Russland und der Westen - Doppelter Ansatz für die Deeskalation

Dem Westen ist es nie gelungen, die Gegnerschaft mit Russland zu beenden. Nach dem Kalten Kriegs hätte man versuchen müssen, auch die russische Perspektive zu verstehen. Zu ihrem 70-jährigen Bestehen ist es Zeit, dass sich die Nato auf ihre gemeinsamen Interessen mit Russland besinnt

Gehen in Flammen auf: Der russische Präsident Putin und das Symbol der Nato / picture alliance
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Professor für Politikwissenschaft. Varwick ist Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Reiner Schwalb ist Brigadegeneral a.D. und ehemaliger Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau

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Von der Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung ist nicht viel übrig geblieben. Die territoriale Integrität von Staaten wird von Russland infrage gestellt, Grenzen mit militärischer Gewalt verschoben, die Ost-Ukraine befindet sich im Kriegszustand und die Nato denkt aus nachvollziehbaren Gründen wieder in Kategorien der Bündnisverteidigung. Sie will Russland – das zunehmend machtbewusst in der internationalen Politik auftritt – durch eine Neubewertung des Themas Bündnisverteidigung von (weiterem) militärischem „Abenteurertum“ abschrecken und hat zu diesem Zweck ihre militärischen Planungen erheblich umgebaut. Rüstungsetats steigen, Rüstungskontrollverträge wie der Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme sind aufgekündigt, Kontakte zwischen Militärs beider Seiten kaum noch vorhanden, Militärmanöver auf beiden Seiten denken und üben wieder Kriegsszenarien, und das politische Klima ist eisig. Kurzum: wir befinden uns mitten in einer Eskalationsspirale und in einem klassischen Sicherheitsdilemma.

Nachdem vor 30 Jahren der Ost-West-Konflikt beendet wurde, war und ist das politische Ziel mit Blick auf Russland richtig: die Gegnerschaft überwinden und Russland zur Kooperation ermutigen. Das ist jedoch einstweilen gescheitert – mit fundamentalen Konsequenzen für die europäische Sicherheitsordnung. Sollen wir bei diesem Status quo stehen bleiben oder brauchen wir nicht einen wirklich neuen politischen Anlauf, um diese brisante Lage zu entschärfen? Worin liegen die tieferen Ursachen dieses Scheiterns und was können wir daraus lernen? Was ist denkbar und umsetzbar – und welche Schritte sind dafür erforderlich?

Die andere Seite

Diskutiert man mit Russen, so werden einem insbesondere die, aus russischer Sicht klar gegen russische Interessen verstoßenden Punkte Kosovokrieg, Libyen-Einsatz, Erweiterung der Nato, US-amerikanische Raketenabwehrprogramme (die sowohl als Versuch der Unterminierung russischer Zweitschlagsfähigkeit, als auch als mögliche Voraussetzung für den Einsatz von Mittelstreckenwaffen verstanden werden) sowie Parteinahme für die Westorientierung der Ukraine und damit das vermeintliche Eindringen in direkte russische Einflusszonen – die nach russischem Denken und nach russischer strategischer Kultur das für die eigene Sicherheit nötige Glacis bilden – vorgehalten. All diese Punkte stellen sich in westlicher Perspektive vollkommen anders dar – aber wenn Außenpolitik bedeutet, mit den Augen der anderen zu sehen, dann haben wir die russische Perspektive zu wenig verstanden.

Verstehen heißt nicht akzeptieren, aber unbeantwortet – und da haben die Russen einen konzeptionell nachvollziehbaren Punkt – bleibt insbesondere die Frage nach den Grenzen und dem Charakter des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum. Sollten „russische Einflusszonen“ akzeptiert und etwa Staaten wie Georgien oder der Ukraine eine Nato-Beitrittsperspektive abgesprochen werden, weil Russland dadurch einen Einflussverlust befürchtet, oder muss nicht für alle Staaten das Prinzip der freien Bündniswahl gelten? Anders und allgemeiner gewendet: Wie viel destruktive Politik Russlands kann und soll akzeptiert werden, ohne dass dies Konsequenzen für die Beziehungen zueinander hätte?

Vom Westen eingekreist

Nachdem das Kind für alle sichtbar in den Brunnen gefallen ist – also Russland die Krim annektiert und die Destabilisierung der Ostukraine unterstützt hat – war die ab 2014 eingeleitete moderate, aber dennoch ohne Zweifel ernst gemeinte Rückversicherungspolitik der Nato grundsätzlich ein richtiger Ansatz. Gleichwohl wird im Rückblick möglicherweise deutlicher, von wie vielen Fehlannahmen die Beziehungen zwischen der Nato und Russland geleitet wurden. Die Ukraine-Krise, so formulierte es Wolfgang Ischinger, ist schlicht die Rechnung dafür, dass wir unser Klassenziel bei der Anbindung Russlands an den Westen und das westliche Bündnis nicht erreicht haben. Realistische Theoretiker warnten schon früh, dass die Nato mehr auf russische Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen hätte und brachten vielfach Verständnis für vermeintliche „Einkreisungsängste“ durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA auf.

Und in der Tat hat sich das Nato-Territorium seit 1999 um etwa 1000 Kilometer in Richtung russische Grenze ausgedehnt. So argumentierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, dass ein Dreierpakt des Westens aus Nato- und EU-Erweiterung sowie Demokratieförderung Nahrung für ein Feuer gewesen sei, das nur noch entzündet werden musste. Sein deutscher Kollege Christian Hacke wiederum mahnte bereits früh, die Nato könne eine sicherheitspolitische Partnerschaft mit Russland und die Sicherheit der Nachbarstaaten nicht zugleich herstellen und sieht darin das zentrale strukturelle Dilemma der Erweiterung. Natürlich haben die Realisten – wie stets – einen guten Punkt, und Russland hat frühzeitig klar gemacht, dass es die westliche Politik als massive Verletzung seiner Interessen versteht. Und ebenso natürlich muss der Westen selbstkritisch sein und prüfen, ob er bei seiner Strategie seit 1990 von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.

