Wladimir Selenskij feiert seinen Wahlsieg
Wladimir Selenskij feiert seinen Wahlsieg / picture alliance

Ukraine wählt Wladimir Selenskij - Vom „Diener des Volkes“ zum Präsidenten

In der Ukraine haben die Menschen mit Wladmir Selenskij einen Comedian zum Präsidenten gemacht und den Amtsinhaber Petro Poroschenko abgewählt. Damit haben sie sich für mehr Pragmatismus entschieden

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Eigentlich ist es ganz einfach: Petro Poroschenko hatte den Ukrainern Frieden und Wohlstand und ein Ende der Korruption versprochen. „Leben auf neue Art“ stand auf seinen Wahlplakaten im Jahr 2014, kurz nach der Maidan-Revolution. Fünf Jahre Zeit gaben ihm die Ukrainer, nun entschieden sie: Er hat nicht geliefert. Millionen Ukrainer haben in den vergangenen Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben das Land in Richtung Russland und Europa verlassen. Statt mit Frieden, Wohlstand und Kampf gegen die Korruption ging Poroschenko 2019 denn auch mit dem Slogan „Armee, Sprache, Glaube“ in die Wahl, dem Kampf für die ukrainische Sprache, einem stark militärisch geprägten Patriotismus und der Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche vom Moskauer Patriarchat.

Poroschenko zieht alle Register – vergeblich

Als er nach dem ersten Wahlgang merkte, dass das nicht reichte, zog er alle Register: Zuletzt hingen an den Straßen des Landes Plakate mit den Gesichtern Poroschenkos und Putins und der Aufschrift „Tag der Entscheidung.“ Die Spin-Doctors des Präsidenten versuchten den Ukrainern zu verkaufen, dass Wladimir Selenskij der Kandidat Moskaus sei. Im Internet beschimpften Poroschenkos bezahlte Trolle und echte Anhänger die Wähler des politischen Gegners als Landesverräter. Der amtierende Präsident war es, der in den letzten Wochen die Spaltung des Landes vorantrieb, um an der Macht zu bleiben.

Die Ukrainer haben ihm diese spalterische Politik übel genommen: Fast drei Viertel der Bewohner gingen am Wahltag mit der Überzeugung an die Urne, dass ihnen eine pragmatische Verbesserung ihrer Lebensumstände und eine Beendigung des Krieges in der Ostukraine wichtiger ist als geopolitische Fragen wie eine Mitgliedschaft in der Nato, Camouflage-Patriotismus, die Unabhängigkeit der Kirche vom Moskauer Patriarchat oder die Frage, in welcher Sprache ein wahrer Ukrainer sprechen müsse. Es war ihnen einerlei, dass Selenskij meist Russisch spricht. Selbst im besonders patriotischen Westen der Ukraine kam Poroschenko nur auf 40 Prozent der Stimmen.

Das zeigt, wie satt die Ukrainer diesen Politiker alten Typus‘ haben, der wie alle anderen ukrainischen Präsidenten im Sowjetsystem sozialisiert worden war. Poroschenko glaubte, seine Wiederwahl dadurch zu erreichen, dass er korrupte Provinzfürsten gewähren ließ. Wie alle anderen Vorgänger fand er es zu riskant, das Justizsystem wirklich in die Unabhängigkeit zu entlassen – zu wichtig ist dieses Machtinstrument in der Hand des Präsidenten.

Wie reagieren die Oligarchen auf Selinskij?

Und nun? Was ist von diesem 41-jährigen Wladimir Selenskij zu erwarten, den die Ukrainer (und im übrigen auch die Russen) als Comedian schätzen, der aber über keinerlei politische Erfahrung verfügt? Ukrainische Journalisten betrachten verwundert die politische Mannschaft Selenskijs, die er vor einigen Tagen als Schattenkabinett präsentierte: Die allermeisten Gesichter sind wirklich neu und politisch praktisch unbeschriebene Blätter. So etwas kennt die Ukraine nicht. Am Wahlabend kündigte er konkret an, bald den Generalstaatsanwalt auszuwechseln, ein von Poroschenko installierter Politiker, der zum Inbegriff des präsidentiellen Durchgriffs auf die Justiz geworden war. Den Kurs in Richtung EU-Mitgliedschaft will Selenskij fortsetzen, über eine Nato-Mitgliedschaft eine Volksabstimmung abhalten.

