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Ägypten - Es gibt noch eine Chance auf Demokratisierung

War der Sturz Mohammed Mursis in Ägypten gerechtfertigt oder ein Putsch? Aber womöglich wurde lediglich das eine Übel, die Islamisten, mit dem anderen Übel, dem Militär, ausgetrieben. Dennoch hat Ägyptens Demokratisierung jetzt eine neue Chance

Autoreninfo

Hamed Abdel-Samad ist ein deutsch-ägyptischer Politikwissenschaftler, Historiker und Autor.

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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der August-Ausgabe von Cicero. Die Ausgabe ist weiterhin in unserem Online-Shop zu erhalten

 

 

 

Ich hatte nie die Befürchtung, dass die Muslimbrüder Ägypten in einen zweiten Iran verwandeln. Was die große Mehrheit junger Ägypterinnen und Ägypter wollen, sind Freiheit und Wohlstand. Was sie nicht wollen, ist Bevormundung – weder im Namen der Sicherheit noch im Namen der Religion. Einer großen Masse ist es gelungen, innerhalb von 30 Monaten zwei Präsidenten zu stürzen, die diktatorisch regierten. Beide Male musste sich die Armee dem Willen der Massen beugen und erst den langjährigen Diktator Husni Mubarak und dann den frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi nach nur einem Jahr im Amt absetzen.

Ich fürchte aber, dass die Spaltung der ägyptischen Gesellschaft, die sich seit dem Sturz der Muslimbrüder noch vertieft hat, keine Einigung zwischen den beiden Lagern zulässt, dass aber auch keine Seite das Land allein regieren kann. Es gibt fünf heimische und fünf ausländische Kräfte, die unterschiedliche – und womöglich unvereinbare – Interessen und Vorstellungen für die Zukunft Ägyptens hegen: Muslimbrüder, Salafisten, Armee, liberale Kräfte und die alten Anhänger Mubaraks versuchen, das Schiff in verschiedene Richtungen zu bewegen, und verursachen damit womöglich nichts weiter als Stillstand. Die USA, Israel, Europa, Saudi-Arabien und die Türkei sind besorgt und versuchen, aus einer längst versalzenen Suppe noch etwas Genießbares herzustellen. Selbst im Fastenmonat Ramadan kommt das Land nicht zur Ruhe. Die Institutionen des Landes sind blockiert, Straßenproteste bestimmen die Politik, das Land droht, im Chaos zu versinken. Ob es Ägypten gelingt, im zweiten Anlauf eine stabile Demokratie aufzubauen oder ob ein Bürgerkrieg wie in Syrien droht, kann niemand vorhersagen.

Ein Putsch kommt selten allein


Immer noch scheiden sich die Geister, ob es sich bei der Absetzung Mursis um einen unrechtmäßigen Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten handelte oder um eine notwendige Intervention der Armee, die das wirtschaftliche Ausbluten des Landes und einen Bürgerkrieg verhindern sollte. Mursi, dieser uneinsichtige Islamist, hätte die Konfrontation mit den Demonstranten und schließlich seine Absetzung verhindern können, hätte er den Weg für Neuwahlen geebnet.

Aber er lehnte jeden Kompromissvorschlag strikt ab, wusste er doch, dass er kaum mehr Popularität genoss. Dass die Graswurzelbewegung Tamarod rund 22 Millionen Unterschriften gegen ihn gesammelt hatte, schien ihn nicht zu beeindrucken. Auch als es nicht mehr um Unterschriften ging, sondern als die Menschen in 24 Provinzen Ägyptens gegen ihn und die Herrschaft der Muslimbrüder demonstrierten, blieb Mursi stur. Keinen Zentimeter bewegte er sich auf die Opposition zu – im Gegenteil: In seiner letzten Rede als Präsident überzog er sie mit Häme.

Legalität und Legitimität


Vor einem Jahr war Mohammed Mursi mit 51,7 Prozent der Stimmen gewählt worden. Unter seinen Wählern waren viele Liberale, die seinem Versprechen glaubten, das gespaltene Land zu heilen und Präsident aller Ägypter zu werden. Dieser Glaube wurde zerstört. Nur wenige Monate nach seiner Amtseinführung erließ Mursi Dekrete, die dem Präsidenten absolute Macht verliehen. Die neue Verfassung des Landes ließ er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gegen den Protest der liberalen Kräfte verabschieden.

