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(picture alliance) Gegen ihn und seine Politik gehen die Menschen auf die Straße: Wladimir Putin

Russland begehrt auf - Wann stürzt Putin?

In Russland gärt es – die Menschen begehren auf gegen Wahlfälschungen, Günstlingswirtschaft und Putins „gelenkte Demokratie“. Nicht nur in Moskau formiert sich eine selbstbewusste Zivilgesellschaft
 

David Remnick berichtete für die Washington Post aus Russland. Seit 1998 ist der Pulitzer-Preisträger Chef­redakteuer des New Yorker.

In der Nacht vom 20. November 2011, zwei Wochen vor der Wahl zur Duma, ließ Wladimir Putin die Sorgen des Kreml hinter sich und machte sich auf den Weg in die Olympia-Arena. Dort fand ein ultimativer Kampf statt: der „regellose“ Freistil-Schwergewichtskampf zwischen einem russischen Hünen namens Fjodor Jemeljanenko und einem selbst ernannten Anarchisten aus dem amerikanischen Ort Olympia, im Staat Washington. Er nannte sich Jeff „der Schneemann“ Monson. Der Kampf wurde von Rossiya 2, einem der großen staatlichen TV-Sender, landesweit übertragen. Putin, in blauem Anzug und ohne Krawatte, saß direkt am Ring, stets darauf bedacht, sich in der machohaften Pose eines muschik, eines wahren Mannes, zu präsentieren.

Wir kennen die Fotos: mit nacktem Oberkörper auf dem Pferderücken, bei der Tigerjagd, am Steuerknüppel eines Feuerfliegers, beim Schwimmen in einem sibirischen Fluss, im Cockpit eines Formel-Eins-Boliden, kameradschaftlich mit Actionheld Jean-Claude Van Damme und auf einer schweren Maschine inmitten einer Motorradgang. Vom Fernsehen ließ er sich beim Versuch filmen, mit bloßen Händen eine Bratpfanne zu verbiegen. Es wollte zwar nicht gelingen, aber der Versuch wurde gefeiert.

Und nun die Bilder dieses ultimativen Kampfes – eine bierselige Menge von 20000 Menschen, einige offensichtlich wohlhabend, andere weniger: Putin inmitten seines Volkes.
Jemeljanenko und Monson schenkten sich nichts, beide mit kahl rasiertem Schädel, zwei ungeheure Brocken, der Russe mit makelloser Haut; Monson hingegen war von Kopf bis Fuß tätowiert. Von Anfang an dominierte der Russe den Kampf. Mit einem geschickten kraftvollen Tritt brach Jemeljanenko ein Bein Monsons, der Amerikaner hinkte von nun an jämmerlich. Doch selbst als Jemeljanenko die Führung übernahm und Monson – zum großen Vergnügen der Menge – zu blutigem Brei reduzierte, ließ sich nur schwer sagen, ob auch Putin seinen Spaß hatte. Immer wieder schwenkte die Kamera auf ihn, er aber verzog kaum das – wie man sagt mit Botox geglättete – Gesicht, es blieb verschlossener denn je.

Putin hatte tatsächlich größere Probleme. Da mochten seine Helfer sich mühen wie sie wollten, um in den Provinzen etwas aus der Wahl herauszuholen und das Ergebnis zu schönen. Putin wusste, dass seine Kremlpartei „Einiges Russland“ eine Schlappe erleiden würde.

Am Ende des Kampfes – die Schiedsrichter entschieden einstimmig für Jemeljanenko – kletterte der Premierminister durch die Seile, um dem Verlierer seine Reverenz zu erweisen und seinem Landsmann zu gratulieren. Doch da schleppten die amerikanischen Helfer ihren Krieger bereits vorsichtig in die Umkleide.

Putin fand freundliche Worte für Monson („ein wahrer Mann“), für Jemeljanenko das höchste Kompliment russischer Männlichkeit: „nastoyashii Russki bogatyr“ – ein echter russischer Held. Während Putin sprach und das Fernsehvolk zuhörte, begann es aus der Menge heraus zu johlen und zu pfeifen. Nie zuvor hatte Putin das erlebt, nicht in seiner vierjährigen Amtszeit als Präsident, nicht in den gut drei Jahren als Premier. Ausgerechnet jetzt, da er seine Absicht verkündet hatte, im März ins Präsidentenamt zurückzukehren und das möglicherweise für weitere zwölf Jahre, schlugen ihm derart unmissverständlich Ablehnung und Verachtung entgegen.

Als ich bei YouTube das Video dieses Ereignisses zum ersten Mal sah – ein Video, das sich wie ein Virus in ganz Russland verbreitete –, dachte ich unwillkürlich an die Parade zum 1. Mai vor 21 Jahren. Damals hatte ich auf dem Roten Platz miterlebt, wie einige Tausend Menschen in ihrem Marsch plötzlich anhielten, zu Michail Gorbatschow und den übrigen Sowjetführern hinaufblickten, sich vor Lenins Grab hinhockten und ihre Wut herausbrüllten. „Abtreten!“, schrien einige und „Schämt euch!“ Plötzlich waren Banner zu sehen mit Parolen wie: „Nieder mit dem Imperium und dem roten Faschismus!“ und „Kommunisten: Macht euch keine Illusionen. Ihr seid am Ende!“ Fahnen der baltischen Republiken, die gerade der Union den Rücken gekehrt hatten, wurden geschwenkt. Auch rote Sowjetfahnen, allerdings waren Hammer und Sichel herausgeschnitten. Ein russisch-orthodoxer Priester hielt ein Schild empor, auf dem stand: „Michail Sergejewitsch, Christ ist auferstanden!“ Mithilfe eines Fernglases konnte ich Gorbatschows Gesicht genau sehen, auch den Ausdruck der anderen Führer, die erstarrt herumstanden. Damals gab es in Moskau noch kein Botox, und diese Männer hatten sichtlich Angst. Nach über zwanzig Minuten, als die ungebärdigen Marschkolonnen noch immer keine Anstalten machten abzuziehen, gab Gorbatschow der Führungsriege ein Zeichen, und sie schlichen von der Tribüne durch eine Hintertür in den Kreml.