In der Serie „Diener des Volkes“, in der er in den vergangenen Jahren einen einfachen Mann aus dem Volke spielte, der plötzlich Präsident wird, landet Selenskijs Alter Ego im Gefängnis, als er in seinem Kampf gegen die Korruption den mächtigen Oligarchen des Landes in die Quere kommt. Diese sind auch im wirklichen Leben nicht zu unterschätzen: Durch die Finanzierung von Parteien verfügen sie über politische Macht, eigene Fernsehsender verleihen ihnen mediale Macht. Soweit bekannt, steht hinter Selenskij bislang nur Igor Kolomojskij, ein Oligarch, den Poroschenko aus dem Land gedrängt hatte. Andererseits: Die ukrainischen Oligarchen sind Wendehälse, die stets versuchen, sich dem Neuen im Amt anzudienen.

In die Parlamentswahlen im Herbst geht Selenskij mit einer eigenen politischen Kraft. Das Land ist eine parlamentarisch-präsidentielle Republik. Ob es ihm gelingen wird, das Land wirklich umzukrempeln, wird also davon abhängen, ob er die euphorische Welle der Unterstützung, die ihn ins Amt gebracht hat, bis zum Herbst wird reiten können. Sollte es ihm gelingen, in den nächsten Monaten den gordischen Knoten in der Ostukraine zu zerschlagen und einen wie auch immer gearteten Frieden herbeizuführen, wäre ihm die Unterstützung sicher.

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Jürgen Lehmann | Mo., 22. April 2019 - 13:09

Endlich einmal ein Wahlergebnis in dem die Korruption (wenigst vorläufig) verloren hat.

Das Fehlen einer politischen Erfahrung wird zu hoch angesiedelt. Letztendlich kommt es auf die Unterstützung des Volks an.

Die Verflechtungen von Politik und Medien ist leider in kaum einem anderen Land so groß wie in der Ukraine.
Mit das schwierigste Problem dürfte eine Lösung in der Ostukraine sein.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetrepublik (durch Gorbatschow) wurden ca. 20 Millionen Russen zu Emigranten im vorher eigenen Land. Besonders betroffen war die Ostukraine.
Einen Frieden hier herbeizuführen wird schwieriger als die Auflösung des „gordischen Knotens“.
Entscheidend wird auch das Verhalten des Westens sein.
Wenn man jedoch heute in der Gratulation von Trump die Drohung gegen Russland gelesen hat, dann ist von dieser Seite nur negative Unterstützung zu erwarten.

Brigitte Simon | Mo., 22. April 2019 - 16:12

Antwort auf von Jürgen Lehmann

Lieber Herr Lehmann,

heute ist noch immer Ostermontag, daher nur ein Satz bzw. Frage:
"Die Verflechtungen von Politik und Medien sind in keinem anderen
Land so groß wie in der Ukraine! Wirklich? Wir leben in Deutschland!
Nun wurden es doch drei,

Noch einen fröhlichen Ostermontag,
Brigitte Simon

Liebe Frau Simon, Sie haben bei meinem Kommentar das Wort „kaum“ überlesen.
Natürlich ist die Welt der Politik und Medien auch in der BRD nicht in Ordnung.
Ein Vergleich mit der UKRAINE ist jedoch ein wenig überzogen.

Eigentlich müsste der Hinweis auf „Politik und Medien“ erweitert werden um „Industrie, Banken…...und einflussreiche Privatpersonen.

Vielen Dank für den fröhlichen Ostertag. In unserer Weingegend wurde der Ostermontag tatsächlich fröhlich und erholsam.

Jürgen Lehmann

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es sowas wie "unabhängige" Media gibt. Hier gilt auch: wer die Zeche zahlt..... . Es gibt aber sicherlich Unterschiede. In Deutschland wird es nur moderat übertrieben. Aber für mich bleibt die NZZ weiterhin die beste deutschsprachige Zeitung.

Lieber Herr Lehmann,

Sie haben sooo Recht. Ich muß mein diagonales Lesen reduzieren.
Aber eins hatten wir gemeinsam: Einen fröhlichen und er-
holsamen Ostermontag. So erholsam, wieder die Cicero-
kommentare zu schreiben und nehme mir Zeit, ausführlicher
zu lesen.

