spielt sich am helllichten Tage ab, mitten in der Stadt, bis gegen 12:30 Uhr ein Trupp von 600 Arbeitern aus der Gießerei Ludwików anrückt und sich entschlossen einen Weg durch den Pulk bahnt. Die im Gebäude Verbliebenden sehen, wie sich die Menge teilt, glauben, sie würden endlich gerettet. Aber ziemlich schnell wird klar: Auch die Arbeiter empfinden das Überleben der Juden nicht als Wunder, sondern eher als ärgerliches Versäumnis. Zumindest hört Baruch immer wieder, wie sie darüber schimpfen, dass sie jetzt ihre Mittagspause opfern müssten, um Hitlers Arbeit zu Ende zu bringen. Er selbst liegt da schon mit unzähligen Knochenbrüchen auf der Straße, verliert immer wieder das Bewusstsein, hat keine Kraft, sich zu wehren, als ihm jemand ein Auge aussticht. Erst als das Morden in den Abendstunden ein Ende findet, treffen Sanitäter ein, die Baruch inmitten der 42 Toten entdecken und ihn zusammen mit über 80 Verletzten ins Krankenhaus bringen. Es dauert über ein Jahr, bis er entlassen wird, noch länger, bis er endlich das Land verlassen kann, denn ein Leben in seiner alten Heimat, das ist für Baruch nicht mehr vorstellbar. Nach Kielce geht es den meisten polnischen Juden so. 150.000 wandern in jenen Tagen aus, viele wie Baruch nach Israel. Aber auch hier braucht er Geduld, muss viele Jahre als Gemüsehändler auf dem Markt stehen, bis er die Anzahlung für ein neues Zuhause zusammen hat, eine kleine Wohnung kaufen kann, die er nie wieder verlässt, in der er bis zu seinem Tod vor anderthalb Jahren leben wird – ganz in der Nähe von der, in der ich wohne, nah genug, dass wir uns ein paar Bekannte teilen, nah genug, dass ich ihn mal hätte treffen können.

Aber das habe ich nicht. Tatsächlich bin ich Baruch Dorfman nie begegnet, kenne ihn nur aus den Dokus, die in Israel am Holocaustgedenktag laufen, aus den Interviews und Aufzeichnungen von Zeitzeugen, Journalisten, Historikern, die die Geschehnisse jenes 4. Aprils 1946 minutiös rekonstruiert haben, denn die Geschichte des Kielcer Pogroms ist gut dokumentiert, einschließlich der Gerichtsakten aus dem Prozess gegen die Täter, in dem einer auf die Frage, ob er absichtlich auf ein drei Wochen altes Kind gezielt habe, freimütig antwortet, er habe doch keine andere Wahl gehabt, immerhin habe er ja schon dessen Mutter erschossen, „sollte das Baby denn weiter schreien?“ Auf YouTube lässt sich sogar ein Ausschnitt aus der polnischen Wochenschau über die Beisetzung anschauen, die mit dem Satz endet, der Pogrom sei „von Polen verübt worden. Von der Verantwortung für diese Verbrechen können wir uns nicht freisprechen” – ein Satz, der, wenn es nach der polnischen Regierung geht, so heute nicht mehr gesendet würde. Aber dazu gleich.

Ein anderer Fall

Die zweite Geschichte ist kürzer, brüchiger und ich habe für sie nur eine einzige Quelle: die Großmutter meines Freundes. Aber wenn ich sie einmal die Woche besuche, kommen wir immer wieder darauf zu sprechen und jedes Mal fügen sich die Details mehr zusammen, erwähnt sie etwas, was ich noch nicht wusste, schließen sich die Lücken etwas weiter. Es ist die Geschichte der Familie ihres Mannes, des Großvater meines Freundes, und auch diese spielt in Polen. 