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Ende der achtziger und während der neunziger Jahre war das Staatsfernsehen wie elektrisiert: Es wurde debattiert, man hörte die Wahrheit, erlebte Ironie, Hysterie, Skandale.
Seit Putin an der Macht ist, werden die Fernsehnachrichten, die unerträglich langweilig sind, besonders überwacht. In den Printmedien, im Radio und Internet hingegen kann man meist sagen, was man will; allerdings nur, weil in den Augen des Kreml allein das Staatsfernsehen zählt. Auch in der Nacht des Wettkampfs wussten die Bürokraten, die Rossiya 2 leiten, was sie zu tun hatten. Als sie später die gefilmten Höhepunkte zeigten, war das Gejohle nicht mehr zu hören. Einer der Führer von Naschi, der vom Kreml gelenkten, Putin-freundlichen Jugendorganisation, erklärte später, der Krawall in der Arena sei doch nur Ausdruck der Ungeduld der Fans gewesen, die gerne in die Umkleidekabine ihres Kämpfers gegangen wären. Das Video aber zeigt etwas anderes: Unzufriedenheit. Alexey Navalny, ein führender Blogger und Aktivist der Opposition, titelte: „Das Ende einer Epoche“.

So weit ist es noch nicht. Es wäre übereilt, wollte man dieses Ereignis als Anfang vom Ende bezeichnen. Bei jedem Vergleich mit dem 1. Mai 1990, gar mit den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011 – ein in Moskaus politischen Kreisen viel diskutiertes Ereignis – würde man außer Acht lassen, dass Millionen Russen weiterhin unpolitisch und wenig organisiert sind; sie haben gelernt, mit einem System zurechtzukommen, das wenige rechtliche Garantien, dafür immerhin einige ökonomische Fortschritte zu bieten hat.

Etwas aber war selbst vor den Duma-Wahlen klar. Trotz der ursprünglich hohen Zustimmungswerte für Putin – von mehr als 60 Prozent seit Mitte der achtziger Jahre bis 2007 – kann man das russische Volk nicht mehr als apathisch bezeichnen, betäubt von lauter Stabilität. Einiges Russland, die Putin-Partei, wird verachtet für ihr zynisches Gespür für die Macht, die durch und durch korrupten Verflechtungen mit der Öl-, Gas- und Holzindustrie.
Viktor Schenderowitsch, ein subversiver TV-Kabarettist bis zum Tag, da er unter Putin in Ungnade fiel, schrieb auf der Website Daily Journal, der Premierminister, der sich mit seiner Popularität brüste, sei in der Olympia-Arena nicht der liberalen Intelligenzija und ihrem Verdruss begegnet, sondern narod, dem Volk. „Nach diesen deutlichen Buhs und dem Ruf ‚Hau ab‘ kann das Ende des Putinismus sehr nah sein, aber auch sehr fern, es ist unsinnig, über den Zeitpunkt zu spekulieren. So viel jedoch steht fest, der Punkt ist erreicht, ab dem es kein Zurück mehr gibt.“

Voraussagen sind tatsächlich unsinnig. Doch gingen dem Gejohle in der Olympia-Arena viele andere Ereignisse voraus, insbesondere, nachdem Putin im September vergangenen Jahres verkündet hatte, dass bereits „vor Jahren“ beschlossen worden sei, dass er im März für das Präsidentenamt kandidieren werde, was zugleich bedeutet, dass Dmitri Medwedew, der seit 2008 Präsident ist, noch tiefer in Putins Schuld steht und Premierminister werden wird.
Wie es aussieht, haben viele Menschen genug von dieser Unverfrorenheit. Bei einem Konzert der Band Time Machine in der sibirischen Bergarbeiterstadt Kemerowo buhten die Fans den Sprecher aus, als der bekannt gab, Einiges Russland stehe hinter der Veranstaltung. In Tscheljabinsk im Ural brüllten Hockeyfans einen Mannschaftskapitän nieder, der eine Erklärung für Einiges Russland verlesen sollte. Russischsprachige Websites und Blogs sind voller ähnlicher Berichte, und es werden immer mehr.

Kürzlich ging ich an der Petrowka 38 entlang, dem Hauptquartier der Miliz. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich das neue Büro von Memorial, einer Bürgerrechtsgruppe, die seit 1987 aktiv ist – also seit den ersten Tagen von Glasnost, als sich plötzlich alle möglichen informellen Bürgergruppen, neformaly genannt, organisieren konnten. Die Verantwortlichen von Memorial, unter ihnen einige frühere Dissidenten und politische Gefangene, traten mit der Idee an, es könne keinen Fortschritt geben, wenn man der Schrecken der Sowjetvergangenheit nicht angemessen gedenke. Memorial-Aktivisten sammelten Zehntausende Unterschriften für eine Petition, in der die Kommunistische Partei aufgefordert wurde, ein Denkmal für die „Opfer ungesetzlicher Repression“ unter Stalin zu errichten. Nach einigen Demonstrationen, Versammlungen und Treffen mit der Kremlführung entstanden Memorial-Büros in einigen Dutzend Städten und Orten in der Provinz.

Michail Gorbatschow war überzeugt, dass er, wenn er das Land reformieren wollte, die Intellektuellen für sich gewinnen musste. Folglich unterstützte er den Vorschlag eines Denkmals auf dem KP-Parteitag 1988. Er tat dies durchaus mit gemischten Gefühlen, denn er erkannte, dass sich ein solches Denkmal zur Keimzelle einer breiteren Oppositionsbewegung entwickeln und zuletzt die Legitimität des Systems insgesamt gefährden könnte. Gorbatschow ließ die Gruppe zwar nicht verbieten, sie durfte sich aber nicht als Organisation eintragen lassen. Durch dieses bürokratische Manöver wurde Memorial beim Spendensammeln wie auch bei der eigentlichen Arbeit behindert.

Memorial hielt durch. Die Sowjetunion nicht. Themen und Aktivitäten von Memorial sind im Lauf der Jahre breiter geworden. Die Organisation ist nicht mehr nur Forschungseinrichtung, sondern auch ein bedeutendes Zentrum im Kampf für Menschenrechte. Manchmal bekommt die Organisation den Druck der Bürokratie zu spüren. 2008 etwa stürmte die Polizei die St. Petersburger Büros und konfiszierte zwölf Festplatten; unter anderem enthielten sie ein Archiv zu Stalin, in dem zehn Jahre Arbeit steckten. Es sei ein Akt der Einschüchterung gewesen, sagt Irina Flige, die Leiterin. Sechs Monate später ordnete ein Gericht die Rückgabe der Festplatten an.