Eine schöne Nachosternzeit,Brigitte Simon

Tonicek Schwamberger | Mo., 22. April 2019 - 16:29

... über den Wahlsieg des Kabarettisten - auch, wenn er erst einmal keine politische Ahnung hat - das ist allemal noch besser und erträglicher als Poroschenko, den ich einmal ganz salopp den ukrainischen "Schokoladenkönig" nenne. Mit ihm kann und würde niemals die Korruption bekämpft, geschweige denn beseitigt werden, das wäre ein Ding der Unmöglichkeit, zumal ja der "Schokoladenkönig" auch selbst ein Oligarch ist.- Ob und wie Selensky das Land ändern, den Krieg beenden und einen Teil der grassierenden Armut beseitigen kann, ist in Frage gestellt. Aber besser so, als mit der alten Garde weiter das alte System fortsetzen.- Wünschen wir dem Kabarettisten Selensky alles Gute und eine glückliche Hand.

Antal Sebes | Mi., 24. April 2019 - 11:24

Antwort auf von Tonicek Schwamberger

In der Ukraine, Rumänien oder Ungarn die Korruption zu bekämpfen ist eine Lebensaufgabe, da die Korruption Teil des gesellschaftlichen Lebens ist. Die Korruption ist überall gegeben, die Frage ist immer nur das Niveau. Aber zu glauben, dass Deutschland und andere "demokratischere" Länder sauber sind, wäre verfrüht. Eine große Prozentzahl der EU-Subventionen wird zweckentfremdet benutzt; ins Deutsche übersetzt, geklaut. Es wird besonders bei den Agrarsubventionen "geschummelt".

Vergessen Sie es. Ist schon fast im Blut. Immer hin mehr als 29 Jahren. Und mit Westliche Hilfe kommt es noch schlimmer: "die Frage ist immer nur das Niveau."
Für Jahrzehnte verlorenes Land?. Sieht fast so aus.
"Selenski hatte die Friedensverhandlungen für die Ostukraine mit Russland in seiner Siegesrede am Sonntagabend als Priorität benannt. Er werde die Minsk-Gespräche fortsetzen, sie neu aufnehmen." Wenn er es ernst meint, sollte es nach Donbass die erste Reise sein. Ich glaube nicht an Friedens Engel, und der ist kein Engel. Gut wenn er sich nicht als Kriegsteufel entwickelt. Mit Beihilfe...
Hoffen wir aber das Beste. Die Hoffnung usw..
„Während zwei US-Flugzeugträgerverbände im Mittelmeer üben, sprach Huntsman gegenüber Russland von "100.000 Tonnen internationaler Diplomatie"“
https://www.heise.de/tp/features/US-Botschafter-Huntsman-Entlarvende-Ch…
da kommen wir auch nicht weiter. Mit „internationaler Diplomatie“
Verrückte Welt.

Klaus Dittrich | Mo., 22. April 2019 - 18:50

Auch die USA hatten in den 80ern - eine der gefährlichsten Zeiten des 20. Jahrhunderts - plötzlich einen Ex-Schauspieler als Präsidenten.
Die politische Erfahrung - da stimme ich Hr. Lehmann zu - wird wohl zu veranschlagt. Entscheidender dürfte sein, ob es ihm gelingt, den alten (vermutlich) "geschmierten" Regierungsapparat umzukrempeln.

Ernst-Günther Konrad | Di., 23. April 2019 - 10:57

Antwort auf von Klaus Dittrich

Und Reagan war der schlechteste auch nicht. Ich stimme Ihnen vollends zu gebe aber zu bedenken, dass er es sehr schwer haben wird, einen schnellen Wandel gegen jahrelang implemetierte Korruption aus den Köpfen, der ja immer noch in Amt und Würden befindlichen Regionalpolitiker, der Verwaltung und der Sicherheitsapparates zu bekommen. Die Macht des Geldes, der Oligarchen, sie ist groß und es bedarf viel Kraft, Energie und auch guter fachlicher vertrauensvoller Beratung, systematisch, Schritt für Schritt, das Ruder herum zu reißen. Das er den Willen hat, will ich ihm nicht absprechen, ob ohne eigenen Schaden gegen diesen Ungeist ankommt. Ich wünsche es ihm. Das er mit Putin reden will ist grundsätzlich gut. Nur Kommunikation bringt weiter. Das täte unserer Regierung auch besser als ausgrenzen und diffamieren. Das Merkel dem falschen huldigt, alles andere hätte mich überrascht.:)

Alexander Mazurek | Mo., 22. April 2019 - 21:14

… wichtig, wen das Volk wählt, sondern wichtig, wer die Stimmen auszählt - soll Stalin gesagt haben. Nun, heute sind wir einen Schritt weiter und haben die Wahl nur zwischen den uns bereitgestellten Kandidaten … der so demokratisch Gewählte wird vorrangig für "return on investment" seiner Sponsoren sorgen müssen, wer auch immer es ist. Das ist das Geheimnis der "checks and balances" ...