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Obama-Besuch - Die Wiederentdeckung Europas

Mit dem Projekt der größten Wirtschaftszone der Erde zwischen EU und USA korrigiert Barack Obama die Wende nach Asien

Autoreninfo

ist Autor des „Tagesspiegel“ und berichtete acht Jahre lang aus den USA. Er schrieb die Bücher: „Der neue Obama. Was von der zweiten Amtzeit zu erwarten ist“, Orell Füssli Verlag Zürich 2012. Und „Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben“. Herder Verlag Freiburg 2012.

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Die USA liegen zwischen zwei Weltmeeren. Sie sind sowohl eine atlantische als auch eine pazifische Macht. Das klingt wie eine Binsenweisheit. Manchmal müssen aber auch Binsenweisheiten ausgesprochen werden. Barack Obamas Staatsbesuch in Berlin bietet einen doppelten Anlass. Er korrigiert eine Fehlwahrnehmung: Amerikas angebliche Wende nach Asien, die in überzogener Weise als Abkehr von Europa gedeutet worden war. Diese Erfahrung sollte zugleich eine Warnung davor sein, jetzt unter umgekehrten Vorzeichen neue Fehlinterpretationen in die Welt zu setzen – zum Beispiel, dass Amerika und Europa sich nun gegen Asien oder andere Kontinente verbünden.

Obama wird am Mittwoch in Berlin eine Mutmacher-Rede halten. Er wird gewiss nicht über den unabänderlichen Abstieg des Westens sprechen und auch nicht über die Weisheit philosophieren, sich mit weniger ehrgeizigen Zielen als der Führung der Welt zu bescheiden. Er wird erklären, was Amerika und Europa tun können, um ihren Einfluss zu behalten – und warum das eine bessere Perspektive ist, als vor den Gesellschaftsmodellen und Werteordnungen anderer Staaten zurückzuweichen.

Im Zentrum seines Besuchs steht ein strategisches Projekt: eine Transatlantische Freihandels- und Investitionspartnerschaft, abgekürzt TTIP (nach dem englischen Namen Transatlantic Trade and Investment Partnership). Falls die EU und die USA sich auf dieses Abkommen einigen, entsteht die größte Wirtschaftszone der Erde. Parallel verhandelt Amerika ein Freihandelsabkommen mit asiatischen Staaten. Die USA bleiben also beides: eine atlantische und eine pazifische Macht. Ebenso wird Europa sowohl mit Amerika als auch mit Asien handeln. [[nid:54725]]

Politisch jedoch dürfte der Besuch des US-Präsidenten in Verbindung mit TTIP auf viele wie eine Wiederentdeckung Europas wirken. Man hatte ihn zunächst den „ersten pazifischen Präsidenten“ der USA genannt: Er ist auf Hawaii geboren und hat prägende Jahre seiner Kindheit in Indonesien verbracht. Mit Europa verbindet ihn emotional wenig. Die Ausrichtung nach Asien schien zudem in die Dynamik des neuen Jahrtausends zu passen. Dort ist das Wachstum, dort liegt die Zukunft, dort wächst die nächste Weltmacht heran: China.

Warum setzt Obama zu Beginn seiner zweiten Amtszeit auf ein Großprojekt von historischer Dimension mit Europa? Die These von Amerikas Wende nach Asien unter Obama war nicht völlig falsch. Aber sie war nur ein Teil der Wahrheit. Sie fand übertriebene Resonanz, weil die US-Außenpolitik 2011 mit dem unglücklichen Begriff „Pivot to Asia“ eine Vorlage geliefert hatte. Und weil Europa zur selben Zeit von Selbstzweifeln geplagt war wegen der mehrfachen Krisen in der EU und in der Eurozone. Inzwischen sieht die Regierung Obama in der damaligen Wortwahl einen Fehler und spricht von „rebalancing“, wenn sie ihr Handeln in Asien erklärt. Vizepräsident Joe Biden hat den Europäern bei der Sicherheitskonferenz im Februar in München versichert, dass sie „der unersetzliche Partner“ und „der Partner der ersten Wahl“ bleiben.

Dafür sprechen im Übrigen auch die ökonomischen Fakten. Wenn mehr Europäer und Amerikaner sich ihrer Dominanz in der Weltwirtschaft bewusst wären, hätte sich wahrscheinlich erst gar nicht diese Kapitulationsstimmung ausbreiten können, in der viele Bürger den Machtwechsel von Europa nach Asien als unvermeidbar hinnehmen. 

TTIP kann auf dreifache Weise zu einem Wendepunkt werden. Es kann den westlichen Volkswirtschaften den Wachstumsschub geben, auf den sie so dringend warten. Psychologisch womöglich noch wichtiger ist: Die Debatte über das Projekt kann verbreitete, aber irreführende Bilder von den realen Wirtschafts- und Machtverhältnissen korrigieren. Und TTIP kann die befürchtete Machteinbuße des Westens verlangsamen.