Es ist 1942, vielleicht auch schon Anfang 43, da ist die Großmutter sich nicht ganz sicher. Das Leben im Warschauer Ghetto wird immer gefährlicher. Eine Cousine des Großvaters geht morgens zur Arbeit und kommt nicht wieder, sein vierjähriger Neffe wird auf offener Straße erschossen. Die Familie hört, ihre Namen stünden auf einer Liste für einen der nächsten Transporte und entscheidet sich zur Flucht. Die Schwester des Großvaters fährt mit dem Zug zu Freunden, die ein Haus weit draußen in den Wäldern haben und fragt, ob sie bereit wären, sechs Menschen bei sich zu verstecken. Wie sie das macht, das Ghetto verlassen, als Jüdin durch die Gegend reisen, kann ich nicht sagen. Hat sie gefälschte Papiere? Jemanden bezahlt? Einfach nur Glück und wird nicht kontrolliert? Die Freunde stimmen auf jeden Fall zu. 

Am verabredeten Morgen verlassen die Sechs einer nach dem anderen das Ghetto, steigen jeweils in das vorbeifahrende Auto der Freunde ein, der Urgroßvater ist als letzter dran. Aber als der Wagen diesmal vorfährt, ruft ein Junge am Straßenrand, „ein Jude, ein Jude, haltet den Juden”. Der Urgroßvater greift in die Tasche und wirft dem Jungen etwas Geld hin, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber in dem Moment sieht er zwei Uniformierte auf sich zukommen. „Ihr kennt mich nicht”, flüstert er Richtung Auto und dreht sich weg. Seine Familie sieht nur noch, wie ihn jemand am Arm packt. Was genau mit ihm passiert, wird sich niemals herausfinden lassen. 

Solidarität in größter Not

Ich weiß nicht, wie sie die Fahrt überstehen, die von Heulkrämpfen geschüttelte Urgroßmutter auf der Rückbank. Aber irgendwie schaffen sie es in den Wald, beziehen ihr Versteck, das sie zwei Jahre lang kaum verlassen werden. Die Freunde teilen alles mit ihnen, Essen, Kleidung, Medizin, immer im Wissen, dass auf das Verstecken eines Juden die Todesstrafe steht. Einmal machen zwei deutsche Soldaten bei ihnen Halt. Sie haben Konserven dabei, lassen sich oben in der Küche etwas kochen, während die Familie unten stundenlang nicht zu atmen wagt. Als sie weiterziehen, lassen sie die restlichen Konserven da. Es ist der schönste Tag in diesen zwei Jahren. 

In all der Zeit, selbst bei größtem Hunger, selbst, wenn es Streit gibt, was in solcher Enge nicht ausbleibt, lassen die Freunde nie durchblicken, dass sie die Familie eigentlich gerne loswerden würden. Sie retten ihnen nicht nur das Leben, sondern auch den Glauben daran, dass das alles keine Lüge war, die langen Canasta-Abende bei Bisongras-Vodka, die gemeinsamen Picknicks im Sommer und das Schlittschuhlaufen im Winter, die unter den Kindern getauschten Spielsachen und Geschenke zum Namenstag, geben ihnen nicht nur eine Zukunft, sondern auch die Vergangenheit zurück.

Ein feiner Unterschied: in Polen und von Polen

Es gibt tausende Geschichten wie diese, Geschichten von Polen, die ihr eigenes Leben riskiert haben, um das eines jüdischen Freundes, Nachbarn, manchmal das eines völlig Fremden zu retten. Die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vaschem hat 6706 Polen als „Gerechte der Völker“ geehrt, mehr Menschen als aus irgendeinem anderen Volk. Es ist eine Zahl, die die polnische Regierung in diesen Tagen gerne zitiert, und sie hat recht damit, an den unglaublichen Mut dieser Leute zu erinnern, genauso, wie sie völlig korrekt betont, dass die damalige polnische Exilregierung nie mit dem Naziregime kollaboriert hat. Die unter ihrer Führung stehende polnische Heimatarmee „Armia Krajowa” bekämpfte nicht nur die deutschen Besatzer; sie belieferte auch die Untergrundorganisation im Warschauer Ghetto mit Waffen. Tatsächlich waren Polen die einzigen, die den Aufstand jüdischer Gefangener dort überhaupt unterstützten, während die USA, Großbritannien und die Sowjetunion tatenlos zusahen, wie die Revolte niedergeschlagen wurde. Ja, Polen waren im Widerstand. Ja, Polen waren Opfer. Und ja, natürlich handelt es sich bei den Lagern auf polnischem Boden um DEUTSCHE Vernichtungslager, was für jemanden, der in der Bundesrepublik aufgewachsenen ist, so offensichtlich scheint, dass viele deutsche Kommentatoren das Holocaustgesetz schlichtweg als albern abtun. Tatsächlich war ich vor einigen Wochen zufälligerweise in einem Winkel der Erde unterwegs, in dem die Shoah eher nicht ganz oben auf dem Lehrplan steht. Während einer Veranstaltung erwähnte ich etwas über deutsche Schuld – als sich eine junge Frau im Publikum meldete und sagte, sie verstehe gar nicht, was ich meine, Auschwitz läge doch in Polen.

