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Ukraine - Bis wohin darf der Westen den Sieg von 1989 auskosten?

„Bruch des Völkerrechts”, „Verletzung der Souveränität”! Unter diesen Leitgedanken haben Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier ihre Ukraine-Politik gestellt. Die deutsche Geschichte und die deutschen Verbrechen werden dabei ausgeblendet.

Autoreninfo

Stefan Buchen ist Fernsehautor beim ARD-Magazin Panorama. 2011 wurde er mit dem Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien ausgezeichnet.

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2014 fällt das Nachdenken über die Geschichte mit der sich vor unseren Augen entfaltenden Zeitgeschichte zusammen. Ein goldener Moment für jemanden wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Im Habitus des Gelehrten doziert er über die  „europäische Katastrophe” von 1914. Im Habitus des Diplomaten teilt er seine Genugtuung über die Anberaumung der nächsten Gesprächsrunde zur laufenden Ukraine-Krise mit.  „Um das Schlimmste zu verhindern”. Mit seinem französischen Amtskollegen Laurent Fabius tritt er in Chisinau und in Tiflis auf, um die dortigen Regierungen der Solidarität Europas zu versichern. Alles findet fast gleichzeitig statt, vor laufenden Kameras.

Tatsächlich ist Steinmeier ein Gelehrten-Darsteller und ein Diplomaten-Darsteller in Personalunion. Tatsächlich haben er und die Kanzlerin nicht die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen. Sie müssen sich eine entwaffnende und entgeisternde Oberflächlichkeit des Denkens vorwerfen lassen. Konsequenterweise konnten sie die entscheidenden Schlüsse auch nicht in praktische Politik ummünzen.

In diesem historischen Moment reicht es nicht aus, sich auf die Prinzipien zu berufen,  „auf die sich die Vereinten Nationen verständigt haben”: Achtung der Souveränität und territorialen Integrität ihrer Mitglieder und Sanktionen gegen diejenigen, die das Völkerrecht brechen. Von einer deutschen Regierung ist mehr zu verlangen.

Es geht um die Frage, wie Siege ausgeschlachtet werden. Bis zu welchem Punkt ist das Ausschlachten legitim und vor allem klug, und ab wo sät man den Hass, der den nächsten Krieg heraufbeschwört?

Zwei historische Beispiele haben wir vor Augen: zum Ersten den Sieg der Alliierten über Deutschland im Ersten Weltkrieg. Kaum jemand bestreitet, dass die Kapitulationsbedingungen und der Versailler Vertrag einen Boden bereitet haben, auf dem Hitler besser gedeihen konnte, als er es sonst hätte tun können. Der in vieler Hinsicht prophetische französische Autor Jacques Decour nannte Hitler 1932 gar den  „Sohn von Versailles”. Beim Auskosten ihres Sieges sind Frankreich, Großbritannien und die USA zu weit gegangen.

1989 erlebten wir – im Schatten eines furchterregenden militärischen Gleichstandes – einen überwältigenden politischen Sieg. Sowohl der Ostblock als auch sein Kernland, die Sowjetunion, brachen zusammen. In Jahrzehnten der verbissenen bipolaren Auseinandersetzung hatte sich der real existierende Sozialismus gegenüber dem westlichen Kapitalismus als weniger attraktiv und unterlegen erwiesen. Russische Soldaten zogen aus Ostdeutschland ab. Der Warschauer Pakt löste sich auf. Auf dem Gebiet der Sowjetunion entstanden unabhängige Staaten, die sich in der  „Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten” zu einem mehr oder weniger verbindlichen Zusammenhalt unter russischer Führung bekannten.

EU und Nato dehnten sich nach Osten aus. Die Expansion schloss die baltischen Staaten ein. Das war nachvollziehbar, war die Einverleibung Litauens, Lettlands und Estlands in die Sowjetunion doch das Ergebnis des Diktatorenpaktes zwischen Hitler und Stalin gewesen.

Bis wohin sollte der Westen seinen Sieg über Moskau klugerweise auskosten? Über diese Frage scheint es zwischen Berlin, Washington, London und Paris nie eine gründliche Diskussion, geschweige denn eine klare Verständigung gegeben zu haben. Zeit dafür wäre genug da gewesen.