In den USA und Europa leben nur zehn Prozent der Weltbevölkerung. Sie sind aber das Rückgrat der Weltwirtschaft. Sie erzeugen rund 50 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts. Sie managen mehr als 70 Prozent aller Finanzdienstleistungen, sind der Motor der Innovation, stehen für 60 Prozent der weltweiten Forschungsausgaben. Amerika und Europa sind auch das Ziel der meisten Direktinvestitionen (60 Prozent). Investitionen sind Entscheidungen über die Zukunft. Anleger sehen offenbar mehr Zukunft in Europa und Amerika als in Asien. Angesichts dieser Dominanz schaffen selbst kleine Wachstumsraten im Wirtschaftsaustausch über den Atlantik mehr Arbeitsplätze als hohe Zuwächse in China oder Indien.

TTIP kann dieses Wachstum fördern. Nach Prognosen könnte es mehr als ein Prozentpunkt sein. Womöglich ist das zu optimistisch. Aber schon ein zusätzlicher Effekt von einem halben Prozentpunkt wäre hoch willkommen in der EU, die mit Rezessionsgefahr kämpft, und ebenso in den USA, die rund zwei Prozent erzielen, aber hinter ihren Plänen zurückliegen. Zudem sind die gewohnten Mechanismen zur Konjunkturförderung jetzt verbaut. Staatliche Konjunkturprogramme verbieten sich angesichts der Schuldenberge, die Amerika und Europa aufgebaut haben. Die Zinsen kann man auch nicht weiter senken; sie liegen bereits nahe null.

So bleibt nur ein alternativer Ansatz: Kostenreduzierung durch Abbau der Zölle sowie der nichttarifären Handels- und Investitionshindernisse. Das ist das Ziel von TTIP. Zölle spielen im atlantischen Handel kaum noch eine Rolle. Teuer sind andere Barrieren, zum Beispiel unterschiedliche Industrienormen, Sicherheitsstandards und Zulassungsverfahren. Ein Auto, das in den USA und in der EU verkauft werden soll, muss alle Tests zwei Mal durchlaufen. Ein Crashtest, erzählen Insider, wird in Deutschland bei 50 km/h durchgeführt, und in den USA, wo man in Meilen rechnet, mit umgerechnet 48 km/h. Kein großer Unterschied, aber es verursacht doppelte Kosten. Das verteuert die Preise für die Verbraucher. Dasselbe gilt für Kindersitze, Windschutzscheiben, Brandschutz rund um den Tank und so weiter. Jede Branche von der Windenergie bis zur Medizintechnik hat solche Beispiele, was sich durch TTIP verbessern könnte. Die Produkte würden billiger, wenn man sich auf gemeinsame Standards einigt oder ersatzweise auf das Prinzip: Ein Test, der in der EU erfolgreich war, gilt auch in den USA – und umgekehrt. [[nid:54725]]

Wie stets gibt es bei solchen Projekten auch Gegner, teils weil sie Nachteile für sich befürchten, teils aus Überzeugung. Landwirte auf beiden Kontinenten leben gut mit den geschützten Agrarmärkten und staatlichen Subventionen. Manche Europäer empfinden es als Horrorvorstellung, dass in einigen Jahren genveränderte Lebensmittel aus den USA in europäischen Geschäften liegen – auch wenn sie sichtbar gekennzeichnet wären, der Verbraucher also die Wahl hätte. In Europas Kulturbereich warnen viele vor Untergangsszenarien, ganz voran die Franzosen. Sie fordern, die audiovisuelle Industrie ganz aus dem Abkommen herauszunehmen. Einige Befürchtungen klingen weit hergeholt. TTIP würde ja nicht die gewohnte Kulturförderung abschaffen. Sondern es würde die jeweiligen Bereiche hier wie dort für Bewerber von beiden Kontinenten öffnen. Wäre das vielleicht sogar eine Bereicherung?

TTIP wird nicht einfach durchzusetzen sein. Sonst gäbe es das Abkommen ja längst. Mehrere Anläufe sind in den letzten Jahrzehnten gescheitert. Eines hat sich geändert: die Dringlichkeit. Deshalb betreiben Kanzlerin Merkel und Präsident Obama TTIP nun mit Nachdruck. Möglicherweise ist dies die letzte aussichtsreiche Chance für Europa und Amerika, ihre technisch-wirtschaftliche Dominanz und ihren Führungsanspruch zu behaupten. Heute würden sich andere Kontinente noch nach ihren Vorgaben richten, wenn sie sich auf gemeinsame Standards und Regeln einigen. Ihre Vorgaben würden automatisch zum „Gold Standard“ der Weltwirtschaft. Scheitern sie, wird es so schnell keinen neuen Anlauf geben. Und ob Asien sich in 20 Jahren noch nach einem Westen richtet, der die Chance zur Selbstbehauptung verpasst hat, ist zumindest fraglich.

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