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Armutsmigration und Populismus - Hört dem Stammtisch zu!

Kisslers Konter: Im Wahlkampf konnte keine Partei dem kleinen Mann genug versprechen. Der sitzt aber auch am Stammtisch, auf den Politiker in der Diskussion um Armutsmigranten aus Rumänien und Bulgarien nun verächtlich und realitätsfern herunter blicken. Dabei ist er der Kristallisationspunkt der Debatte

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Ein Stammtisch ist eine feine Sache. Man trifft sich nach Feierabend, wenn des Tages Ärger fast verraucht ist. Man sitzt im Kreise derer, denen es kaum anders erging, greift nach einem Getränk und redet sich die Reste des Missvergnügens von der Seele. Dann ist wieder gut, die Sorgen werden kleiner, die Witze etwas derber, auf den Durst folgt der Appetit. Der Stammtisch ist die Gruppentherapie des kleinen Mannes – und um die kleinen Leute will sich die SPD doch laut ihrem Vorsitzenden besonders kümmern.

Angst vor Armutswanderung: Seehofer hört besser zu als Gabriel


Wie kommt es dann, dass aus ihren Reihen der Vorwurf der Stammtischparole derart schnell bei der Hand ist? Wer Stammtischparolen verbreite, schimpft die SPD, der sei kein guter Demokrat, der fische im Trüben, vielleicht gar am ominösen „rechten Rand“, der offenbar gleich neben der SPD beginnt. Wer das Ohr der kleinen Leute gewinnen will, der muss aber seinerseits genau hinhören, was in der Stammtischrepublik Deutschland das Volk umtreibt.

Dies gelingt momentan Horst Seehofer besser als Sigmar Gabriel. Kein Wunder, hat der bayrische Sonnenkönig mit dem elastischen Wertegerüst doch die absolute Mehrheit bei den letzten Landtagswahlen errungen, während Gabriel sich ein 25-Prozent-Debakel schön reden muss. Seehofer kennt den Puls des Volkes, Gabriel nimmt lieber am eigenen Maß.

Mit der Debatte über die, wie es im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD heißt, „Armutswanderung“ hat Seehofer die anderen Parteien der Realitätsflucht überführt. Einsatz für, wie es im Koalitionsvertrag weiter heißt, neue gesetzliche Regelungen, mit denen die „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden“, zeigt die CSU momentan allein. Dieser Eindruck ist gewollt und natürlich ebenfalls strategisch.

Am Stammtisch wird die Welt tief empfunden


Es ist ein Populismus ohne schlechtes Gewissen, und deshalb stößt er in weiten Teilen des Volkes auf Zustimmung. Laut einer Umfrage sehen 55 Prozent der Deutschen die neue Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen mit Sorge. Natürlich gibt es neben hoch motivierten, bestens qualifizierten Arbeitskräften auch von dort zureisende Gruppen mit sinistren Absichten. Ärzte und Ingenieure gibt es ebenso wie Hütchenspieler. Das Eine zu bestreiten ist ebenso töricht, wie das Andere zu leugnen.

Am Stammtisch wird die Welt nicht erfunden, sondern auf eine bestimmte Weise tief empfunden. Blind wäre eine Politik, die sich ganz in das Laboratorium der Ideen und Konzepte zurückzieht und den Blick aus dem Fenster verweigert. So und nicht anders züchtet man Politikverdrossenheit, Elitenverachtung und Demokratieskepsis.

Zur Lebenswirklichkeit gehört es zum Beispiel, dass laut Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann 80 Prozent der Berliner Intensivtäter einen Migrationshintergrund haben. Diese Zahl wird nicht geringer, wenn man nach Kinderart die Augen schließt und alle Nöte im eigenen Dunkel verschwunden wähnt.

Unbehagen der Bevölkerung ernst nehmen


Und zum Realismus des Stammtisches rechnet auch die Erfahrung des niederländischen Autors Leon de Winter, seit „Holland zu den bevorzugten Einwanderungsländern der Rumänen“ gehöre, gebe es „mehr Kriminalität, mehr Bettler. An jeder Ecke in Amsterdam steht einer, der Akkorden spielt. Er beherrscht genau eine Melodie und spielt diese den ganzen Tag. Natürlich sollten wir die Rumänen unterstützen. Aber ich glaube nicht, dass wir sie in die westeuropäische Gesellschaft integrieren, wenn wir sie in Amsterdam Akkordeon spielen lassen.“

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi sagte unlängst, jedes Unbehagen in der Bevölkerung, wie berechtigt oder unberechtigt es sein mag, müsse man ernst nehmen. Gleiches gilt von den Realitäten jenseits aller Ideen und Konzepte. Der Stammtisch ist nie das Ende, wohl aber der Kristallisationspunkt der Debatte. In diesem Sinne: Ihr Politiker, hört genauer hin, was der Stammtisch zu sagen hat und diffamiert nicht die Stammtischbrüder und -schwestern, diese sonst so umgarnten kleinen Leute. Auch ihr sitzt ja an einem solchen Rund.

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