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Einer der Memorial-Gründer ist der Historiker Arseny Roginsky, dessen Vater in Stalins Gefängnissen umkam. Der Sohn zog die Aufmerksamkeit des Leningrader KGB auf sich, als er in den siebziger Jahren damit begann, eine Art Proto-Archiv über die Sowjetrepression anzulegen; in den achtziger Jahren wurde er für vier Jahre in ein Straflager gesteckt.

In seinem winzigen Büro erfahre ich, dass in den vergangenen Jahren eine Vielzahl unabhängiger Menschenrechtsgruppen, Medienbüros, Thinktanks, akademischer Einrichtungen, Wahlkampfbeobachter und NGOs entstanden ist, und zwar nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern überall im Land. Ihre Wirksamkeit sei eingeschränkt, gegängelt von Vorschriften des Kreml, darum bildeten sie noch keine wirkliche Zivilgesellschaft, eher Inseln in einem großen Ozean, untereinander kaum vernetzt und von der politischen Elite bestenfalls ignoriert. „Etwas vollmundig könnte man diesen Prozess als Herausbildung einer Zivilgesellschaft bezeichnen“, sagt Roginsky, „und das ist wichtiger als alles, was wir für die Menschenrechte erreichen, wichtiger als das Studium der Geschichte. Es gibt eine Menge Staat in diesem Land und sehr wenig Gesellschaft. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es weniger Staat, dafür mehr Gesellschaft gibt.“

Seit Mitte der neunziger Jahre führt Russland Krieg gegen die Aufständischen in Tschetschenien und im Nordkaukasus. Memorial war führend unter den Organisationen, die Nachrichten über Menschenrechtsverletzungen durch Aufständische, russisches Militär und die prorussische Regierung sammelten. Memorial war auch die wichtigste Quelle für die Journalistin Anna Politkowskaja, die erschreckende Berichte für die russische Oppositionszeitung Nowaja Gaseta geschrieben hat. Wegen ihrer zahllosen Artikel über Folter, illegale Verhaftungen und die Terrorherrschaft unter der Regie des tschetschenischen Präsidenten, dem skrupellosen und offensichtlich korrupten Ramsan Kadyrow, wurde Politkowskaja mit Einschüchterungen, Scheinhinrichtungen und Giftattacken verfolgt. „Du bist ein Feind, gehörst erschossen“, sagte Kadyrow 2004 zu ihr; zwei Jahre später wurde sie in Moskau erschossen.

Kurz nach ihrer Ermordung kam Natalja Estemirowa, eine ihrer besten Quellen bei Memorial und zugleich eine enge Freundin, nach New York, um an einer Gedenkveranstaltung für Politkowskaja teilzunehmen. Sie erzählte bewegend von ihren haarsträubenden Reisen durch Tschetschenien. Monate später machte ich mir Sorgen um sie, denn sie wollte zurück in die tschetschenische Hauptstadt Grosny und ihre Arbeit für Memorial fortsetzen, Entführungen und ungesetzliche Hinrichtungen durch russisches Militär und Kadyrows Soldaten untersuchen. Im Juli 2009 wurde Estemirowa in Grosny entführt. Ihre Leiche fand man wenig später im benachbarten Inguschetien, die Entführer hatten ihr in Kopf und Brust geschossen. Beide Morde wurden bislang nicht aufgeklärt.

Zusammen mit Tanja Lokschina, die für Human Rights Watch unermüdlich in die Region reist, besuche ich das neuere Büro von Memorial, um mit Oleg Orlow zu sprechen, dem Leiter der Menschenrechtsaktivitäten. Er machte Kadyrow öffentlich für Estemirowas Ermordung verantwortlich und wurde prompt wegen Verleumdung angezeigt.

Orlow beschreibt uns an einem Beispiel, wie die Behörden es Anwälten und Menschenrechtsaktivisten fast unmöglich machen, in der Region ihre Arbeit zu tun. Der Vorfall ereignete sich im Jahr 2007 in Inguschetien. Am Vortag einer Demonstration war Orlow in die Stadt Nasran gefahren. Ihm war klar, dass die Behörden den Protest am nächsten Tag niederschlagen würden. „Die Stadt war voller Soldaten und Polizisten, ich traf die Familie eines führenden Oppositionellen und wurde vermutlich beobachtet. Die Menschen werden sehr genau überwacht. Untergebracht war ich im Hotel Assia, das war kein Geheimnis. Es wird jeden Tag rund um die Uhr von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Gegen elf Uhr, ich saß in meinem Hotelzimmer am Computer, klopfte es an der Tür. Stimmen waren zu hören. Ich öffnete – und starrte in die Mündungen der Schusswaffen, sah dahinter riesige, schwarz maskierte Kerle. Sie schlugen mich nieder. Ich dachte, die sind auf der Jagd nach Aufständischen, die sie im Hotel vermuteten. Also sagte ich: ‚Jungs, das ist ein Irrtum, ich habe einen Ausweis von Memorial.‘ Sie traten die Schranktür ein, der Anführer sagte: ‚Packt alles in eine Tüte.‘ Ich lag am Boden, schaute zu, wie sie mein Zeug in eine Tüte stopften, diese zubanden. Ich versuchte zu protestieren, sprach von meinen Rechten, bekam erneut Schläge.

Dann zerrten sie mich vom Boden hoch. Also doch kein Irrtum, ich sollte entführt werden. Schon oft hatte ich über dergleichen berichtet, wusste also, wie das abläuft. Und es lief nach dem Schema, das ich von unseren Menschenrechtsberichten kannte. Eine Kapuze über den Kopf, die Schuhe bleiben liegen, du wirst in irgendein Fahrzeug gezerrt. ‚Alles in Ordnung. Man wird dich befragen, dann laufen lassen.‘ Das sagen sie immer. ‚Mach also keinen Blödsinn.‘ Drei Fernsehjournalisten wurden ebenfalls abgeholt und in den gleichen Wagen gezerrt. Irgendwer sagte: ‚Das Hotel ist sauber.‘ Der Wagen fuhr los.

