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() Timo Soini – talentiert, aber nicht substanzlos

Finnlands Rechte - Wenn die Tränen zu spät fließen

Fast jeder fünfte Wähler in Finnland gab seine Stimme bei den jüngsten Wahlen den „Wahren Finnen“. Manche wollen darin den Anfang vom Ende der Europäischen Union erkennen. Wie ist es tatsächlich um die politische Bedeutung des normalen Finnen bestellt? Ein Ortstermin
 

Joutsa, zum Beispiel. Eine kleine Ortschaft im Herzen Mittelfinnlands, drei Autostunden nördlich von Helsinki. Bis heute ist die auf einer kleinen Anhebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaute Holzkirche das mit Abstand größte Gebäude der Gemeinde. Vom separaten Glockenturm aus lässt sich die Hauptstraße vollständig übersehen. Sie besteht aus einer Bank samt Geldautomat, einer Bibliothek, einer Bushaltestelle, zwei gut sortierten Supermärkten, einem Sportgeschäft mit Schwerpunkt Angelbedarf, einer Apotheke, einem Blumenladen sowie am östlichen Ende dem Kiosk (kioski), an dessen überdachten Holztischen die zahlreichen Junggesellen des Dorfes bereits am frühen Mittag an ihrem Leichtbier nippen und die neuesten Wettquoten für die Trabrennen in Tampere erörtern.

Hier lebt er, der wahre Finne, und damit ein politisches Wesen, dessen tiefste Überzeugungen und Werte in diesem Frühling die Europäische Union ins Wanken brachten. Bis ins ferne Lissabon waren die Schockwellen spürbar, die das Beben der finnischen Parlamentswahlen vom April 2011 durch den Kontinent schickte. Eine nach geteilter medialer Wahrnehmung rechtspopulistische Partei namens Perussuomalaiset erhielt im Landesdurchschnitt 19 Prozent der Wählerstimmen. 19 Prozent, auch hier in Joutsa.

Vor allem in Deutschland wurde das Ergebnis als skandinavischer Zivilisationsbruch empfunden. Was soll nur werden, wenn selbst die immer stillen, immer bescheidenen, immer toleranten, immer konsensbereiten, bestens ausgebildeten und überhaupt in harmonischstem Einklang mit der Natur lebenden Finnen EU-feindliche Rechtsextreme in die Regierung wählen?

An einem Markttag wie an diesem tippeln zahlreiche ältere Damen an Gehhilfen durch den Nordwind Richtung Kaffeestand. In wortkargen Kleinstgruppen lassen sie sich auf Plastikstühlen nieder und blinzeln bei Hefegebäck und Mokka dankbar in die Sonne. Letzte Schneeflecken funkeln auf noch braunem Gras. Irgendwie schwer zu glauben, dass sich die Anzahl überzeugter Rechtsradikaler hier im Laufe eines einzigen Winters mehr als vervierfacht haben soll.

Bereits der Name der erfolgreichen Skandalpartei – Perussuomalaiset – legt kontinentale Missverständnisse nahe. Suomalaiset, klar, das heißt: Finnen. Das Wort perus aber ist so tief und eigenwillig in der finnischen Sprache verankert, dass es kaum übersetzbar ist: „Wahre Finnen“, „Basisfinnen“, so lauten die gängigen Versuche. Aber auch „Grundfinnen“ oder „erdnahe Finnen“ wären denkbare Alternativen. Soll heißen: Nicht jedes Phänomen lässt sich einfach übertragen. Und so verdankt sich die mediale Tendenz, den Aufstieg der Perussuomalaiset und ihres pausbäckigen Parteiführers Timo Soini mit den einstigen Erfolgen des Österreichers Jörg Haider oder gar des Franzosen Jean-Marie Le Pen zu vergleichen, einer Mischung aus journalistischer Sensationslust, schlichter Denkfaulheit und kultureller Unkenntnis.

Der Politologe Soini ist viel eher ein gewiefter Rhetoriker als ein Hass säender Demagoge, die von ihm vertretenen Positionen sind eher pointiert als extrem. Vor allem liegt die Partei mit ihrem klaren Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat gesellschaftspolitisch klar links von der Mitte.

Tatsächlich besteht die einzig wahre Überraschung des Wahlerfolgs dieser explizit EU-feindlichen Partei darin, dass er erst jetzt kam. Das dazugehörige Meinungsfeld lag in der finnischen Bevölkerung lange vor. Bereits beim Referendum zum EU-Beitritt im Jahre 1994 stimmten 43 Prozent der Finnen mit Nein. Die Einführung des Euro hätte wohl zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit im Wahlvolk gefunden. Und wer eine strikte Ablehnung des aktuell vorgeschlagenen EU-Solidaritätspakets als politisch distinkt rechte Position darstellt, muss zumindest zur Kenntnis nehmen, dass auch die finnischen Sozialdemokraten sowie die Grünen ihn anfänglich ebenfalls ablehnen wollten (womit er dort keine Mehrheit fände). Seit Jahren lassen die ökonomischen Krisenherde des Südens vergessen, wie ausgesprochen brüchig und gefährdet der Rückhalt für das europäische Projekt gerade im Norden des Kontinents bleibt.

