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Für einen pluralen Islam - Nicht die Konservativen stärken

Kolumne Grauzone: Es gibt nicht die Religion – sondern nur Gläubige und ihre Interpretationen. Wer von dem Islam und dem Christentum redet, untergräbt die liberale Gesellschaft. Dabei sollten Vertreter einer individualistischen Strömung gefördert werden

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Nun haben wir es hauptamtlich bestätigt bekommen. Die Bundeskanzlerin sagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Abgesehen davon, dass diese Aussage entweder trivial ist oder kompletter Unsinn: Sie zeugt nicht nur davon, dass Angela Merkel ihr politischer Kompass abhanden gekommen ist, sondern vor allem auch von einem vollkommenen Unverständnis von Religion – und deren Verhältnis zur Gesellschaft.

Beginnen wir bei der Religion. Es mag eine Banalität sein, aber offensichtlich kann man es nicht oft genug wiederholen: Die Religion gibt es nicht. Es gibt nicht das Judentum, nicht das Christentum und auch nicht den Islam. Deshalb ist der Islam weder eine Religion des Friedens noch des Krieges oder sonst irgendwas.

Im Grunde machen unsere hoch einfühlsamen Islamversteher denselben Fehler wie die blindwütigen Islamkritiker: Sie gehen davon aus, dass es einen wahren, eigentlichen Islam gibt und einen falschen oder verfälschten. Das aber ist naiv.

Nicht der Islam gehört zu Deutschland, sondern Menschen islamischen Glaubens


Die drei monotheistischen Religionen sind bekanntermaßen Buchreligionen. Sie gründen auf heiligen Schriften. Doch Tanach, Bibel und Koran sind hoch literarische Texte. Sie haben nicht die eine, wahre Bedeutung. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist Vieldeutigkeit – anders etwa als bei Gebrauchsanweisungen – schon in ihnen angelegt, in ihren sprachlichen Bildern, ihren Metaphern, ihren mehrdeutigen Bezügen. Dass verschiedenen Autoren über einen längeren Zeitraum an ihnen gearbeitet haben – auch am Koran –, macht die Sache nicht einfacher.

Zudem liegen zwischen der Entstehungszeit und unserer Gegenwart 3000, 2000 oder 1400 Jahre. Selbst das Verständnis spätantiker Religionstexte (Koran) ist durch diese kulturelle Differenz hoch problematisch – auch für Arabisch Sprechende.

Kurz und gut: Es gibt so viele Interpretationen des Korans wie es Leser gibt. Bedeutungen von Texten, auch von religiösen Texten, entstehen im Kopf. Sie sind nicht an ein Buch, an Papier oder an Druckerschwärze gebunden.

Doch das Gerede von „dem“ Islam ist nicht nur aus textwissenschaftlichen Gründen unsinnig. Es offenbart vor allem eine zutiefst kollektivistische und antipluralistische Auffassung von Religiosität.  Religionen sind keine amorphen Gebilde, in denen der Einzelne namenlos aufgeht – auch wenn Konservative oder Fundamentalisten das gerne so hätten. Eine Religion existiert und lebt immer nur in jedem Einzelnen. Nicht der Islam gehört zu Deutschland, sondern Menschen, die islamischen Glaubens sind.

Dass nun ausgerechnet die gutmeinenden Vertreter des Westens sich einer antiindividualistischen Redeweise bedienen, lässt tief blicken. Soweit also ist man den konservativen Religionswächtern schon auf den Leim gegangen. Kein gutes Zeichen.
 

Das ist besonders bedenklich, weil die antipluralistische Auffassung von Religion erhebliche Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Aus konservativer Sicht hat eine Religion nicht nur die eine, eigentliche und wahre Lehre. Ihr kommt aus diesem Grund auch ein normatives Regelungsmonopol zu, das über das Religiöse weit hinausgeht. Die Folge: Antipluralistische Religionsauffassungen unterlaufen die Trennung von Religionskultur und Alltagskultur. Wo es nur eine Wahrheit gibt, kann es keine anderen geben.

An diesem Punkt kommen konservative Religionsdeutungen in erheblichen Konflikt mit modernen, individualistischen Gesellschaften. Wir kennen das Problem aus unserer eigenen, christlichen Geschichte nur zu gut.

Das bedeutet: Die Integration einer Religion in eine pluralistische Gesellschaft kann nur gelingen, wenn ihre Anhänger sie als eine spirituelle Haltung auffassen, die eine Vielzahl von Deutungen und Lebensweisen zulässt. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Trennung von privater religiöser Überzeugung und allgemeiner, öffentlicher Kultur möglich.

Genau dieser dringend notwendigen Pluralisierung des islamischen Selbstverständnisses arbeitet aber das gedankenlose Gerede von „dem“ Islam entgegen.

Religion und Alltagskultur streng trennen


Verschärft wird die Situation dadurch, dass die deutsche Politprominenz sich nicht zu schade ist, sich in staatstragender Pose und Arm in Arm mit Vertretern konservativer Islamverbände ablichten zu lassen. So dem Zentralrat der Muslime, in dem, trotz seines großsprecherischen Namens, bestenfalls 0,5 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime organisiert sind. Von denen allerdings stehen nicht wenige den Muslimbrüdern nahe (etwa die IGD, Islamische Gemeinschaft in Deutschland), weshalb man im Zentralrat etwa auf die Islamkritikerin Necla Kelek alles andere als weltoffen, tolerant oder liberal reagiert.

Auch die Teilnahme der DITIB, also des verlängerten Armes der türkischen Religionsbehörde und damit von Erdogans AKP, und des Islamrates, dem auch der konservative und nationalistische Milli Görüş angehört, weckt eher zwiespältige Gefühle.

Es wäre ein tragischer Treppenwitz der Geschichte, wenn der Terror des IS und die Anschläge von Paris ausgerechnet den konservativen Islam und seine Verbände stärken würden – nur weil die deutsche Öffentlichkeit schon froh ist, dort Muslime zu finden, die nicht gleich zur Kalaschnikow greifen.

Doch Pluralismus und Liberalismus bedeuten sehr viel mehr als Gewaltfreiheit und das gebetsmühlenhafte, ritualisierte Sich-Distanzieren vom Terror. Sie bedeuten anzuerkennen, dass es mehrere Lesarten einer Religion gibt und dass Religion letztlich eine Sache des Einzelnen ist. Religion und Alltagskultur sind daher streng zu trennen.

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