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Irgendwann war die befestigte Straße zu Ende, wir spürten die Stöße. Keiner würde uns verhören, sie würden uns irgendwo wegsperren. Sie sprachen akzentfrei russisch, sagten aber wenig. Der Wagen hielt, die Türen wurden aufgerissen. Sie zerrten uns raus, dann ein Befehl: ‚Liquidiert sie. Mit Schalldämpfer.‘ Das war ein unbehaglicher, allerdings kurzer Augenblick. Dann ein plötzliches Gefühl der Erleichterung: Sie begannen uns zu schlagen. Hätten sie uns liquidieren wollen, hätten sie uns nicht verprügelt. Dann hörten sie auf. ‚Wir wollen euch hier in Inguschetien nie wieder sehen‘, sagten sie, ‚sonst habt ihr euch selbst zuzuschreiben, wenn was passiert.‘ Der Wagen fuhr davon. Wir rappelten uns auf.“

Als Orlow seine Geschichte erzählt, staune ich, wie gelassen er das tut. In dieser Hinsicht ist er wie Politkowskaja, Estemirowa und Lokschina. Ich habe Angst um ihn, er um sich offenbar nicht. Vergangenes Jahr hat Kadyrow Memorial und Orlow im tschetschenischen Fernsehen denunziert. „Das sind keine Oppositionellen“, sagte er, „das sind Verräter. Verräter am Vaterland, an der Nation. Sie bekommen viel Geld aus dem Westen, veröffentlichen im Internet hässliche Dinge über Tschetschenien, um an dieses Geld zu kommen. Sie sind nicht meine Gegner. Sie sind Feinde des Volkes, Feinde des Staates und der Gesetze.“ Feinde des Volkes – das ist die Sprache Stalins, doch Orlow bleibt unbeeindruckt.

Wenig später treffe ich die aus dem Nordkaukasus stammende Journalistin Nadira Isajewa in Moskau. Sie berichtete jahrelang aus Dagestan, Tschetscheniens östlichem Nachbarn, für die Zeitung Tschernowik („Manuskript“). Sie trägt ein Kopftuch und ist mit einem salafistischen Muslim verheiratet. Sie erzählt, wie sie 2008 gemeinsam mit drei Kollegen wegen „Anstiften zur Feindseligkeit“ sowie Beleidigung des russischen Sicherheitsdiensts und der örtlichen Strafverfolgungsbehörden angeklagt wurde. In Dages­tan, sagt Isajewa im Moskauer Büro von Human Rights Watch, gehe es nicht so drakonisch zu wie in Tschetschenien. Dort müsse man um sein Leben fürchten; in Dagestan beschränkten sich die Behörden auf Diffamierungen im Internet.

Selbst in der Redaktion von Tschernowik erlebe sie eine gewisse Selbstzensur: „Alles, was die Strafverfolgungsbehörden betrifft, wird entweder verschwiegen oder man schreibt nichts Genaues, nur damit überhaupt etwas gesagt wird. Langsam werden wir einem Blatt aus der Sowjetzeit immer ähnlicher.“ Inzwischen seien ihre Quellen an ihrer Belastungsgrenze: „Die Menschenrechtsaktivisten im Kaukasus tauchen unter. Sie sind sehr gefährdet.“ Von der Anklage ist Isajewa schließlich im vergangenen Sommer freigesprochen worden. Doch nach einer Verleumdungskampagne musste sie die Redaktion von Tschernowik verlassen. Unterdessen sitzt ihr Ehemann wegen erfundener Raubdelikte in Nordrussland im Gefängnis – wann sie wieder eine Besuchserlaubnis erhält, weiß die Journalistin nicht. So überlegt Isajewa, ob sie nicht ein viermonatiges Forschungsstipendium in New York annehmen sollte. „Ich sehe, wie der Informationsschauplatz im Kaukasus immer kleiner wird, und wenn das passiert, kommt es meistens zu einem Blutbad“, sagt sie, „ich denke, ich hätte die Kraft, etwas zu bewirken, den Raum wieder zu öffnen. Aber nur vor Ort geht das nicht.“

Journalisten wie Isajewa spüren so etwas wie Berufung und Mission. Aber in Putins Russland gibt es auch ganz normale Menschen, die sich plötzlich auf dem Weg in ein Leben als Aktivisten wiederfinden, so als geschehe das eher zufällig. Im Sommer 2007 ging die zierliche Geschäftsfrau Ewgenia Tschirikowa mit ihrem Mann im Chimki-Wald spazieren, in der Nähe des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Es ist ein Eichenwald, und viele der Stämme waren mit roter Farbe markiert. Zu Hause durchsuchte sie mehrere Websites und fand heraus, dass die Regierung den Auftrag erteilt hatte, eine riesige Schneise durch den Wald, durch Sümpfe und Überschwemmungsgebiete zu schlagen, Tausende alte Eichen sollten fallen, um Platz zu machen für eine neue Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg.

Bis dahin hatte sich Tschirikowa gelassen um ihren Weg nach oben bemüht, um ihr kleines Ingenieurbüro und ihre wachsende Familie. Sie war gerne im Chimki-Wald spazieren gegangen, der zum Grüngürtel rund um die Hauptstadt gehört. „Ich wusste nichts von Putin und seinen Machenschaften, ich war unpolitisch, einfach träge.“ Nun aber wurde ihr klar, dass sie ihre Stimme erheben müsste, sonst würden die Bäume ohne größeren Lärm fallen.
Tschirikowa, die aussieht wie eine russische Jean Seberg, erwies sich als charismatische Aktivistin, zeigte Führungsqualitäten, hielt wirkungsvolle Reden, aktualisierte Websites und Twitterfeeds, verschaffte ihrem Anliegen Aufmerksamkeit. Während sie im Chimki-Wald Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams organisierte – Mitglieder ihrer Gruppe bauten ein Lager auf, stellten sich den Bulldozern in den Weg, ließen sich verhaften, wurden geschlagen –, fand sie heraus, dass Arkady Rotenberg, der am engsten mit dem Projekt verbundene Oligarch, ein enger Freund Putins und dessen Judolehrer ist. Sie fand auch heraus, dass sich lokale Politiker und Vinci, die französische Baufirma, die den größten Teil des Auftrags erhalten hatte, völlig uninteressiert zeigten am Argument der Bewegung, dass man die Autobahn auch ohne Eingriffe in den Wald planen und bauen könne. „Die Briefe, die ich zurückbekam, lassen sich eindampfen auf die Feststellung, das Ganze sei ein Bundesprojekt und darum legal.“

Michail Beketow, Redakteur der lokalen Zeitung Tschimkinskakya Prawda und Mitstreiter, schrieb eine Folge von Kolumnen über das Autobahnprojekt und die Korruption der lokalen Verwaltung. Als er den Rücktritt der örtlichen Funktionäre forderte, flog sein Wagen in die Luft. Im November 2008 wurde Beketow von Schlägern so heftig zusammengeschlagen, dass er wochenlang im Koma lag. Er verlor drei Finger und ein Bein und konnte lange weder laufen noch sprechen.