Für mich war es das erste Mal, dass ich so etwas hörte, aber einmal „Polish death camps“ googlen genügt, um zu sehen, dass es hier nicht allein um semantische Schludrigkeit geht, sondern es tatsächlich ziemlich oft vorkommt, dass Menschen zwischen in Polen und von Polen verübten Taten nicht unterscheiden. Ob Strafandrohung hier das probate Gegenmittel ist, kann man bezweifeln. Aber natürlich ist es nachvollziehbar, dass der polnische Staat nicht für die Verbrechen anderer in Schutzhaft genommen werden möchte, dass er klarstellen will, was völlig fraglos richtig ist: dass es wir Deutschen sind, die die Verantwortung für den Holocaust tragen. 

Die Pläne der polnischen Regierung

Der nationalkonservativen PiS-Regierung geht es jedoch nicht allein darum, etwas zu korrigieren; vielmehr möchte sie die polnische Geschichte kontrollieren, sie um alles Negative darin bereinigen. Das zeigt sich nicht nur daran, wie weit das Gesetz gefasst ist, in dem es allen, die dem polnischen Volk „Schuld oder Mitschuld an Nazi-Verbrechen anlasten“ mit drei Jahren Haft droht – es zeigt sich vor allem daran, wie heftig die Regierung Kritiker des Gesetzes attackiert, allen voran Israel, an Behauptungen wie der eines Beraters von Präsident Andrzej Duda, Israels Vorbehalte rührten wohl daher, dass viele Juden sich dafür schämten, während des Holocausts zu passiv gewesen zu sein, er glaube, Israel habe „seine Vergangenheit da noch nicht ganz aufgearbeitet“. Daran, dass der polnische Ministerpräsident Mateusz Morwiecki es für geboten hielt, bei der Münchner Sicherheitskonferenz einem israelischen Journalisten gegenüber zu erklären, es habe ja übrigens auch „jüdische Täter“ gegeben. Daran, dass sein Büro kurz darauf ein Foto twitterte, auf dem zu sehen ist, wie er einen Kranz an Gräbern von Soldaten der „Heilig-Kreuz-Brigade“ niederlegt, einer polnischen Untergrundorganisation, die sich nicht der zuvor erwähnten Heimatarmee anschloss, sondern mit der Wehrmacht zusammenarbeitete. 

Das polnisch-israelische Verhältnis ist mehr als angespannt. Aber noch ist die Diplomatie nicht am Ende. Nach wochenlangen Gesprächen hat Polen zugestimmt, zumindest noch mal mit sich reden zu lassen. Seit Donnerstag tagt eine polnische Delegation in Jerusalem mit Vertretern der israelischen Regierung um zu prüfen, ob der Gesetzestext nicht doch noch modifiziert werden kann. Der polnische Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro hat angekündigt, das Gesetz nicht zur Anwendung zu bringen, bevor diese Beratungen beendet sind. Als erstes Entgegenkommen gab er zu verstehen, dass die Androhung von Haft nicht für Historiker, Journalisten oder Holocaustüberlebende gelte.

Ein seltsames Verständnis von Schuld

Aber das Reden über Geschichte ist kein Exklusivrecht. Geschichte besteht aus Geschichten, aus schrecklichen, ermutigenden, schönen und traurigen. Sie zu erzählen kann nicht einem kleinen Kreis von Experten vorbehalten sein, sondern ist unser aller Aufgabe, gerade in einer Zeit, in der Menschen wie Baruch Dorfman es nicht mehr selbst tun können, in der wir das, was ihnen passiert ist, an ihrer statt im kollektiven Gedächtnis wachhalten müssen. 

