Unabhängigkeitsmarsch in Polen 2016
Der Unabhängigkeitsmarsch in Polen zog stets auch Rechtsextreme an / picture alliance

100 Jahre polnische Unabhängigkeit - Fest der Zwietracht

Polen feiert an diesem Sonntag den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch darüber, wie der Tag begangen werden soll, ist die Politik tief zerstritten. So wird eine große Chance vertan, die gespaltene polnische Gesellschaft zu versöhnen

Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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„Noch ist Polen nicht verloren.“ Die bekannten Anfangszeilen der polnischen Nationalhymne, die 1797 als Kampflied der polnischen Legionen in Italien entstanden, werden am Sonntag im ganzen Land erklingen. An diesem 11. November feiert Polen den 100. Jahrestag der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Ein Ziel, für das sie in mehreren Aufständen einen hohen Blutzoll bezahlten und mit dem Ende des 1. Weltkrieges nach 123 Jahren endlich erreichten. Das Ende des vier Jahre andauernden Gemetzels war für die Polen auch das Ende der Fremdherrschaft durch das Russische Reich, das Deutsche Kaiserreich und die österreichische Habsburgermonarchie, die Polen im 18. Jahrhundert stückweise wie einen Kuchen unter sich aufgeteilt hatten.

Ein Eklat in Berlin

Doch wer glaubt, dass dieser 100. Jahrestag ein harmonisches Fest ist, der irrt. Davon konnten sich sogar die Berliner Ende Oktober selbst überzeugen. Bei einem Konzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt riefen plötzlich vier Personen „Konstytucja – Verfassung“. Was war geschehen? Das Konzert war von der polnischen Botschaft organisiert worden, im Beisein von Staatspräsident Andrzej Duda und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als Duda zu seiner Rede ansetzen wollten, protestierten die Vier gegen die Justizreformen der Regierung, mit der die Verfassungsrichter entmachtet wurden. Als Reaktion auf die Protestaktion riefen Anhänger der nationalkonservativen Regierung in Warschau den Namen des polnischen Präsidenten. 

Es war ein Eklat, der nicht nur viel aussagt über die politische Situation in Polen, sondern auch über die Stimmung rund um den 100. Jahrestag. Das eigentlich freudige Ereignis wird überschattet von einem politischen Disput, bei dem mittlerweile so tiefe Gräben entstanden sind, dass die politische Elite des Landes den Jahrestag nicht mal gemeinsam begehen kann. Bei den offiziellen staatlichen Feierlichkeiten bleiben die Vertreter der regierenden Nationalkonservativen unter sich. Lediglich Donald Tusk, ehemaliger Ministerpräsident und heutiger EU-Ratspräsident, der sich seit Jahren in einem schon fast hasserfüllten Zwist mit der PiS befindet, wird am Sonntag bei einem Staatsakt vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten in Warschau einen Kranz niederlegen. Andere namhafte Vertreter der Opposition wie der heutige Vorsitzende der Bürgerplattform, Grzegorz Schetyna, begehen den Tag bei unterschiedlichen Veranstaltungen im ganzen Land verteilt.

Unabhängigkeitsmarsch mit rechten Parolen

Dabei riefen sowohl Staatspräsident Duda als auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bereits vor Monaten alle politischen Parteien dazu auf, diesen Tag gemeinsam zu begehen. „Lasst uns gemeinsam unter der weiß-roten Flagge an dem Unabhängigkeitsmarsch teilnehmen", appellierte beispielsweise Andrzej Duda. Und es gab es auch tatsächlich Gespräche über einen gemeinsamen Unabhängigkeitsmarsch, wie Oppositionschef Grzegorz Schetyna vor einigen Wochen in einem Interview zugab. Dieser sollte jedoch von der Präsidialkanzlei gemeinsam mit nationalistischen Gruppen organisiert werden, was der Opposition verständlicherweise missfiel. Seit 2009 veranstalten die rechten Organisationen Allpolnische Jugend, das Nationalradikale Lager (ONR) und die Nationale Bewegung den Unabhängigkeitsmarsch, der vergangenes Jahr weltweit für Schlagzeilen sorgte. 60.000 Menschen zog die Veranstaltung an, bei der fremdenfeindliche und rassistische Symbole zu sehen und Parolen zu hören waren. 

