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(picture alliance) Die wahre Revolution sieht Orbán in seinem Wahlsieg.

Nationalismus - Wie sich die Ungarn von Orbáns Gift befreien könnten

Wie können die Nachbarn den Ungarn helfen, sich von der erdrückenden Dominanz durch Viktor Orbán zu befreien? Indem sie Hinsehen und die Menschen dort ernst nehmen. Das beste Beispiel dafür liegt nun in gedruckter Form vor. Eine Leseempfehlung von Gunter Hofmann

Spät, aber immerhin hat die Brüsseler EU-Kommission begriffen, dass sie sich in Ungarn einmischen muss. Im Cicero ist oft daran erinnert worden. Einmischung ist bitter nötig. Aber wie? In der Süddeutschen Zeitung sowie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung haben ein deutscher und ein ungarischer Autor, Jan-Werner Müller sowie Péter Zilahy, dringend geraten, hinzusehen und zu intervenieren, aber „nicht von oben herab“ und „vorsichtig“. Orbán dürfe nicht zum Märtyrer gemacht werden. Man müsse den Ungarn helfen, sich von seiner erdrückenden Dominanz zu befreien, sie selber aber ernst nehmen.

Das beste Beispiel, wie man hinsieht und die Nachbarn ernst nimmt, liegt frisch gedruckt vor. Ich möchte es zur Lektüre dringend empfehlen. Das jüngste Sonderheft der Zeitschrift „Osteuropa“ steht unter dem Titel „Quo vadis, Hungaria?“ Unter diesem Titel befassen sich zahlreiche ungarische und deutsche Autoren kompetent und differenziert mit Orbáns Politik und dem Gift, das er in ein ohnehin vergiftetes Land injiziert.

Die Akademie der Künste in Berlin und die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die diese engagierte und hochseriöse Zeitschrift herausgibt, veranstalteten jüngst auch einen gemeinsamen Abend zur Lage der Demokratie in Ungarn. Die wahre Revolution fand, wie in dem Heft nachzulesen, aus Orbáns Sicht nicht 1989 statt, sondern erst jüngst mit seinem Wahlsieg. Zwei Tage, bevor in der Akademie die Bilder vorgestellt wurden, hatte Orbán sich im Straßburger Parlament seinen Kritikern gestellt, Nebelkerzen geworfen und sich missverstanden gefühlt. Alles normal, alles sehr europäisch, was wir da machen in Ungarn! Im Parlament redeten die Grünen, die Liberalen und die Sozialisten über das mit Europa Unvereinbare Tacheles. Die Europäische Volkspartei (EVP) hingegen, zu der Orbáns Fidesz gehört, hielt sich zurück. Aus dem Kanzleramt, drei Minuten von der Akademie entfernt, war zu Orbán bislang kein kritisches Wort zu hören. Orbán wiederum resümierte nach der Visite herablassend, „sehr europäisch“ sei ihm Straßburg vorgekommen, in Ungarn denke man anders, nämlich - ungarisch und christlich.

„Quo vadis, Hungaria?“ ist eine gedruckte Einmischung und will das auch sein. Wir hören zu und sehen hin, lautet die Botschaft. Wie gerufen kommt diese Haltung, es brennt. Uns Europäer geht an, was Europäern in der Nachbarschaft widerfährt. Die Mediengesetze beispielsweise sind bereits nach gusto der Fidesz zugeschnitten worden. Eine entsprechende Wahlrechtsänderung folgt, die es den Oppositionsparteien unmöglich machen soll, die Dreiviertel-Herrschaft abzuschütteln.

Machtergreifung auf demokratisch! In einem klugen historischen Abriss („Blicke auf ein gespaltenes Land“) erklärt der Jenaer Historiker Joachim von Puttkamer so abwägend wie deutlich: Der Bezug auf das historische Ungarn müsse nicht zwangsläufig nur „als Beschwörung vergangener Größe und Heldentums“ herangezogen werden, die Geschichte ließe sich auch als Appell an die Kompromissfähigkeit und  freiheitliche Rechtsordnung nutzen. Aber die neue Verfassung wolle festlegen auf ein „nationalkonservatives Geschichtsbild“ und eine „ethnische Nation“. Es sei ein in Europa „einmaliger Vorgang“, dass eine umstrittene Deutung historischer Probleme nicht nur per Gesetz festgeschrieben werde, sondern zugleich auch Verfassungsrang erhalte.

