
- Rosige Prognosen aus dem Kreml
Die außenpolitischen Entscheidungen des Kremls werden stark davon abhängen, wie es um Russlands Wirtschaft bestellt ist. Zwei Prognosen machen derzeit die Runde: eine nicht so schöne von der Weltbank und eine optimistische aus dem Kreml. Wer hat Recht?
Die Weltbank hat eine Prognose für die russische Wirtschaft im Jahr 2023 veröffentlicht, und die Ergebnisse sind nicht schön. Nach den Berechnungen der Weltbank wird das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2023 abermals um 3,3 Prozent sinken, was auf die vollständige Umsetzung des EU-Ölembargos und auf die rückläufigen Erdgasexporte Moskaus nach Europa zurückzuführen ist.
Doch Moskau ist optimistischer als die Weltbank. Die Regierung betrachtet ihre derzeitige Notlage eher als eine Phase der Anpassung an einzigartige Herausforderungen denn als eine totale Katastrophe. Dies liegt zum Teil daran, dass sie glaubt, die Wirtschaftsleistung würde im laufenden Jahr mit einem Minus von unter einem Prozent (nach Angaben des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung) insgesamt weniger drastisch zurückgehen.
Die Frage ist also: Wer hat Recht? Ist Moskau naiv? Täuscht es mit seinen Zahlen über die Wirklichkeit hinweg? Oder verfügt Russland tatsächlich über ein größeres Sicherheitsnetz, als der Westen glaubt? Die Antwort ist wichtig, denn die außenpolitischen Entscheidungen des Kremls – insbesondere mit Blick auf den Ukrainekrieg – werden stark davon abhängen, wie es um seine Wirtschaft bestellt ist. Eine schwache Wirtschaftstätigkeit und soziale Instabilität werden mehr finanziellen Einfluss und Unterstützung durch den Staat erfordern, da viele Sektoren von staatlichen Zahlungen abhängig sind.
Trotz widriger Umstände überleben
Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde Rosstat erhalten etwa 33 Prozent der russischen Bevölkerung (ohne Staatsbedienstete) Sozialleistungen vom Staat. Dies schafft eine direkte Verbindung zwischen schlechter Wirtschaftsleistung und potenzieller Instabilität. Wenn die Wirtschaft jedoch Sanktionen und logistische Schwierigkeiten einigermaßen gut übersteht, wird der Westen nach neuen Wegen suchen müssen, um Russland zu schwächen. Mit der Zeit wird er vielleicht sogar darüber nachdenken, wie er Verhandlungen aufnehmen und Kompromisse im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine finden kann. Unabhängig von der tatsächlichen Wirtschaftslage wird der Kreml daher dem Westen und seiner Bevölkerung demonstrieren wollen, dass seine Wirtschaft trotz der widrigen Umstände überleben kann. Seine Verhandlungsposition in der Ukraine hängt davon ab.
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Tatsächlich hat Moskau in den vergangenen sechs Monaten zu zeigen begonnen, dass die russische Wirtschaft ohne Amerika und Europa auskommen kann. Die europäischen Sanktionen und Beschränkungen haben den Finanzsektor, den Markt für Komponenten und Halbfertigprodukte, die Logistik und den Konsumgütermarkt beeinträchtigt. Russland hat sich auf vielfältige und kreative Weise angepasst, etwa durch die Umleitung eines Teils der Öl- und Gasströme gen Osten und durch die Schaffung von Parallelimporten, die es den Unternehmen ermöglichen, ihre Regale aufzufüllen und Zugang zu den erforderlichen Komponenten zu erhalten.
Darüber hinaus ermöglichte der Weggang einiger ausländischer Unternehmen die Entwicklung einheimischer Industrien an ihrer Stelle. Die zunehmende Verwendung nationaler Währungen im Zahlungsverkehr brachte es mit sich, dass die Abhängigkeit vom US-Dollar bei Handelsgeschäften verringert wurde. Die Importsubstitution war vor allem in der Textil-, Dienstleistungs- und Lebensmittelindustrie erfolgreich. Am wichtigsten ist aber, dass die Preise für Ressourcen wie Öl und Gas hoch blieben, was es Moskau ermöglichte, ein niedrigeres Niveau des Gesamtexports zu verkraften.
Streben nach technologischer Souveränität
Gewiss, die russische Wirtschaft hat ihre Probleme. Abgesehen von den Sanktionen und Lieferketten sind vor allem der bescheidene Konsum, der Rückgang der Investitionen und die zunehmende Auswanderung problematisch. Seit Dezember trifft sich das Ministerium für digitale Transformation mit Vertretern von Fachverbänden und IT-Unternehmen, um über die Rückkehr von IT-Spezialisten, die Russland verlassen haben, zu diskutieren. Außerdem ist der Kreml mit der Haushaltslage nicht besonders zufrieden.
Der russische Finanzminister Anton Siluanow sagte, dass das Haushaltsdefizit im Jahr 2022 rund 3,3 Billionen Rubel (umgerechnet etwa 44 Milliarden Euro) oder 2,3 Prozent des BIP betragen werde – mit Ausnahme des Jahres 2020 auf dem Höhepunkt der Pandemie, ist dies das höchste Haushaltsdefizit aller Zeiten. Das Finanzministerium stellte fest, dass die Ausgaben im Vergleich zu 2021 um etwa 25,6 Prozent gestiegen seien und im Dezember mit 22 Prozent der jährlichen Ausgaben ihren Höhepunkt erreicht hätten. Das Defizit wurde durch die Kreditaufnahme der Regierung und des Nationalen Wohlfahrtsfonds sowie durch Gazprom gedeckt, das vorübergehend höhere Steuern zahlte.