In Deutschland tun wir uns damit bisweilen schwer – nicht mit Geschichten wie der zweiten; über die Tapferkeit der Helfer und Widerständler reden wir gern, wohl auch, weil wir neben den Geschwistern Scholl und der Roten Kapelle hier leider erschreckend wenig vorzuweisen haben. Aber von Geschichten wie der ersten hört man weniger, vielleicht weil viele Angst haben, den Eindruck zu erwecken, sie wollten die deutsche Schuld relativieren, weil sie die Diskussion lieber anderen überlassen möchten, den Juden, den Israelis, den Polen selbst. Zumindest höre und lese ich in den letzten Tagen immer wieder, Deutschen stünde es besser an, sich bei dem Thema einfach mal still zu verhalten, es sei nun wirklich nicht unsere Aufgabe, Polen irgendwelche Belehrungen zu erteilen – was jedoch von einem etwas seltsamen Verständnis von Schuld zeugt.

Deutschlands Verantwortung

Schuld ist keine Waage, die sich auf der einen Seite hebt, wenn sie sich auf der anderen senkt, sie balanciert sich nicht aus. Die Verbrechen der Deutschen wiegen keinen Deut weniger schwer, wenn Polen ebenfalls Schuld auf sich geladen hat. Hass ist Hass. Mord ist Mord. Und die sechs Millionen Leben, die die Nazidiktatur ausgelöscht hat, können durch nichts relativiert werden. 

Natürlich trägt Deutschland die Verantwortung für den Holocaust. Aber vor allem trägt es Verantwortung dafür, dass sich so etwas nicht wiederholt, dafür, den Mund aufzumachen, wenn Juden Unrecht geschieht, sich mit aller Kraft gegen Antisemitismus einzusetzen – und Antisemitismus ist auch, Verbrechen gegen Juden zu leugnen, Opferschicksale zu verschweigen oder Tatsachen zu verdrehen. Die Verteidigung der Wahrheit kann nicht allein den Betroffenen aufgebürdet werden, oder zumindest sollten wir es nicht tun, wenn wir uns von so etwas wie Fakten auf lange Sicht nicht ganz verabschieden wollen.

Das Haus in der Plantystraße 7 steht übrigens noch immer. Nach dem Pogrom ging Henryk ein paar Mal hinein. Einen Keller hat er darin nicht gefunden.

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Joachim Wittenbecher | Fr., 2. März 2018 - 10:31

Ein erschütternder und anrührender Beitrag von Frau Strücker. Ich kann sehr gut verstehen, dass die polnische Regierung und Gesellschaft sich dagegen wehren, dass die deutschen KZs auf polnischem Boden gedankenlos als "polnische KZs" benannt werden. Wir müssen das als Deutsche am allerwenigsten kritisieren. Es ist eine innere Angelegenheit Polens, wie dort damit umgegangen wird, ggf. auch juristisch. Fatal ist, dass dieses legitime Ansinnen mit weiteren nationalistischen Ambitionen nach einer positiven geschichtlichen Darstellung verbunden wird; so ist der polnische Regierungsaufruf an Auslandspolen, negative Meinungsäußerungen über Polen an Botschaften, Konsulate etc. zu melden, nichts anderes als ein Aufruf zur Denunziation und eine Souveränitätsverletzung für die davon betroffenen Länder. Hierfür habe ich kein Verständnis. Auch Polen muss wissen, dass es unabsehbare Gefahren für sich selbst heraufbeschwört, wenn es Putins Russland in der inneren Verfassung immer ähnlicher wird.

martin falter | Fr., 2. März 2018 - 10:32

richtig das gerade wir Deutsche die Verantwortung haben wenn es darum geht rechtzeitig Unrecht zu bemerken und wenn möglich zu verhindern. Das heißt aber nicht automatisch dass wir uns als Weltpolizist aufspielen dürfen. Aber spätestens meine Kinder sind ganz bestimmt nicht mehr verantwortlich für Taten die seit nunmehr 70 Jahren begangen wurden. Unrecht geschieht immer noch und in letzter Zeit verstärkt und ich kann nicht feststellen ob es da einen Unterschied macht ob es Russen, Amerikaner, Israelis oder Polen und Deutschen usw. usw. begehen. Unrecht bleibt Unrecht und es muss möglich sein darüber zu reden. Wer versucht wie Polen die Vergangenheit zu verschweigen und zu verbieten hat keine Zukunft!