Im vergangenen Frühjahr erklärten Funktionäre, Tschirikowa, deren Töchter damals fünf und zehn Jahre alt waren, sei eine unfähige Mutter. Sie musste fürchten, dass man ihr die Mädchen wegnehmen und in ein staatliches Waisenhaus bringen würde. Leute von der Verwaltung, erzählt sie, „kamen zu mir und wiesen, wie zu Stalins Zeiten, eine anonyme Anzeige vor, dass ich meine Kinder schlage und vernachlässige. Ich wusste, dass sie mich ins Gefängnis werfen und mir die Kinder wegnehmen konnten. An wen sollte ich mich wenden? Die staatlichen Stellen würden mir nicht helfen. Ich konnte mich nur auf die Menschen verlassen, stellte darum ein Video mit meiner Geschichte ins Netz. Daraufhin entschuldigte sich der Kinderschutzbeauftragte. Wir fanden weitere Unterstützung, und plötzlich sympathisierten Leute, denen Umweltfragen bislang egal waren, mit einer Frau, die fürchten musste, man werde ihr die Kinder wegnehmen.“

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Als ich mich mit ihr treffe, saust Tschirikowa von einer Versammlung zur nächsten, über die Zukunft des Waldes macht sie sich dennoch keine Illusionen. Unzählige Bäume würden fallen, die Straße würde gebaut und damit ein Vermögen verdient werden. Wichtig an der Bewegung sei, dass es sie überhaupt gebe und das, wofür sie stehe: „Die Zivilgesellschaft ist noch ganz jung. Die Aktionen für den Chimki-Wald haben die unterschiedlichsten Menschen zusammengebracht, und sie stehen auf für ihre Rechte. Das beeinflusst andere Bewegungen und weitere Menschen.“

Bereits vor den Wahlen vom 4. Dezember glaubte Tschirikowa im „Tandem“, der Führungsspitze Putin-Medwedew, eine gewisse Ängstlichkeit zu spüren: „Die Mächtigen wissen genau, dass sie Diebe sind, und sie sind ihrer selbst nicht wirklich sicher. Darum fürchten sie sich vor jedem Protest. Die Mächtigen befürchten, dass die Menschen sich gegen den Kreml wenden könnten. Sie sind bereit, alles zu tun, um die Leute daran zu hindern, auf die Straße zu gehen.“

Die Straßen – ob Schnellstraßen, Boulevards oder Moskaus verwinkelte Gassen – würde man nicht für wahrscheinliche Schauplätze ziviler Proteste gegen Putins Russland halten. Der Kutusowski Prospekt ist eine der Magistralen, auf der hohe Regierungsmitglieder und Superreiche zwischen Stadtzentrum und den viele Millionen teuren Anwesen in Rubljowka pendeln. Draußen in den Wäldern der Reichen gibt es exquisite Restaurants, Wellnesszentren und die Showrooms von Bentley, Ferrari, Mercedes und Maserati. Der Verkehr ist fürchterlich. Also umgehen Regierungsangehörige und alle, die die richtigen Verbindungen haben, die Hindernisse für normale Sterbliche, indem sie sich Blaulicht für das Dach ihrer Autos besorgen, ein Signal, das wie bei einem Krankenwagen jeden aus dem Weg scheucht. Die Blaulichter, migalki genannt, beschafft man sich häufig durch Bestechung. Und der unvorstellbar rücksichtslose Fahrstil führt immer wieder zu Unfällen – natürlich mit kleineren, ungeschützteren Fahrzeugen normaler Bürger.

Iwan Alexejew, auch als Noize MC bekannt, ist ein in Russland ungeheuer populärer, 26-jähriger Hip-Hop-Künstler, der deshalb so beliebt ist, weil er gegen die privilegierte Klasse der Limousinenraser rebelliert. Aufgewachsen ist er bei Smolensk, hörte die Bands Nirwana, Rage Against the Machine und Run-DMC. Nach Moskau kam er, um Informatik zu studieren, mit Studienkollegen gründete er dort seine eigene Band.

Während seiner Tournee 2010 durch Russlands fernen Osten hörte er von einem Unfall am Moskauer Gagarin-Platz: Ein Mercedes, in dem ein Vizepräsident von Lukoil – eine der großen russischen Ölgesellschaften – saß, krachte in einen Citroën, dabei starben zwei Frauen. Eine davon war die Schwester eines Freunds von Alexejew. Die Polizei gab der Fahrerin des Citroën die Schuld, Augenzeugen dagegen sagten, der Wagen des Managers sei auf der falschen Spur gefahren, um dem Verkehr zu entkommen.

In dieser Nacht, im fernen Wladiwostok, konnte Alexejew nicht schlafen und schrieb ein Wutgeheul namens „Mercedes S666“. Das Lied und das dazugehörige Video im „South Park“-Stil wurden im Internet zu einem Hit. „Sofort wollten alle möglichen politischen Gruppen es für ihre Ziele einsetzen“, erzählt Alexejew. „Irgendwie musst du dich immer für die eine oder andere entscheiden, aber ich will mich nicht entscheiden.“

Alexejew hat auch Spottlieder auf russische Skinheads und auf die Jugendgruppe der Putin-Partei verfasst. Während eines Konzerts in Wolgograd im Juli vergangenen Jahres sang er „Smoke Bamboo“, ein Lied über Korruption in der Polizei, sprach auch auf der Bühne spöttisch über die Wolgograder Polizei und ihre Aggressivität. „Zugegeben, das war nicht sehr fein, aber die Reaktion der anderen war noch mieser.“ Alexejew wurde festgenommen und saß zehn Tage in Haft.