Dass der Marsch so viele Teilnehmer hatte, ist auch der nationalkonservativen PiS geschuldet. Trotz der rechten Organisatoren, fremdenfeindlichen Parolen, rassistischen Symbolen und auch der Gewalt, die allesamt feste Bestandteile der ersten Unabhängigkeitsmärschen waren, verharmloste sie das Ereignis stets als einen „Marsch von Patrioten“. Damit trug sie dazu bei, dass diese Veranstaltung gesellschaftsfähig wurde und viele Menschen gemeinsam mit Rechtsradikalen marschierten. Erst jetzt, als die Präsidialkanzlei von den Organisatoren nicht die Garantie bekommen konnte, dass auf dem Marsch nur die weiß-roten Nationalfahnen zu sehen sein werden, distanzierten sich sowohl der Staatspräsident, die polnische Regierung als auch die PiS von dem Unabhängigkeitsmarsch. Trotzdem dominiert er die Schlagzeilen. Denn die Vorbereitungen waren chaotisch.

Am Mittwoch untersagte das Warschauer Rathaus den Marsch zunächst. Als Reaktion beschlossen noch am selben Tag Staatspräsident Duda und Ministerpräsident Morawiecki, dass auf der Trasse des Unabhängigkeitsmarsches ein staatlicher „Weiß-Roter Marsch“ unter der Schirmherrschaft des Präsidenten stattfinden solle. Am Donnerstagabend kippte jedoch ein Gericht die Entscheidung des Rathauses. Nun besteht die Gefahr, dass am Sonntag der von Rechten organisierte Unabhängigkeitsmarsch mit dem staatlichen „Weiß-Roten Marsch“ kollidiert. Manche Experten fürchten gar gewalttätige Ausschreitungen, welche den 100. Jahrestag überschatten könnten.

Offener Hass zwischen den größten Parteien

Es wäre jedoch zu einfach, die fehlende Bereitschaft, diesen besonderen staatlichen Feiertag gemeinsam zu begehen, nur auf den umstrittenen Unabhängigkeitsmarsch zurückzuführen. Auch die aktuelle Politik der PiS mit ihrer umstrittenen Justizreform, die eine Gefahr für die Rechtstaatlichkeit bedeutet, dem Umbau der öffentlich-rechtlichen Medien in ein Propagandaorgan der PiS und die EU-Politik der nationalkonservativen Regierung, die nach Ansicht vieler Experten sogar zu einem „Polexit“ führen könnte, spielen eine Rolle.

Noch mehr aber sind es die offenen Animositäten und verletzten Eitelkeiten, die ein gemeinsames Feiern des Jahrestages unmöglich machen. Der politische Streit zwischen der nationalkonservativen PiS und der wirtschaftsliberalen Bürgerplattform, den dominierenden politischen Parteien, wird seit 2005 so erbittert geführt, dass zwischen beiden Seiten nur noch offener Hass herrscht. Angefangen mit dem „Opa aus der Wehrmacht“, mit dem die PiS im Präsidentschaftswahlkampf 2005 Donald Tusk zu diskreditieren versuchte und aufhörend bei den „PiSlamisten“, wie die Bürgerplattform und ihr nahestehende Medien über Jahre die Nationalkonservativen beschimpften.

Spaltung reicht bis in Familien hinein

Es ist ein „polnisch-polnischer Krieg“, der sich nicht nur auf die politischen Eliten beschränkt. Der politische Streit führte zu einer Spaltung der Gesellschaft, die bis tief in die Familien reicht. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Brüder Jaroslaw und Jacek Kurski. Während Jaroslaw stellvertretender Chefredakteur der linksliberalen Gazeta Wyborcza ist, wurde Jacek Kurski, der sich in der Vergangenheit als „Bullterrier Kaczynskis“ schimpfte, mit dem Wahlerfolg der PiS 2015 Intendant des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP. Und solche Fälle finden sich in zig anderen polnischen Familien. 

