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Richard von Weizsäcker - Der Mann, der die Schuldfrage stellte

Er war der erste Bundespräsident, der die Deutschen nicht nur schnörkellos mit ihren Verbrechen konfrontierte, sondern auch seine eigene Rolle in der Nazi-Zeit reflektierte: Der mit 94 Jahren verstorbene Richard von Weizsäcker wird als Wegbereiter eines anderen Deutschlands in Erinnerung bleiben

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Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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Er gehörte zu den ersten deutschen Soldaten, die am 1. September 1939 in Polen einfielen. Und er war 46 Jahre später der erste Bundespräsident, der diesen Überfall als „Verbrechen“ bezeichnete.

Richard Karl Freiherr von Weizsäcker, der am Samstag im Alter von 94 Jahren gestorben ist, hatte den Mut, öffentlich eine Lebenslüge anzuprangern, die eine Zeit lang auch seine eigene gewesen sein mag. Es ist eine Lebenslüge, die damals wie heute von zu vielen Deutsche geglaubt wird: dass Deutschland nur an der Übermacht seiner Gegner zugrunde gegangen ist – und nicht an sich selbst. Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches  am 8. Mai 1945 und die daraus resultierende Teilung des Landes – so die Kernbotschaft seiner berühmtesten Rede – sind nicht zu trennen vom 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Adolf Hitler die Macht übernahm.

Es war diese Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, die seinen Ruhm begründete. Sie sollte ein Maßstab für alle ihm nachfolgenden Amtsinhaber werden. Der CDU-Politiker Weizsäcker erreichte und bewegte mit ihr viele Menschen, auch und gerade außerhalb seiner Partei.

Weizsäcker sprach vom „Tag der Befreiung“


Dass ein Bundespräsident den Tag der Niederlage einen „Tag der Befreiung“ nennt, war etwas völlig Neues, bislang Ungehörtes. Weizsäcker schockierte damit zwar einige Unbelehrbare am rechten Rand. Aber er gewann Sympathien bis weit hinein ins linke Spektrum der Gesellschaft. Viele 68er, die sich gegen ihre Väter und Mütter gerade deshalb aufgelehnt hatten, weil die über Krieg und Terrorherrschaft der Nazis und über ihre eigenen Verstrickungen nie oder viel zu selten geredet hatten, fühlten sich von diesem Bundespräsidenten verstanden und mitgenommen.

Weizsäcker war gerade ein Jahr im Amt, als er diese Rede am 8. Mai 1985 – im alten Bonner Bundeshaus – hielt. Niemals zuvor hatte ein Staatsoberhaupt so eindringlich und schnörkellos über Schuld und Versagen der Deutschen geredet: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Fantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah“.

Gleichzeitig hatte er in seiner Rede auch derer gedacht, die in den meisten Gedenkreden unerwähnt bleiben: Nicht nur der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden, nicht nur der Millionen von Russen und Polen, die ihr Leben lassen mussten, nicht nur der Deutschen selbst, die im Krieg umkamen, ausgebombt oder vertrieben wurden, sondern auch der vielen ermordeten Sinti und Roma, der getöteten und totgeschwiegenen Homosexuellen, der Geisteskranken, die ermordet, der Geiseln, die erschossen, der Widerstandskämpfer in Deutschland und in den besetzten Gebieten, die gehängt, der Fahnenflüchtigen, denen der Prozess gemacht worden war. Keiner blieb unerwähnt.

Meister der politischen Rede


Zu Recht hat Bundespräsident Joachim Gauck jetzt den Verstorbenen als einen Mann gewürdigt, der „weltweit für ein Deutschland (stand), das seinen Weg in die Mitte der demokratischen Völkerfamilie gefunden hatte.“ Er stand, so Gauck in einem Kondolenzschreiben an die Witwe, „für eine Bundesrepublik, die sich ihrer Vergangenheit stellt.“

Richard von Weizsäcker war nicht nur ein Meister der politischen Rede. Er war als politischer Mensch auch nicht frei von Eitelkeiten. Gern inszenierte er sich als das politische Kontrastprogramm des wuchtigen Machtmenschen Helmut Kohl. Und das war auch nicht schwer.

Sie gehörten zwar einer Partei an. Aber im Grunde trennten sie Welten. Dabei war Kohl es, der den jungen Richard von Weizsäcker aus der Vorstandsetage eines Chemiekonzerns zur Politik geholt und aufgebaut hatte.

Es war die Zeit, als Kohl selbst noch als Rebell gegen das Establishment auftrat. Er umgab sich, um seinen Reformeifer auch personell zu untermauern, mit einer jungen Garde von CDU-Politikern – Norbert Blüm, Kurt Biedenkopf, Heiner Geissler und eben Richard von Weizsäcker.