Fast jeden Mittwochabend treffen sich mindestens 50 Menschen in einem Café im Stadtzentrum. Die Gruppe nennt sich Rus Sidjaschaia („Russland hinter Gittern“); ihre Sprecherin ist die dynamische Olga Romanowa, früher Journalistin beim Sender REN-TV, heute bei der Nowaja Gaseta. Jeder in der Gruppe war entweder selbst im Gefängnis oder hat einen Verwandten, der in Haft ist oder irgendwo in einem kalten und ungemütlichen Exil leben muss. „Manche sind wohlhabend, andere ungebildet, aber alle brauchen sie Unterstützung und Informationen“, sagt Romanowa, „sie gehen unter in einem ungerechten System.“ Vor drei Jahren wurde ihr Ehemann Alexei Koslow, ein Bauunternehmer um die 30, verhaftet. Zuerst sperrte man ihn in eine Zelle im Butyrka, einem von Moskaus berüchtigten Gefängnissen, dann wurde er in den Ural, in die Region Perm verbracht.

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In einem bemerkenswerten Artikel, den Romanowa im vergangenen Jahr in der Nowaja Gaseta veröffentlichte, schrieb sie, dass ihr Mann in diese Schwierigkeiten gekommen sei, weil sie in der russischen Zeitschrift The New Times einen kritischen Bericht über einen Moskauer Oligarchen veröffentlicht hatte. Koslows Geschäftspartner war der ehemalige Senator Wladimir Slutzker, ein Bekannter des kritisierten Oligarchen. Slutzker sagte Koslow: „Hör zu, entweder du lässt dich von deiner Frau scheiden, oder wir sind geschiedene Leute.“ Koslow ließ sich nicht einschüchtern und brach mit seinem Partner. Nicht lange danach, im Juni 2008, wurde er verhaftet und wegen Geldwäsche und des betrügerischen Erwerbs von Anteilen an einer Kunstlederfabrik angeklagt. Romanowa und Koslow glauben, dass Slutzker hinter diesen Anklagen steckt.

Es gelang Koslow, aus der Haft heraus mit seiner Frau zu telefonieren. Sie solle, sagte er, einen Umschlag aus seiner Schublade nehmen: „Öffne ihn und schau, was drin ist.“ Sie fand die Visitenkarte eines hochrangigen Regierungsbeamten, der versprochen hatte, beim Staatsanwalt zu intervenieren, falls Koslow verhaftet würde. Einer angefügten Notiz zufolge hatten sich Koslow und der Beamte auf einen Preis geeinigt: 1,5 Millionen Dollar. Da er mit der Verhaftung rechnete, hatte Koslow seine Datsche beliehen. Wie sie in der Nowaja Gaseta schreibt, hat Romanowa diesen Mann getroffen. Bei diesem Treffen habe sich der Preis für die Niederschlagung des Falls verdoppelt. Sie lieh sich das Geld von 30 Freunden. Plötzlich aber, so heißt es in ihrem Artikel weiter, habe „der Mann auf der Visitenkarte seine Stelle verloren und sei verschwunden“.

Romanowa begann nun Bestechungsgelder zu zahlen, jedes Mal einige Tausend Dollar, und besorgte auf diese Weise für ihren Mann Dokumente, Mittel gegen Flöhe, Nagelscheren – was immer seine Lage im Butyrka erleichtern konnte. Nach sechs Monaten, in denen sie keine Besuchserlaubnis erhielt, konnte sie einem Gefängnispriester Geld zukommen lassen. „Es gibt“, sagt sie, „eine Kirche im Butyrka. Der Kirchenälteste arrangierte unsere Treffen. Mein Mann sagte, er wolle zur Beichte gehen, und ich benutzte den Ausweis eines Mitglieds des Kirchenchors, um ins Butyrka zu kommen.“

Vor dieser Krise, erzählt Romanowa, hätten sie und ihr Mann ein verwöhntes Leben geführt. Sie habe sich den Kopf darüber zerbrochen, in welchem Resort sie den Strandurlaub verbringen wollte, und er habe im Hotel dann einen Wutanfall bekommen, weil „die Handtücher so weich gespült“ gewesen seien. Nun überträfen sie sich gegenseitig mit ihrer Aufopferung: Koslow lehnt ein Geständnis, das ihm die Freiheit hätte bringen können, ab; Romanowa tat, was sie konnte, um ein korruptes Justizsystem zu blamieren. Sie nutzte jede Möglichkeit, ihn in Perm zu besuchen, schuf, unter großen Risiken, Öffentlichkeit für seinen Fall und unterstützte ihn, als er ein Online-Gefängnistagebuch startete. Weil sie um den Fall so viel öffentlichen Wirbel verursacht hatten, waren Romanowas Eingaben immer erfolgreicher. Im Herbst 2011 wurde Koslow schließlich entlassen. Die Unterstützergruppe aber trifft sich weiter. Nur so, sagt Romanowa, könne „die Zivilgesellschaft beginnen; sie wächst tief aus deinem Inneren“.

2005, fünf Jahre, nachdem Boris Jelzin die Macht an Putin übergeben hatte, erklärte dieser: „Eines sollte man sich unbedingt klarmachen: Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts. Für das russische Volk war dies eine genuine Tragödie.“ Die neunziger Jahre seien ein einziges Chaos gewesen. Insofern sollten alle Russen froh sein über die relative Stabilität und die wirtschaftliche Dynamik der vergangenen zehn Jahre. Soll heißen: Wenn das Land nicht freier geworden sei, dann sei dies der notwendige Preis.

Um seine verlängerte Amtsperiode zu rechtfertigen, suggerieren Putin und seine Berater, er stehe in einer Reihe mit solch großen „Rettern“ ihrer Nationen wie Franklin Roosevelt, Helmut Kohl und Lee Kuan Yew, der Singapur über 30 Jahre regierte.