Doch die Chance, den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit zumindest als Zeichen der Annäherung für die zerstrittenen Familien und die gespaltenen Gesellschaft gemeinsam zu begehen, haben die politischen Eliten versäumt. 

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Joachim Wittenbecher | Fr., 9. November 2018 - 20:00

Wenn wir uns die politische Realität im Westeuropa der 70er Jahre vor Augen führen und diesen Zustand als Nulllinie betrachten, dann fällt auf, dass Westeuropa sich weit davon entfernt hat, indem es ein einseitig ökolinkes System geschaffen hat. Konträr dazu hat sich in weiten Teilen Ostmitteleuropas ein rechtsnationales System gebildet. Beide Systeme behaupten, die verbindliche Nulllinie zu sein. Beide Systeme haben damit unrecht. Es handelt sich um einen Kulturkampf. Bezeichnend ist, dass die Deutschen wieder in der ersten Reihe stehen, diesmal aber bestimmt auf der richtigen - so glauben sie jedenfalls ein weiteres mal. Ein gutes Gegenbeispiel ist Österreich: Kanzler Kurz tritt als Brückenbauer auf, er zeigt Verständnis für beide Seiten - das Ergebnis ist, dass Österreich an Einfluss und Reputation gewinnt; es ist heute schon wieder fast so angesehen wie in den 80er Jahren, als es eine ähnliche Rolle spielte - unter dem SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky.

Christa Wallau | Sa., 10. November 2018 - 11:15

..zu großer und zu rascher Zumutungen.

Beim einzelnen Menschen, bei bestimmten Gruppierungen u. auch bei Volksgemeinschaften gibt es Grenzen des Erträglichen. Diese sind abhängig von der allgemein menschlich-psychischen Beschaffenheit u. von der jeweiligen individuellen Vorgeschichte u. den damit verbundenen Empfindlichkeiten/Wunden.

Wenn die verantwortlichen Politiker diese nicht beachten, entsteht Widerwille und
erbitterter Streit zwischen den Befürwortern u.
Gegnern von Veränderungen, welche die Administration durchsetzt oder durchsetzen will
Für viele Polen stehen nationale Unabhängigkeit u. der damit verbundene Stolz als an erster Stelle ihrer Werte u. eben nicht die strikte Gewaltenteilung.
Auch bei den Deutschen in der ehem. DDR gibt es ein viel größeres Bedürfnis nach Selbstbestimmung
und Verwurzelung in einer nationalen Identität als bei uns Westdeutschen. Das zu übergehen
oder als lächerlich/altbacken abzutun, ist dumm/arrogant und kann Bürgerkrieg nach sich ziehen.

Werner Peters | Sa., 10. November 2018 - 16:58

Die EU will ja jetzt ein Strafverfahren gegen Polen anordnen wegen Verletzung der Unabhängigkeit der Justiz betreffend Richterwahlen und-besetzungen. Gestern wurde bei uns der "stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion", Herr RA Harbarth, zum Nachfolger von Herrn Voßkuhle als oberster deutscher Richter bestimmt, nachdem er sich am Tag davor mit Verve für den Migrationspakt ausgesprochen hatte. Nur mal so gefragt: wird jetzt bald von der EU auch gegen D vorgegangen ?