Christa Wallau | Fr., 2. März 2018 - 11:14

sollten beim Umgang mit Geschichte eigentlich
selbstverständlich sein. Aber faktisch geht es n i e
so zu bei denen, die über Ereignisse der
Vergangenheit reden, um politisch Nutzen daraus zu ziehen. Nicht einmal Historiker, die wissenschaftlich forschen und Bücher schreiben, sind gefeit gegen einseitige Betrachtungen und
Urteile.
Daß es verbreitet Antisemitismus in Polen gab und gibt, kann kein ernst zu nehmender Mensch bestreiten. Pogrome, wie sie die Autorin beschreibt, sind nachweisbar vorgekommen.

Worum es in Polen geht, das ist das BILD, das
dieser Staat mit dieser speziellen Regierung vom Land (= der Nation) zeichnen will. Im krassen Gegensatz zu D, wo das Negative der Landesgeschichte krankhaft überbetont wird, soll eben in Polen nur das Positive herausgestellt werden.
Beides ist gleich falsch und dumm, weil es der
Realität Hohn spricht und zu nichts Vernünftigem führen kann.

Gerdi Franke | Fr., 2. März 2018 - 11:19

Wer sagt uns was unsere Aufgabe ist? Es gibt eine deutsche Geschichte mit der wir uns auch befassen und die wir verantworten. Es gibt aber auch Interessengruppen die und ihre Sicht der Geschichte aufzwingen wollen. Und das lasse zumindest ich mir nicht gefallen!

Birgit Fischer | Fr., 2. März 2018 - 11:22

Was Polen tut, ist sachlich richtig und nachvollziehbar. Auch ich habe mich oft empört, wenn ich von "polnischen Vernichtungslagern" gelesen und gehört habe. Es waren deutsche Vernichtungslager auf von der Hitler-Wehrmacht erobertem polnischen Staatsgebiet.
Deshalb gibt es (jetzt bei Strafe) keine vom polnischen Staat organisierte Juden-Vernichtung. Es ist gut und richtig, wenn entgegenstehende Behauptungen nun durch Gesetz betraft werden können. Schließlich ist in der BRD die Leugnung des Judenmordes auch strafbar. Warum soll Polen dieses Recht nicht haben. Völlig anderes liegt das Problem, inwieweit einzelne Polen oder Gruppen von Polen Straftaten gegen Juden begangen haben. Diese Taten gab es und hierfür haben diese Polen Schuld. Deswegen waren Taten aber nicht staatlich organisiert. Fakt ist, Polen als Staat hat keinen Judenmord organisiert. Deshalb gab es keine "polnischen Vernichtungslager", denn dieser Begriff assoziiert, Polen hätte Lager geplant, gebaut, betrieben.

Stefan Leikert | Fr., 2. März 2018 - 12:14

Vielen Dank, Frau Stricker, für diesen Artikel mit seiner gebührenden Ausführlichkeit. Eigentlich müsste ja noch länger und breiter und mehr erzählt werden, damit man angesichts der Wahrheit endlich zu ruhiger, stiller Trauerarbeit übergehen kann. In Deutschland heißt das "Aufarbeitung", ist ganz gut, aber nicht das, was wirklich notwendig ist. Bitte schreiben Sie mehr!

Albert Schultheis | So., 4. März 2018 - 22:36

Geschichten, die das arrivierte Bild der offiziellen Geschichtsschreibung stören oder "besudeln", wurden in allen Zeiten verboten. So gab und gibt es auch Geschichten, die im heutigen, so grenzenlos freien Deutschland mit Tabu belegt sind. Das sind z.B. die vielen grausamen und schockierenden Geschichten deutscher Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Die Generation dieser deutschen Flüchtlinge musste aussterben, ohne jemals die Chance bekommen zu haben über ihre Erlebnisse vor, während und nach ihrer Flucht aus dem Osten zu erzählen. Es hätte ihren Seelen und uns Jüngeren Deutschen gut getan, aber man hat es ihnen verwehrt. Aber es ist natürlich immer erbaulicher, wenn man mit Fingern auf andere zeigen kann.