So erfolgreich Russland auch bei der Schaffung von Parallelimporten in bestimmten Sektoren war, so wenig hat es doch in den komplexen, wissensintensiven und hochtechnologischen Branchen geeigneten Ersatz gefunden. Nehmen wir zum Beispiel den Moskwitsch – ein Auto, das angeblich im Inland produziert werden soll. Es wird zwar in Russland montiert, aber mit chinesischen Ersatzteilen hergestellt. Einfach ausgedrückt, war es für Russland nicht möglich, ein Auto in weniger als einem Jahr zuverlässig zu produzieren und an den Markt zu bringen.
Während Moskau also technologische Souveränität anstrebt, orientiert es sich in Wirklichkeit verstärkt an den asiatischen als an den westlichen Märkten. Vertreter des Moskwitsch-Werks erklärten, die Autos bis zum Jahr 2025 aus einheimischen Teilen montieren zu wollen – was bedeutet, dass man mindestens zwei bis drei Jahre gebraucht hätte, um herauszufinden, wie sich die erforderlichen Teile eigenständig produzieren lassen. Das ist eine lange Zeit.
Ölindustrie spielt überragende Rolle
Derweil hängt der Zustand des russischen Haushalts vor allem von drei Faktoren ab: dem Ölpreis, dem Volumen der Kohlenwasserstoffproduktion und dem Rubelkurs im Jahr 2023. Der Februar – in dem das europäische Erdölembargo in Kraft tritt – wird insofern ein besonders aufschlussreicher Monat sein. Es ist zwar möglich, dass Ausnahmeregelungen eingeführt werden, aber die Spediteure sind immer vorsichtiger geworden, um nicht mit den neuen gesetzlichen Bestimmungen in Konflikt zu geraten. Und ansonsten verlässliche Zielmärkte wie China und Indien, die auf Rohöl und Gas erpicht waren, sind möglicherweise nicht mehr so interessiert an bestimmten anderen Produkten, da sie selbst wichtige Raffineriezentren sind.
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Russland wird natürlich vom Verkauf des Öls profitieren, aber seine Gewinne werden geringer ausfallen, da es wahrscheinlich nur geringere Mengen davon verkaufen kann. Die Ungewissheit im Zusammenhang mit dem Verkauf könnte sich zudem auf den Ölpreis auswirken. Es besteht kein Konsens darüber, wie hoch der Preis für die russische Ural-Mischung im Jahr 2023 sein wird. Die westlichen Länder haben eine Preisobergrenze für russisches Öl von 60 Dollar pro Barrel eingeführt, woraufhin der Durchschnittspreis für Ural 50,47 Dollar pro Barrel betrug: deutlich weniger als im Dezember 2021, als es für 72,71 Dollar pro Barrel verkauft wurde.
Auch Russland selbst wird die Ölproduktion wahrscheinlich einschränken: Das von Präsident Wladimir Putin verhängte Verbot der Ausfuhr von russischem Öl und Ölprodukten an bestimmte ausländische juristische und natürliche Personen, die direkt oder indirekt den Preisdeckungsmechanismus nutzen, wird im Februar in Kraft treten. Dies könnte den Ölpreis in die Höhe treiben, aber auch den Absatz drosseln. All dies stellt die prognostizierten Wachstumsraten Russlands in Frage. Die Ölindustrie spielt eine überragende Rolle für das russische BIP, und zumindest im Moment sieht es schlecht aus für die Produktion und das Angebot.
Inflation geht langsam zurück
Vor diesem Hintergrund haben sowohl die Weltbank als auch Moskau recht. Die Wirtschaftsprognosen des Kremls sind rosiger als sie sein sollten, aber es gibt Grund zu der Annahme, dass die Wirtschaft mehr Schocks verkraften kann, als die Weltbank meint. Das Haushaltsdefizit ist im Vergleich zum BIP gering; Russland hat es geschafft, Bargeldeinnahmen aus den Ölexporten zu akkumulieren, und im Nationalen Wohlstandsfonds sind genügend Mittel vorhanden, um Defizite zu decken und möglicherweise neue Sozialprogramme zu finanzieren. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, und viele Industrien haben damit begonnen, ihr Produktionstempo allmählich zu erhöhen. Die Inflation geht langsam zurück. Russland ist noch nicht über den Berg, aber die Signale reichen aus, um Moskau davon zu überzeugen, dass es die nächsten Jahre überstehen kann, während es sich an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten anpasst.
Die Zeit ist vielleicht die wichtigste Variable. Der Kreml wird so schnell wie möglich positive Ergebnisse sehen wollen; er weiß, dass seine Aussichten auf Verhandlungen über ein Ende des Ukrainekrieges von seiner Fähigkeit abhängen, dem westlichen Druck standzuhalten. Und er weiß, dass die innenpolitische Stabilität davon abhängt, dass seine Bevölkerung zufrieden ist.
In einem Punkt sind sich die Weltbank und Moskau jedoch einig: Die russische Wirtschaft wird schrumpfen. Daran läuft praktisch kein Weg vorbei. All die anderen Unwägbarkeiten, die damit einhergehen, werden Russland dazu zwingen, zu knausern und zu sparen, um die begrenzten Mittel nicht zu verschwenden, während es gleichzeitig das Bild eines größeren wirtschaftlichen Erfolgs vermittelt.
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