Werner Terhaag | Sa., 10. November 2018 - 17:33

Letztes Jahr waren 60.000 Teilnehmer bei dem Marsch, allerdings nur ein sehr kleiner Teil "Rechtsnationale", der Rest Patrioten (falls das Wort noch jemand kennt) die feiern wollten (zigtausende normale Bürger incl. Rentnern, Behinderten, Familien mit Kleinkindern... alles rechts ???). Transparente waren nur wenige vorhanden, aber das bischen wurde dann medial ausgeschachtet.
Medien: Ja, die öffentl.rechtl.Medien wurden umgebaut. Aber als vorher PO alle wichtigen Posten mit eigenen Lakaien besetzt hatte fanden alle in der EU das OK. Wenn PiS das macht ist es falsch? Und wie regierungstreu berichten die ör Medien in D? Wieviele Posten sind "politisch korrekt besetzt"? Ist das etwa in Ordnung? alles vergessen?
Justizreform: Wer im Glashaus sitzt .... Man möge sich mal das Geschachere der Parteien um die Richterernennung in den deutschen Höchstgerichten ansehen. Da wir einem schlecht ... und die EU schweigt !!!
Also sollte man auch das nicht immer wieder rauskramen sondern schweigen.

Wilhelm Maier | Sa., 10. November 2018 - 20:44

mit "rechten Parolen"...
Überall sind beunruhigende Signale zu verzeichnen: Die Autorität der Gerichte wird untergraben, die Unabhängigkeit des Verfassungstribunals angegriffen, die öffentliche Verwaltung korrumpiert, und die Strafverfolgungsbehörden ­werden politisiert.
Es gibt Hoffnung, dass die zweite Phase der polnischen Revolution weder ihren Vater, den Willen zur Freiheit, noch ihr Kind, den demokratischen Staat, verzehren wird.-
https://www.cicero.de/weltb%C3%BChne/denk-ich-polen-der-nacht%3F/23054
Noch ist Polen nicht verloren,
Hoffentlich...

Peter Raatz | So., 11. November 2018 - 13:58

der politischen Scene in Polen liegt doch im gut verstandenem politischem Interesse Deutschlands und Russlands, und wird von beiden Seiten nach Kraeften befeuert. Von daher sollte die deutsche Presse keine Krokodilstraenen vergiessen, sondern sich freuen. Nach dem Motto, " je schlechter desto besser".

Alexander Mazurek | So., 11. November 2018 - 17:49

… als andere Länder, die noch nicht gleichgeschaltet worden sind, wie ggfs. bereits Schweden. Zwei Menschen - mindestens zwei Meinungen, das ist die Lebenswirklichkeit, mit der offenbar gerade die "offenen" Modernisten so gar nicht nicht umgehen können. Die "Aufklärung" predigt Toleranz und Vielfalt und meint Dominanz und Einfalt, erzwungene Gleichheit von Ungleichem. Gerade diese säkularen Heuchler spalten die Gesellschaft, Ortega y Gasset schrieb im "Aufstand der Massen" "Wie es in Nordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht "wie alle" ist, wer nicht "wie alle" denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden."

Alexander Mazurek | So., 11. November 2018 - 17:54

J. J. Rousseau warnte die Polen 1772 in "Überlegungen zur Regierung von Polen" vor dem Verlust der Identität
“Heutzutage gibt es keine Franzosen, Deutschen, Spanier und sogar keine Engländer mehr, egal was andere sagen mögen: es gibt nur noch Europäer. Alle haben sie denselben Geschmack, dieselben Wünsche, dasselbe Benehmen […]. In derselben Lage werden alle dasselbe tun, alle werden sie sich selbstlos nennen, und tatsächlich Schurken sein; alle werden öffentliches Wohl predigen, jedoch nur an sich selbst denken; alle werden Mäßigung preisen und für sich wünschen, so reich wie Krösus zu sein. Sie streben nach nichts außer Luxus, sie sehnen sich nach nichts außer Gold; sicher, dass ihnen Geld alle Wünsche ihres Herzens kaufen kann sind sie bereit, sich an den Erstbesten für Geld zu verkaufen. […] Vorausgesetzt, sie finden Geld zu stehlen und Frauen zu verführen, werden sie sich in jedem Land heimisch fühlen."
Modernisten, insbes. die Grünen, haben seither nix dazu gelernt ...