Der Druck der Straße auf die bulgarische Regierung wächst / Frank Stier

Proteste gegen Bulgariens Premier Borissow - Ein Spiel auf Zeit

Am Tag des Einzugs der Bulgarischen Nationalversammlung in ihr neues Sitzungsgebäude offenbart sich die Zerrüttung des politischen Lebens in dem Balkanland. Die Regierung, der die Protestierenden Korruption vorwerfen, konnte vorerst ihren Kopf aus der Schlinge ziehen.

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Frank Stier ist Korrespondent für Südosteuropa und lebt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

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Einigkeit macht stark, lautet der Wahlspruch an Sofias historischem Parlamentsgebäude am Boulevard Zar Osvoboditel. 136 Jahre hat es Bulgariens Nationalversammlung beheimatet. Am Mittwoch, dem 2. September 2020, sind die bulgarischen Volksvertreter in das ehemalige Haus des Zentralkomitees der „Bulgarischen Kommunistischen Partei“ (BKP) gezogen.

Hochaufragend dominiert es die Stirnseite des Unabhängigkeitsplatzes, Sofias Largo. Der erste Sitzungstag von Bulgariens Parlamentariern im einstigen Parteihaus wurde überschattet von den heftigsten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizeikräften, die Bulgarien seit langem erlebt hat. 

Borissow übersteht den Großen Volksaufstand

Es sollte der Tag X werden, der die politische Karriere von Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow nach drei unvollendeten Mandaten in elf Jahren endgültig beenden würde. Dies hofften zumindest tausende Demonstranten, die seit nunmehr zwei Monaten täglich durch die Straßen von Bulgariens Hauptstadt Sofia ziehen und seinen Rücktritt fordern. Doch noch einmal hat Regierungschef Borissow seinen Kopf aus der Schlinge gezogen. Angesichts der unversöhnlichen Feindschaft zwischen Regierung und der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition stellt sich aber die Frage: wie lange noch?

„An dem Tag, an dem das Parlament die Große Nationalversammlung einberuft, damit diese über eine neue Verfassung entscheidet, trete ich von meinem Amt zurück“, hat Bojko Borissow am 14. August 2020 erklärt. Bulgarien brauche einen „Re-Start des politischen Systems“. Der erste Sitzungstag des Parlaments nach der Sommerpause gab der Fraktion von Borissows rechtsgerichteter Partei „Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens“ (Gerb) nun die erste Möglichkeit, mit der Hälfte der Unterschriften der insgesamt 240 Abgeordneten den Antrag auf Debatte zur Einberufung der Großen Nationalversammlung in das Hohe Haus einzubringen. 

„Tag des Großen Volksaufstands“

Sollte die Gerb aber die für die Antragsstellung erforderlichen 120 Stimmen nicht zusammenbekommen und gleichzeitig vor dem Parlamentsgebäude viele Bulgaren lautstark den Rücktritt des Kabinetts Borissow fordern, könnte der erste Sitzungstag des Parlaments in seinem neuen Gebäude mit dem letzten Amtstag des verhassten Regierungschefs zusammenfallen, hofften die Vertreter der Protestbewegung. Sie erklärten deshalb den ersten Sitzungstag des Parlaments zum „Tag des Großen Volksaufstands“. 

Vom frühen Morgen an kam es an den Stufen zu den Eingangspforten des Parteihauses zu erbitterten Rangeleien zwischen schwerbewaffneter Polizei und Demonstranten. Hagel aus Eiern, Tomaten und sogar Strohballen gingen auf die Ordnungshüter nieder. Dann sollte es bis zum Nachmittag dauern, bis die Meldung kam, die Gerb habe 127 Unterschriften zusammengebracht und den Antrag auf Debatte der Einberufung der Großen Nationalversammlung und einer neuen Verfassung in das Parlament eingebracht. Offenbar konnte die Gerb nur mit mit Mühe fraktionslose Abgeordnete und kleinere Oppositionsparteien zur Zustimmung zum „Re-Start des politischen Systems“ bewegen. 

Belarussische Verhältnisse 

In der Nacht kam es daraufhin zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten, darunter auch gewaltbereite Fußballfans, und den Polizeikräften. 80 verletzte Polizisten und 120 festgenommenen Personen, lautete die Bilanz der Polizeiführung am nächsten Tag. Bürgerrechtler veröffentlichten ihrerseits Videoaufnahmen von Szenen exzessiver Polizeigewalt, wie man sie sonst eher aus der belarussischen Hauptstadt Minsk kennt.

Die Parlamentarier haben nun eine Zeitspanne zwischen zwei und fünf Monaten, um über die Einberufung der Großen Nationalversammlung zu entscheiden. Regierungschef Borissow hat damit etwas Zeit gewonnen. Da die Partei der bulgarischen Türken „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) aber bereits erklärt hat, der Einberufung der Großen Nationalversammlung zur Verabschiedung einer neuen Verfassung auf keinen Fall zuzustimmen, ist schon jetzt klar, dass die Regierungspartei Gerb und ihre nationalistischen Koalitionspartner von den Vereinigten Patrioten (VP) die nötige Zweidrittelmehrheit von 160  Stimmen nicht zusammenbekommen werden.