Stattdessen verhalten sich westliche Machtpolitiker in berauschtem Selbstbewusstsein seit 1990 nach dem Prinzip:  „all you can eat” bzw.  „the winner takes it all”. Besonders verblüffend ist angesichts dessen das gegenwärtige Lamentieren über  „Putins Expansionsgelüste”. Der Griff Wladimir Putins nach der Krim und, vorerst, nach dem Osten der Ukraine wird von Obama, Merkel und Steinmeier, mit freundlicher Unterstützung aus Presse, Rundfunk und Fernsehen, als ein archaischer Reflex dargestellt, der ins 19. und beginnende 20. Jahrhundert gehöre. Das Denken in territorialen Einflusssphären sei doch eigentlich passé.

Guten Morgen! Jenes Denken ist lebendiger denn je, auch und gerade in den Köpfen europäischer und US-amerikanischer Politiker, Militärs und Geheimdienstler. Es ist eine Chimäre, dass Territorium im Zeitalter der Globalisierung, des freien Warenaustauschs und der virtuellen Räume keine Rolle mehr spielen würde. Selbst Dubai und die Caymans brauchen ein Territorium, und sei es noch so klein.

Die Scheinheiligkeit des gegen Putin erhobenen Vorwurfs der  „Expansion” zeigt sich jedoch am deutlichsten im westlichen Agieren und Agitieren auf ehemals sowjetischem Gebiet. Angefangen in der Ukraine selbst während der  „orangenen Revolution” 2004 über das rohstoffreiche Azerbaidjan am Kaspischen Meer bis hin nach Georgien im Kaukasus. Der kurze Krieg in Georgien 2008, in dem der Westen  „seinem Mann” Sakaschwili gegen Russland erfolglos den Rücken stärkte, hätte die letzte Warnung sein müssen. Angela Merkel war damals Bundeskanzlerin, Frank-Walter Steinmeier Außenminister. Hände weg von ehemals sowjetischem Territorium! Nato und EU müssen eine klare Grenze ihrer eigenen Expansion ziehen. Die Menschen in Russland und in den früheren Sowjetrepubliken müssen ihre Zukunft zunächst selbst und unter sich bestimmen. Dieser Grundsatz gilt auch 25 Jahre nach dem Sieg.

Die prowestliche Führung in Kiew nennt den Einsatz ihrer Truppen im Osten der Ukraine einen  „Anti-Terror-Kampf”. Man fragt sich, ob die unfreiwillige Ironie dieses Begriffs bei Merkel und Steinmeier angekommen ist. Jazenjuk und co. stellen ihr Vorgehen unter ein Motto, dem Berlin und Washington ihre Unterstützung vermeintlich nicht verweigern können. Schließlich führt der Westen selbst seit mehr als einem Jahrzehnt einen  „Anti-Terror-Kampf”.

Man wundert sich, wie leichtfertig Merkel und Steinmeier sich in die Geiselhaft ihrer eigenen Begriffe nehmen lassen (eine ähnliche ironische Spiegelung westlicher Politik findet aktuell in Ägypten statt, wo der neue starke Mann Sisi seine Linie unter den Leitgedanken des  „Kampfes gegen den Terrorismus” stellt). Putin setzt noch eine Spitze drauf, indem er von der  „Verteidigung der russischen Minderheitenrechte” spricht. Wie haben die westeuropäischen Kolonialmächte noch gleich ihre Interventionen auf der Krim und dann später auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches gerechtfertigt, wie die Nato ihr Eingreifen im Kosovo 1999?

Jenseits der Ironie bohrt die Frage, ob Merkel und Steinmeier sich und der Öffentlichkeit zur Genüge Rechenschaft darüber abgelegt haben, mit wem sie sich in Kiew einlassen und im Schatten welcher Geschichte sie dort Interessenpolitik betreiben. Viele  „proeuropäische” Politiker und Bürger in der westlichen Ukraine heißen Stepan Bandera, einen Ultranationalisten, SS-Bewunderer und Judenhasser, ihr Idol. Der Konflikt findet auf einem Territorium statt, das Hitler-Deutschland in seine Lebensraumfantasien einbezog. Dreieinhalb Jahre lang wurde es mit Krieg und Zerstörung überrannt und dort wurde der Massenmord an den Juden entscheidende Etappen hin zum Einsatz der Gaskammer vorangetrieben.