Bei einem Ausländeranteil von knapp über 2 Prozent (davon über die Hälfte Balten und Russen) zählt Finnland zu den homogensten Gesellschaften Europas. Der Glaube, in dieser weitreichenden kulturellen Verständigkeit bestehe eine der wesentlichen Stärken des Landes, darf als allgemein geteilt bezeichnet werden. Auch hier haben Soinis Basisfinnen – mit ihrem nicht einmal zu forsch vorgetragenen Programmvorschlag einer sehr restriktiven, bedarfsgesteuerten und folglich qualifizierten Einwanderung – also lediglich fremdenskeptische Überzeugungen aktiviert, die weitverbreitet sind und die finnische Alltagskultur bis heute sichtbar prägen und bestimmen.

Rückblickend betrachtet, dürfte es kaum ein europäisches Land geben, das in den vergangenen 15 Jahren in ähnlich umfangreicher Weise von den wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung profitiert hat als das innovationsfreudige Finnland – und gleichzeitig kein Land, das in geringerem Ausmaß von seinen kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen betroffen war. Der Erfolg von Soinis Perussuomalaiset steht für den offen ausgesprochenen Wunsch, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern möge. Ist das rechtsextrem?

Toivo V., ein kräftiger, knapp zwei Meter großer Mann mit kantigen Zügen, ist von der Fernstraße zur Mittagspause nach Joutsa eingebogen. Der selbstständige Umweltingenieur gibt ohne Umschweife zu, den Anti-Europa-Kurs Soinis zu unterstützen. „Ich habe mit meiner Firma auch Geschäftspartner in Portugal. Und weißt du, wie lange ich da manchmal auf eine einfache Quittung warte? Ewig. Das ist dort einfach so. Und das wird sich nicht von heute auf morgen ändern. Von uns Garantien zu verlangen, bedeutet einfach, dass wir am Ende zahlen werden.“

Kollektives Nicken am Marktstand. Das entschiedene Nein vieler Finnen zum Hilfspaket erklärt sich dabei keineswegs aus einem Mangel an Einfühlungsvermögen für die alltäglichen Nöte der bankrotten Iren, Griechen oder Portugiesen. Ganz im Gegenteil. Nach dem Untergang der Sowjetunion und damit dem Verlust des wichtigsten Handelspartners befand sich Finnlands Volkswirtschaft zu Beginn der neunziger Jahre in einer vergleichbar desolaten Situation. Bewältigt wurde sie, bei einer Arbeitslosenquote von zeitweise über 20 Prozent, durch tiefgreifende Reformen und soziale Kürzungen, deren Radikalität keiner der jetzigen Problemfälle auch nur annähernd zugemutet wird. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie lang ein Joutsaer Winter sich in diesen Krisenjahren angefühlt haben wird. Ein Mehr an Verständnis führt eben nicht zwangsläufig zu einem Mehr an tätiger Solidarität. Toivo V. hat dazu ein altes finnisches Sprichwort parat, so direkt und erdnah, dass es Timo Soini zweifellos gut gefallen würde: Myöhäistä itkeä, kun paskat on housussa. (Frei übersetzt: Es ist zu spät, mit dem Weinen anzufangen, wenn die Scheiße bereits in der Hose ist.)

Die Lesart, Finnland sei quasi über Nacht auf irrationalste Weise einem talentierten, aber substanzlosen Rechtspopulisten auf den Leim gegangen, an dessen Profilierungssucht nun die gesamte EU tragisch zu zerbrechen droht, ist dramatisierend und verharmlosend zugleich. Die Wahrheit dürfte viel ernster sein: Timo Soini ist talentiert, aber nicht substanzlos. Das Meinungsfeld, das ihn trägt, ist in ganz Skandinavien ein tief verankertes, und seine zentralen Argumente gegen den EU-Stabilitätspakt basieren auf einem Gerechtigkeitsempfinden, so grundlegend und alltäglich, dass sie zumindest unter den Zeltplanen finnischer Marktplätze nur äußerst schwer zu entkräften sind. Das eigentlich Besorgniserregende seines Erfolgs besteht, mit anderen Worten, in seiner vollkommenen Gewöhnlichkeit.

Wolken ziehen vor die Sonne, und mit einem Mal ist es furchtbar kalt. Die Plane zittert unruhig im Wind. Keiner geht. Keiner klagt. Gerade so, als ob nichts geschehen wäre. Es ist fast ein bisschen unheimlich. Morgen soll es wieder schneien. Takatalvi nennen sie dieses Phänomen: Spätwinter. Womöglich der nächste urfinnische Begriff, an den sich ganz Europa wird gewöhnen müssen.

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