Es ist kaum vorstellbar, dass sich Bulgariens politisches Leben in einer derart von Unruhen geprägten Weise bis zu den für den März 2021 angesetzten Parlamentswahlen vollziehen kann. Als eine Möglichkeit bis dahin erachten politische Beobachter deshalb die Bildung eines parteiübergreifenden Expertenkabinetts im Rahmen der Legislaturperiode des amtierenden Parlaments.

Dreieck der demokratischen Macht

Mit dem Umzug des Parlaments in das ehemalige Haus des ZK der BKP ist der von den bulgarischen Kommunisten in den 1950er Jahren im stalinistischen Zuckerbäckerstil errichtete Gebäudekomplex zu einem Dreieck der demokratischen Macht geworden. Ministerrat, Parlament und Staatspräsidium markieren seine Eckpunkte. Der den Sozialisten nahestehende Präsident Rumen Radew ließ es sich am Tag des Großen Volksaufstands nicht nehmen, von seinem Amtssitz zu Fuß durch die vor dem Parlament versammelte Protestmasse zum Plenarsaal des Parlaments zu schreiten.

Seine Rede zum Beginn der neuen politischen Saison wollten die Abgeordneten der rechtsnationalen Regierungskoalition aber nicht hören. Sie verließen geschlossen den Plenarsaal. Radew hat sich bereits zu Beginn der Protestbewegung Anfang Juli auf die Seite der Anti-Regierungsdemonstranten geschlagen und Ministerpräsident Borissow zum Rücktritt aufgefordert. Während Radew im Parlament sprach und es im Dreieck der Macht zu Scharmützeln zwischen Protestierenden und Polizisten kam, führte Regierungschef Borissow im Ministerrat eine virtuelle Kabinettssitzung durch und übertrug diese teilweise via Facebook. So wurde bekannt, dass die bulgarischen Pensionäre auch in diesem Monat 50 BGN (circa 25 €) zusätzlich Rente erhalten sollen. 

Gerb schließt Rückzug aus

Nach einem spannungsgeladenen Mittwoch räumten die Polizeikräfte in der Nacht zum Donnerstag die bestehenden Zeltlager der Aufständischen an vier wichtigen Kreuzungen der Stadt. Damit kann der Verkehr wieder fließen, ansonsten ist Bulgarien von einer Rückkehr zur politischen Normalität aber weit entfernt.

 „Wir können uns nach den Ereignissen der vergangenen Nacht in keiner Weise erlauben, einen Rücktritt zu erwägen“, erklärte der Gerb-Abgeordnete Toma Bikow am Morgen im Frühstücksfernsehen von bTV, „denn dies würde bedeuten, dass wir uns vom Druck eines kriminellen Kontingents zum Rücktritt zwingen lassen würden. Dann aber bestünde die Gefahr, dass künftig jede andere Regierung auf diese Weise aus ihrem Amt vertrieben werden könne.“ 

Präsident Radew habe einen Krieg der Institutionen angezettelt, schiebt Toma Bikow dem Staatsoberhaupt die Verantwortung zu für die politische Krise im Land. Der Gerb-Vorschlag zur Einberufung der Großen Nationalversammlung zielt ihm zufolge darauf ab, den politischen Dialog wiederherzustellen, sei doch „insbesondere die Große Nationalversammlung das Terrain, auf dem ein solcher Dialog stattfinden kann“. Den Tag X des Großen Volksaufstands hat Premier Borissow noch einmal politisch überlebt, dennoch erscheint er längst als eine „Lame Duck“, bereit für die Opferung auf dem Altar der politischen Versöhnung. 

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 5. September 2020 - 09:28

Wer will dieses zerstrittene Volk versöhnen? Ich lese da nichts. Wenn eine neue Verfassung gewünscht wird, wer soll die gestalten und wird dann das Volk befragt? Wer ein Land mit totalitären Mitteln führt, da mag man das eine Zeitlang hinbekommen, aber wenn eine wie immer ausgerichtete Opposition stark wird und Proteste auf die Straße bringt, wird es eng. Aha. Fußballhooligans machen Krawall und kapern politische Demonstrationen. Nur die Hooligans? Egal, was diese vermeintliche Opposition anstrebt. Mit Gewalt geht gar nicht. Mir ist in ihrem Artikel auch nicht klar geworden, wie diese Opposition politisch agieren will? Man wirft Korruption vor. Das habe ich verstanden. Aber welche politischen Ziele haben diese Oppositionellen eigentlich?
Ohne die Regierung dort zu bewerten, aber ihr Argument, nicht weichen zu wollen, wenn man gewaltsam vertrieben wird, scheint logisch. Geht das einmal, geht das immer. Immer dann, wenn man unzufrieden ist. Auch dort tiefe Gräben. Wer baut eine Brücke?