Protegé von Helmut Kohl


Der schlanke Freiherr – bundesweit bekannt als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages – war 1954 in die CDU eingetreten. 1966 stieg er, dank Kohls Protektion, in den Bundesvorstand auf. Aber als Kohl ihn zwei Jahre später zum Kandidaten der CDU für das Amt des Bundespräsidenten machen wollte, scheiterte er. Den CDU-Granden war Weizsäcker zu liberal. Sie ließen ihn in der internen Abstimmung mit 20 gegen 65 Stimmen durchfallen.

An seiner Stelle wurde der knochentrockene CDU-Politiker Gerhard Schröder nominiert, der dann allerding 1969 bei der Präsidentenwahl mit nur wenigen Stimmen dem SPD-Kandidaten Gustav Heinemann unterlag.

Es folgten einige parteiinterne Niederlagen. 1973 verlor Weizsäcker den Kampf um den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Statt seiner wählten die Unionsabgeordneten den ehemaligen Staatssekretär Karl Carstens (der später auch Bundespräsident wurde).

1974 hatte Kohl es dann geschafft, Weizsäcker als Präsidentschaftskandidaten der Union nominieren zu lassen. Diesmal aber scheiterte der Christdemokrat an den Freien Demokraten, die zusammen mit den Sozialdemokraten ihren ehemaligen Vorsitzenden Walter Scheel zum Präsidenten kürten. 1976 war Weizsäcker dann Mitglied im Schattenkabinett Helmut Kohls, als der fast die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl holte, aber trotzdem Oppositionsführer bleiben musste, weil die FDP in Bonn an der Seite der SPD blieb.

Der Vater war Hitlers Staatssekretär


1979 wollte Weizsäcker dann Regierender Bürgermeister von Berlin werden. Es war die Stadt, in der er – obwohl am 15. April 1920 im Neuen Schloss zu Stuttgart geboren – aufgewachsen war. Sein Vater, Ernst von Weizsäcker, war Staatssekretär in Hitlers  Außenministerium und später Botschafter beim Vatikan. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war er erst zu acht, dann zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Sohn Richard, der angehende Jurist, half bei der Verteidigung. 

In Berlin holte Weizsäcker als CDU-Spitzenkandidat zwar beachtliche 44,4 Prozent und machte die CDU damit zur stärksten politischen Kraft in West-Berlin. Aber ins Schöneberger Rathaus einziehen konnte er trotzdem nicht: Die Liberalen hielten damals noch zur SPD. Amtsinhaber Dietrich Stobbe konnte Bürgermeister bleiben. Erst zwei Jahre später – inzwischen war Weizsäcker Vizepräsident des Deutschen Bundestages geworden – gelang ihm in Berlin der Durchbruch. Es gab vorgezogene Wahlen. Weizsäcker löste Hans-Jochen Vogel ab, der nur ein halbes Jahr in West-Berlin regiert hatte.

Weizsäcker hatte schon früh zu erkennen gegeben, dass er mit der Deutschland- und Außenpolitik seiner Partei nicht einverstanden war. Anfang der 70er Jahre tobte zwischen der Union und der von Willy Brandt geführten sozialliberalen Koalition der Kampf um die Ostverträge. Richard von Weizsäcker wandte sich mit einigen anderen Unionsabgeordneten gegen die Mehrheitsmeinung der CDU/CSU – und stimmte für die Verträge mit Polen. Schon zehn Jahre zuvor, im Jahr 1962, hatte der Freiherr die seit der Adenauer-Zeit geltende Hallstein-Doktrin bekämpft: Deren Ziel war es, die DDR international zu ächten und zu isolieren. Schon dies hatte Weizsäcker bei den Hardlinern in der Union verdächtig gemacht.

Auf Linie mit Willy Brandts Ostpolitik


Als Regierender Bürgermeister knüpfte er Kontakte zu den Machthabern jenseits der Mauer. Und genau diese Deutschland- und Entspannungspolitik setzte er auch fort, als er schließlich Bundespräsident wurde. Sehr zum Verdruss seines einstigen Förderers Kohl ließ der Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Draht nach Ost-Berlin nie abreißen. Es gab gelegentlich auch geheime Treffen mit DDR-Spitzengenossen. Kohl erfuhr davon und tobte. Aber Weizsäcker ließ sich nicht beirren.

Allerdings grämte es ihn schon, dass in der Rückschau immer nur vom „Kanzler der Einheit“ die Rede war – nie vom „Präsidenten“. Nach dem Fall der Mauer machte er sich für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland stark. Gegenüber dem Pergamon-Museum, am Berliner Kupfergraben, bezog er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt ein Büro – gleich nebenan wohnt Kanzlerin Angela Merkel. Hier gab Weizsäcker Interviews. Im kleinen Kreis stichelte er gern über andere Politiker – allerdings strich er die meisten Sottisen hinterher immer aus seinen Interviews heraus. Wie Helmut Schmidt zählte er zu den Wortmächtigen, deren Urteil immer noch gilt und gern zitiert wird.

Immer noch hoch aktuell angesichts fremdenfeindlicher Protestumzüge in Dresden und anderswo liest sich der Schluss seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1985: „Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander!“

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