Widersprüchliche Interessen

Wie ein Ausgleich dieser Interessen zu erreichen ist, bleibt eine offene Frage. Es spricht einerseits wenig dafür, dass dies auf dem Wege eines Entgegenkommens gegenüber den selbst definierten russischen Sicherheitsinteressen gehen könnte. Denn das würde bedeuten, dass das mit militärischer Gewalt geschaffene Denken in Einflusszonen akzeptiert und auf die Prinzipien der „Charta von Paris“ aus dem Jahr 1990 (u. a. freie Bündniswahl, Beachtung der territorialen Integrität der Staaten) verzichtet würde. Insbesondere das Prinzip der territorialen Integrität ist dabei von strategischer Bedeutung für die Stabilität in Europa.

Und es bleibt auch richtig, dass Russland seine Einflusszonen nicht mit Drohungen und Gewalt erfolgreich an sich binden sollte, sondern besser mit „soft power“, also Attraktivität seines eigenen Politik- und Wirtschaftsmodells – agieren sollte. Auf dieser Ebene ist Russland aber schwach. Russland ist insofern auf dem Irrweg und wird das eines Tages auch erkennen (müssen). Anderseits können der Westen und die Nato dabei auf Basis der eigenen Stärke bzw. gesicherter Abschreckungsfähigkeit handeln, denn die militärischen Fähigkeiten (und auch die absoluten Ausgaben für Rüstung) sind trotz mancher Defizite um ein Vielfaches höher als die russischen.

Weil dies so ist, wäre es auch ratsam, intensiver darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. In ökonomischer Hinsicht sollten die Sanktionen die ohnehin schon schwache russische Wirtschaft nicht noch weiter schwächen, sondern im Gegenteil der Austausch auf allen Ebenen intensiviert werden. Das, was früher einmal „Modernisierungspartnerschaft“ genannt wurde, sollte reaktiviert werden, trotz der schlechten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen dafür. In geopolitischer Hinsicht müsste es das fundamentale Interesse der Europäer sein, die Russen zu „pazifizieren“, in dem Sinne, dass sie geographisch saturiert sind. Und sie daran zu interessieren, eine stabile Ordnung mit den Europäern aufrechtzuerhalten.

Kooperative statt konfrontative Sicherheit

Es hätte für die Russen, aber auch für die Europäer eine Reihe von Vorteilen, weil sie dann sicherheitspolitisch nicht so viel investieren müssten gegeneinander, sondern sich auf die anderen beiden großen geopolitischen Herausforderungen, nämlich den Nahen Osten und die gegenüberliegende Mittelmeerküste konzentrieren könnten, im besten Fall dies sogar gemeinsam. Politik gegenüber unseren Partnern sollte noch stärker „Reassurance“ betonen, dazu ermuntern, eigene aggressive Rhetorik einzudämmen und dafür werben, ohne das gegenwärtige russische Handeln durch ein negativ besetztes „Appeasement“ zu goutieren, kooperativer Sicherheit, die alle Politikfelder umfasst, den Vorrang vor konfrontativer Sicherheit zu geben.

All dies klingt heute wie ein Griff in die Kiste realitätsferner und aus Sicht mancher, naiver Utopien. Doch bei dieser Erkenntnis stehen zu bleiben, bringt nicht die notwendige politische Dynamik, um aus der Eskalationsspirale herauszukommen. Die bestehenden Gremien – und insbesondere der Nato-Russland-Rat – leiden darunter, dass sie „entpolitisiert“ sind und allenfalls den Status quo verwalten. Nahezu ausschließlich politische Gespräche zu führen, ist zu wenig. Auch militärische Fachgremien müssen wiederbelebt werden. Radikalere Schritte sind notwendig: Es müssen zunächst Themen identifiziert werden, an denen beide Seiten gleichermaßen Interesse haben – Ukraine, Syrien, Terrorbekämpfung, Rüstungskontrolle, Vermeidung von unbeabsichtigter Eskalation, Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, Kulturaustausch sind trotz aller Schwierigkeiten Beispiele dafür. Bestehendes sollte genutzt werden.

Für einen neuen Anlauf

Wir brauchen sicherheitspolitisch einen doppelten Ansatz. Über eine hochrangige Konferenz unter der Schirmherrschaft der Staats- und Regierungschefs im Rahmen der OSZE sollte nachgedacht werden, die ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät und diese Themen bewusst getrennt berät, aber das Ganze im Blick behält. Solang diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischer Weise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen – sollte zumindest bei Militärmanövern vollständige beiderseitige Transparenz vereinbart werden und Fachdialoge auf militärischer Ebene revitalisiert werden, um eine Risikominimierung zu betreiben. Ersteres ließe sich auf Basis des Wiener Dokuments von 2011 problemlos realisieren. 

Sanktionen sollten konditioniert schrittweise reduziert werden. Es scheint wenig hilfreich, einen Teil der Sanktionen an die vollständige Erfüllung des Maßnahmenpakets von Minsk zu knüpfen. Das mag für viele schmerzlich sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede andere Alternative ist deutlich schlechter. Noch weniger miteinander reden, darf keine Option sein.

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