Unter den letzten sieben NS-Kriegsverbrechern, die trotz penetranter deutscher Gnadenlobby von der US-Justiz in der Bundesrepublik hingerichtet wurden, haben einige ihre Mordtaten auf ukrainischem Boden verübt. Aber wer weiß noch von Paul Blobel und Dr. Werner Braune? Für die Öffentlichkeit, und wohl auch für Merkel und Steinmeier, ist das Gefängnis in Landsberg am Lech in erster Linie der Ort, an dem Uli Hoeneß demnächst wohl ein paar Monate verbringen wird. Es scheint nicht der Ort zu sein, der Deutschland mit den eigenen Verbrechen in der Ukraine konfrontiert und zu etwas mehr Demut anregen könnte.

In der Adenauer-Zeit musste die Bundesrepublik von den USA an die wenige Jahre zurück liegenden Verbrechen erinnert werden. Deutschland wollte unter die Vergangenheit einen  „Schlussstrich” ziehen. Heute müsste Deutschland die USA daran erinnern, dass das „Unternehmen Barbarossa” sich in der Ukraine-Politik niederschlagen muss.

Was denkt Merkel, wenn sie die BND-Berichte über die Hausbesetzungen der  „russischen Separatisten” in der östlichen Ukraine vorgelegt bekommt? Ist es nur eine professionelle Vorlage für das nächste Telefonat mit Putin? Diese Berichte könnten auch den Blick auf die Geschichte etwas konsequenter werden lassen. Deutsche Agenten leisten heute Pionierarbeit gegen Putin, indem sie die Kanzlerin mit Geheiminformationen aus der Ostukraine füttern. Das könnte die Kanzlerin an die Ursprünge ihres Auslandsnachrichtendienstes erinnern.  „Fremde Heere Ost” begann damals, in Odessa, und anderswo in der Ukraine.

Man solle die Vergangenheit lieber ruhen lassen, war in der SZ zu lesen. Anlass für diesen Ratschlag waren die russischen Siegesfeiern vom 09. Mai. Wer sich in die Geschichte verbeiße, blockiere dringend benötigte politische Lösungen. Aber wer sich der Geschichte, vor allem der eigenen, nicht zur Genüge bewusst ist und auf  „universelle Prinzipien des Völkerrechts” pocht, als wäre sonst nichts gewesen, wird sich in diesem Konflikt heillos verstricken.

Was bedeutet das für die Ukraine? Eine einfache, gute Lösung gibt es wohl nicht mehr. Dafür ist das Kind schon zu tief in den Brunnen gefallen. Aber es gibt eine etwas bessere und eine etwas schlechtere Lösung. Die etwas bessere wird darin bestehen, der Führung in Kiew zu signalisieren, dass sie die Zukunft der gesamten Ukraine vor allem mit Moskau aushandeln muss. Dabei können Europa und die USA allenfalls die Rolle eines (bescheidenen) Vermittlers, nicht aber die Rolle eines mächtigen Verbündeten spielen. Die etwas schlechtere Lösung läge in der Teilung der Ukraine in einen prorussischen und einen dem Westen verbundenen Teil. Dann fände man sich quasi bei der Huntington´schen Bruchlinie zwischen slawisch-orthodoxer und europäisch-katholischer Welt wieder. Man agierte dann doch auf ehemals sowjetischem Gebiet und Deutschland hätte wieder eine Schicksalsgemeinschaft mit einem Rumpfterritorium im Osten. Keine gute Idee.

Es leuchtet ein, dass viele Ukrainer nach den Erfahrungen des kollektiven Hungertodes und der stalinistischen Säuberungen während der 30er Jahre nicht zu Russland gehören möchten. Auch die jüngste Vergangenheit der Regierung des kremlhörigen Viktor Janukovitsch war eher abschreckend. Es fällt schwer hinzunehmen, dass undurchsichtige Emporkömmlinge und Polit-Kriminelle im Osten der Ukraine den Lauf der Dinge mittels Mord, Folter und hurtigen Referenden diktieren. Aber gleichzeitig darf man der Frage nicht ausweichen, wie viel Europa und die USA zu dieser fatalen Entwicklung beigetragen haben. Unsere Fehler hätten wir vermeiden können, wenn wir rechtzeitig eine klare Antwort auf die Frage formuliert hätten: bis wohin dürfen wir den Sieg von 1989 auskosten?

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