Und mit Blick auf die russische Geschichte vergleicht sich Putin nicht mit Peter dem Großen, dem Zaren, der das Land nach Westen öffnete, sondern mit ­Pjotr Stolypin (1862 bis 1911), dem Wirtschaftsreformer mit der eisernen Faust aus der vorrevolutionären Zeit. Stolypin war es, der gesagt hat: „Gebt mir 20 Jahre Ruhe, und ich werde Russland umbauen.“ Und: „Ihr wollt große Aufstände, wir wollen ein großes Russland.“ Auch Putin hat Stabilität verlangt – und sei es durch Beschneidung politischer Rechte. Doch, so fragt Mascha Lipman vom Moskauer Carnegie Center: „Wo sind die Reformen?“ Auch in der Sowjetzeit, fügt sie hinzu, sei an Stolypin erinnert worden, nämlich wegen der nach ihm benannten Eisenbahnwaggons, mit denen verhaftete Radikale nach Sibirien verfrachtet wurden, und wegen der Stolypin-Krawatte: der Schlinge, mit denen politische Radikale gehenkt wurden.

Die autoritären Züge der Putin-Ära sind aber andere als die von Zarenreich und Sowjetzeit. „Heute“, sagt Arseny Roginsky, „ist die Macht sehr rational. Es wird nicht jeder weggesperrt. Es gibt Meinungs- und Redefreiheit, ganze Regale mit Anti-Putin-Büchern in den Läden. Wir sind nicht mehr im 18. Jahrhundert. Ein Buch mit einer Tausenderauflage bringt diesen Staat nicht mehr ins Wanken.“ Das gegenwärtige System der Stabilisierung durch Eliminierung wirklicher Politik – die Kultivierung von Scheinwahlen und eine Justiz, die ihre Anweisungen weitgehend von der Exekutive entgegennimmt – ist ein ausgesucht flexibles, höchst zynisches System vertikaler Machtausübung. Putin, der ehemalige Geheimdienstmann, ist seine Personifikation.

Baumeister einiger der wichtigsten Besonderheiten des Putinismus – der komplizierten Medienstruktur, der Partei Einiges Russland, der Putin-treuen Jugendorganisationen – ist der ehemalige Bohemien, Bankier und Geschäftsmann Wladislaw Surkow. Das Sowjetsystem war ein vortechnologischer Versuch, jede Spur von Zivilgesellschaft auszulöschen. Heute wirbt Surkow in seinen zahlreichen Reden für das, was er die „souveräne“ oder „gelenkte“ Demokratie nennt, ein postmodernes System mit Elementen von Autokratie, Demokratie und reiner Machtpolitik. Surkow hat kein Interesse am Homo sovieticus. Er möchte schattenhaft und kühl zugleich sein. In seinem Büro hängen Bilder von Tupac Shakur, Joseph Brodsky und Che Guevara. Bevor er in den Kreml einzog, arbeitete er in der privatisierten Industrie, unter anderem auch für Michail Chodorkowski. Eine Zeit lang schrieb er Songs für die Gothic-Rockgruppe Agata Kristi. Es heißt, er habe unter Pseudonym auch den Roman „Nahe Null“ verfasst.

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Wenn es so etwas gibt wie ein ideologisches Manifest des Putinismus, dann ist dies „Die politische Kultur Russlands. Der Blick von Utopia“, eine Rede, die Surkow 2007 vor der Russischen Akademie der Wissenschaften hielt. In Putins Rhetorik legt er dar, dass es so etwas wie eine universelle Form der Demokratie gar nicht gebe. Die einzigartige Unermesslichkeit Russlands verlange eine ebenso einzigartige Zentralmacht. Alle Demokratien rund um die Welt, so Surkow, seien gelenkt und scheinheilig; wirkliche Freiheit gebe es nur als Illusion. Wie Putin beharrt er darauf, dass der Westen seine Belehrungen über Freiheit und Menschenrechte einstellen müsse. So ließ er sich auch auf einer Moskauer Pressekonferenz vernehmen: „Sie erzählen uns etwas von Demokratie, denken aber an unsere Kohlenwasserstoffe.“

Im Kern ist Putins Russland keine Demokratie, ob souverän oder gelenkt. Worum es geht, ist Konzentration der Macht um der Macht willen und die Akkumulation riesiger Vermögen in der Hand diverser „Clans“ und Freunde des Kreml. Ohne Beziehungen und Lehenstreue wären nur wenige Eigentümer der großen Villen außerhalb Moskaus in der Lage, solche Anwesen zu kaufen und zu unterhalten. Macht hat kein Interesse an einer Zivilgesellschaft, will diese allenfalls vereinnahmen und marginalisieren.

Auf meine Frage, ob dem Premierminister sein stahlhartes Image im Ausland nichts ausmache, antwortet sein Sprecher Dmitri Peskow: „Das ist die Art, auf die er die Dinge regelt, und so wird er die Dinge auch weiterhin regeln. Ich glaube nicht, dass er viel darauf gibt, was die Menschen im Westen über ihn denken.“ Auch auf den Spott der Opposition über das dem Kreml sklavisch ergebene Staatsfernsehen gebe er nichts. Peskows Kommentar: „Wer den Flötisten bezahlt, bestimmt den Ton.“

Worauf beide, Putin und Surkow, allerdings empfindlich reagieren, ist die Andeutung dessen, was ihnen als Kritik oder Einmischung seitens der USA oder Europas erscheint. Einige Tage vor den Duma-Wahlen ging die Regierung hart gegen die im Land effektivste NGO und Wahlbeobachtungsgruppe vor, gegen Golos („Die Stimme“). Als ich den Namen erwähne, wird Peskow ungemütlich: „Wir haben unsere Geheimdienste, und wir haben alle Beweise über NGOs, die vom Ausland gesponsert werden.“
„Putin mag es nicht, belehrt zu werden, oder?“, frage ich.

Das Lächeln kehrt zurück: „Als ich gerade hierher fuhr, hörte ich Radio. Und wissen Sie, was in den Nachrichten als erste Meldung kam? Das US-Außenministerium meldete schwerste Bedenken an wegen der russischen Politik gegen Homosexuelle!“ (Es ging um eine Gesetzesinitiative in St. Petersburg, mit der „die Werbung für Unzucht, lesbische Liebe, Bi- und Transsexualität unter Jugendlichen“ verboten werden soll.) Sich schieflachend, spricht der Pressesprecher weiter: „Was, fragte ich mich, macht das amerikanische Außenministerium eigentlich? Mit seiner Staatsverschuldung! Mit seiner kollabierenden Wirtschaft! Afghanistan, Irak, die Weltwirtschaft – ein einziger Albtraum! Und im amerikanischen Außenministerium sorgt man sich um die Homosexuellen in Russland! Einfach zu komisch! Als ich das hörte, hatte ich richtig gute Laune!“