Auf der nächsten Seite: Aus den klugen Texten spricht der Verfassungspatriotismus

Der Weg zum „wahren Ungarn“, auch das lässt sich in der Zeitschrift studieren, ist mit scheinbar kleinen Retuschen an Gesetzen und Verfassungsparagraphen gepflastert: Nicht mehr von der „Republik Ungarn“ ist im Grundgesetz die Rede und auch nicht vom „Volk“, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. „Nationales Bekenntnis“: So prangt es über dem Grundgesetz-Text. Schon im ersten Satz heißt es, „wir, die Mitglieder der ungarischen Nation“, erklären, stolz darauf zu sein, dass der Heilige Stephan I. den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf festen Fundamenten errichtete „und unsere Heimat zu einem Bestandteil des christlichen Europa machte.“ In dieser Suada setzt sich das fort.

In einem ironischen, kleinen, freilich auch verzweifelten Prosakunststück wundert der Schriftsteller Lászlo Darvasi sich darüber, dass die alten „Lautsprecher“ nach zwanzig Jahren plötzlich wieder Verwendung finden, wie „in der guten alten Zeit“. In den Nachrichten werde soeben berichtet, vom „neuen Bauleiter“ werde ein falsches Bild gezeichnet… „Krepieren“ wünschen die Lautsprecher ihren Kritikern.

Alles nur Karikaturen der wahren Absichten? Keineswegs, weiß man nach der Lektüre. Vorgestellt wird „Bauleiter“ Orbán in den Texten der Politologen, Historiker, Journalisten, Autoren nicht platt als autoritärer, sondern als „opportunistischer“ Politiker, der seine Revolution im Parlament mit einer „Blitzkriegstaktik“ durchziehen wolle. Die unabhängige Rechtsprechung wird bedroht, die Gewaltenteilung „praktisch beseitigt“. Es eilt mit dem Radikalumbau, denn dem Land geht es ja nicht gut. Wer weiß, wann die Stimmung umschlägt, dann muss der Versuch, sich aus der Demokratie zu schleichen, erfolgreich beendet sein. „Autokratie in Aktion“ nennt der Soziologe Bálint Magyar das, was die Fidesz betreibe. Es gebe nur noch Freunde oder Feinde.

Sein Land, so der Schriftsteller Rudolf Ungváry, zahle jetzt den „Preis für die Risiken der Freiheit ohne die Erfahrung mit der Freiheit“. Die ungarische Rechte werfe der europäischen Linken den Fehdehandschuh hin. Das erwecke Solidarität in der europäischen Rechten, obwohl diese längst die Gespenster aus der Vergangenheit abgeschüttelt habe, die sich in Ungarn neu regen. Ungváry: „Es wäre eine Farce, wenn der Beitritt jener Länder zur EU, die sich seit je danach gesehnt hatten, vollwertige Mitglieder Europas zu sein, zum Instrument der Spaltung Europas werden würde.“

Was aus den Texten spricht, ist – mit einem großen Wort – Verfassungspatriotismus. Kluge, kritische, liebevolle Interventionen wie diese sind der beste Beitrag zur Europäisierung Europas. 

Ansehen kann man in dem exzellenten Heft mit seinen 430 Seiten übrigens auch fünfzehn Zeichnungen des ungarischen Künstlers László Rajk. Rajk hatte die wunderbare Idee, unter dem Titel „Missing Paragraph“ diejenigen Passagen aus der neuen, seit Januar gültigen ungarischen Verfassung in Bildern sichtbar zu machen, die gestrichen oder gezielt umgestellt wurden.

Beispielsweise heißt es in Paragraph 1 jetzt nicht mehr „Ungarn ist eine Republik“, die Rede ist von der „ungarischen Nation“.  Mit Auslassungen und Umformulierungen ist ein „Grundgesetz“ mit einem derart penetrant nationalistischem Tonfall entstanden, wie es in Europa wohl einmalig ist. Die Berliner Akademie der Künste hatte die fabelhafte Idee, die Bilder in ihrem Haus auszustellen. Sie waren noch nicht aufgehängt, da hatte der ungarische Botschafter schon empört bei Akademiepräsident Klaus Staeck protestiert. Alles falsch, alles missverstanden, alles harmlos! Es ist aber nicht falsch und nicht harmlos.

Abgerissen immerhin hat der Botschafter die Bilder über Ungarns wahre Verfasstheit im Hause Staecks übrigens nicht, wie ihm das früher einmal mit seinen Plakaten über die Zustände im eigenen Land widerfahren ist.

Meine Leseempfehlung also:
Quo vadis, Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft.Themenheft der Zeitschrift Osteuropa: Heft 12, Dezember 2011, Berliner Wissenschafts -Verlag, 432 Seiten, 24 Euro.

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