Eine Woche vor der Duma-Wahl bin ich mit Ludmila Alexejewa, der Vorsitzenden der Moskauer Helsinki-Gruppe und großartigen Veteranin der Menschenrechtsbewegung, in deren Stadtwohnung zum Mittagessen verabredet. Sie ist 84 und regelmäßig im Internet unterwegs, stets auf dem Laufenden, was Bürgergruppen überall im Land angeht: Sie weiß von der Bewegung in Briansk, die mehr Kindergärten fordert, ebenso wie von der Frau in Komi, die soziale Medien nutzt, um Mitstreiter zu finden für die Einrichtung einer Schule für Autisten. Keine dieser Initiativen schafft es ins Staatsfernsehen, sie leben im Netz, sind faszinierend und vielversprechend, aber immer noch verstreut. „Ich glaube“, sagt Alexejewa, „das werden die letzten Wahlen sein, die das Fernsehen kontrolliert. Die nächsten Wahlen werden unter dem Einfluss des Internets stehen.“

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Im Februar vergangenen Jahres, nach dem Aufstand auf dem Kairoer Tahrir-Platz, ließ der stellvertretende russische Premierminister Igor Setschin erkennen, welche Ängste der Kreml vor dem Internet hat. „Schauen Sie, was sie in Ägypten gemacht haben, diese hochgestellten Manager von Google“, sagte er dem Wall Street Journal. Einige Funktionäre im Umkreis Putins haben sich genau angesehen, mit welchem Erfolg die Bürokratie der KP Chinas mit Filtersystemen zumindest einige kritische Quellen im Internet blockiert hat. Andererseits gehen die Behörden davon aus, dass derzeit schon mindestens 40 Millionen Russen online sind, zehn Millionen werden dazukommen –, viele von ihnen sind gut ausgebildet und weniger bereit, sich beim Internetsurfen gängeln zu lassen, als zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen im fernen Tschetschenien und Dages­tan hinzunehmen. Und so wurde am 4. Dezember, dem Wahlsonntag, denn auch eine ganze Reihe oppositioneller Websites durch Cyberattacken zum Absturz gebracht: „Neue Zeiten“, „Echo von Moskau“, „Bol­shoi Gorod“, „slon.ru“, „Kommersant“ sowie die Seite der NGO Golos.

Vor kurzem habe ich mit „Sascha“ und „Mascha“ gefrühstückt, den jungen anonymen Schöpfern des Twitterfeeds „KermlinRussia“, einer Parodie auf Dmitri Medwedews „KremlinRussia“. Man spottet nicht nur über Medwedews Langweiligkeit, sondern über den Versuch des ganzen Systems, einen glitzernden, modernen, letztlich jedoch korrupten Autoritarismus aufrechtzuerhalten.
Sascha und Mascha wollen nicht, dass ihre wirklichen Namen genannt werden. Er arbeitet im Bereich Public Relations, sie im Finanzwesen. Beide sind schick gekleidet, können reisen, beziehen ein gutes Gehalt und geben offen zu, ein „Doppelleben“ zu führen. Beiden ist klar, dass in ihren realen Leben alles auf die Nähe zur Macht ankommt; sie wissen, wer gegen das System antritt, riskiert alles.

Mit seinen ersten Tweets konzentrierte sich Sascha auf die unvorstellbaren Privilegien der Reichen und Mächtigen. Er tweetete, Medwedew nachäffend: „Ich verstehe dieses ganze Gerede über stundenlange Staus nicht, ich selbst brauche von Rublijowka bis zum Kreml nie mehr als zehn bis 15 Minuten.“ Maschas Tweets sind literarischer, kulturbewusster angelegt, auf alles Mögliche spielen sie an, von Eisenstein-Filmen bis zur Popmusik. Die beiden starteten ihre Webkarriere als Kommentatoren auf der ironischen oppositionellen Website Lepers Zone. „Wenn die Mächtigen ins Internet gehen, dann registrieren sie alles, aber sie hören nicht zu. Twitter dagegen ist die interaktivste aller Plattformen. ‚KermlinRussia‘“, fährt Mascha fort, „ist das Modell eines zivilgesellschaftlichen Gebildes, ein Vorbild, steht aber noch ziemlich alleine da.“

Nach den Präsidentenwahlen im März könnte Putin mehr Druck auf zivilgesellschaftliche Organisationen und Internet ausüben; das zumindest fürchten die beiden. Ein angeschlagener, wütender Putin wird gewiss nicht nett sein. „Medwedew spielte den Offenen“, sagt Sascha, „aber jetzt kommt Papa zurück und sorgt dafür, dass jeder sein Zimmer aufräumt.“

Das Ergebnis der Duma-Wahlen war eine schwere Enttäuschung für den Kreml. Einiges Russland errang um die 49,5 Prozent, ein deutlicher Einbruch gegenüber den 60 Prozent von vor vier Jahren. Wegen der Berichte über weitverbreiteten Wahlbetrug gehen viele davon aus, dass die wahren Zahlen noch viel niedriger sind. Die Kommunistische Partei, seit langem schon nationalistisch eingefärbt, hielt sich gut und kam auf 20 Prozent. In den Tagen nach der Wahl versammelten sich im Moskauer Zentrum Zehntausende Menschen und riefen: „Putin ist ein Dieb!“ und „Russland ohne Putin!“

Natürlich war das nicht der Tahrir-Platz. Russland ist demografisch viel älter, es herrscht höhere Beschäftigung als in Ägypten. Russlands einzigartige Größe und Geografie, um von der Entschlossenheit des Systems erst gar nicht zu reden, machen solche Unruhen viel schwerer einschätzbar. Große Teile der Mittelschichten sind am Wohlstand noch immer mehr interessiert als an Gesetz und Demokratie. Für viele Russen waren die Erfahrung der neunziger Jahre unter Jelzin, die damalige Gesetzlosigkeit, die wirtschaftliche Unsicherheit und wilde Privatisierung so verstörend, so enttäuschend, dass sie die neu gewonnenen Freiheiten gar nicht wahrnahmen; ihnen erschien diese Periode nicht als demokratiya, sie sprachen bald schon von dermokratiya („Schitokratie“). Und dennoch scheint sich jetzt etwas zu verändern: Der Stimmungsumschwung ist offenkundig.

Übersetzung: Klaus Binder

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