Als die Richter des Oberen Verfassungsgerichts sich versammeln wollten, um ein Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des neuen, von Islamisten verabschiedeten Entwurfs zu fällen, ließ Mursi das Gericht durch die Milizen der Muslimbrüder belagern. Ein Urteil wurde damit verhindert. Teile dieser Milizen griffen die friedlichen Demonstranten an, die im Dezember 2012 vor dem Präsidentenpalast gegen die Verfassung protestierten. Es gab mehrere Todesopfer und Verletzte auf beiden Seiten.

Viele Ägypter betrachten die Aktionen des Präsidenten und seiner Anhänger als den wirklichen Putsch gegen die neu geborene Demokratie. Mursi ist zwar legal an die Macht gekommen, doch nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstranten und nachdem er die Justiz aus dem verfassungsgebenden Prozess ausgeschaltet hatte, war er nicht mehr legitim im Amt. An diesem Punkt hätte es eines Amtsenthebungsverfahrens bedurft – doch das Parlament, das es hätte einleiten müssen, war aufgelöst. So wurde es zur Aufgabe der Bürger, ein Misstrauensvotum nicht durch den Repräsentanten des Volkes, das Parlament, sondern durch das Volk selbst auf den Weg zu bringen. Die Intervention der Armee sehen viele deshalb eher als eine Geiselbefreiungsaktion.

Es gibt durchaus eine Erklärung für Mursis Politik. Husni Mubarak hatte ihm ein schweres Erbe hinterlassen: ein stark gespaltenes und verschuldetes Land mit korrupten und überalterten Institutionen. Hinzu kam: Die Profiteure des alten Regimes, seien es Medienleute, Unternehmer oder staatliche Funktionäre, lehnten die Präsidentschaft eines Muslimbruders ab.

Um die Anhänger des alten Regimes in Schach zu halten, hätte er sich mit den demokratischen Kräften verbünden und die staatlichen Institutionen demokratisieren müssen. Doch Mursi wandte sich von der demokratischen Opposition ab, bezeichnete sie als „Verräter“ und ließ sie durch seine Anhänger als Ungläubige diffamieren.

Wie schon Mubarak versuchte auch Mursi die Justiz, die Gewerkschaften, das Bildungswesen, die staatlichen Medien und die traditionsreiche ägyptische Diplomatie in rasantem Tempo zu unterwandern. Überall trafen die Islamisierungsbemühungen auf Widerstand. Sogar mit seinen früheren Verbündeten, den Salafisten, hatte Mursi sich angelegt, indem er sie aus allen wichtigen Positionen entfernt hatte. Allen war klar: Sein Ziel war nicht, Ägypten zu reformieren, sondern die Muslimbruderschaft fest an der Macht zu verankern.

Mursis Tanz mit den Terroristen


So hat Mursi in kürzester Zeit fast alle Kräfte des Landes gegen sich aufgebracht. Sogar aus der Armee und der Polizei wurden die kritischen Stimmen immer lauter. Ihm blieben am Ende nur die Ex-Terroristen der Al Dschama’a Al Islamiyya als Verbündete. Sie galten als seine letzte Rettung, sollte es zum befürchteten Kräftemessen zwischen den Islamisten und der Protestbewegung auf der Straße kommen.

Einer der Anführer dieser militanten Gruppe war es, der nach meinem islamkritischen Vortrag in Kairo vor wenigen Wochen eine Morddrohung gegen mich im Fernsehen aussprach. Statt ein Verfahren gegen den Hassprediger einzuleiten, wurde er zu einer Veranstaltung des Präsidenten eingeladen und von ihm öffentlich umarmt. Ein weiterer „Loyalist“ – ausgerechnet ein Mitglied der Terrorgruppe, die 1997 über 60 Touristen in Luxor getötet hatte – wurde für die Treue der Gotteskrieger zum Präsidenten mit dem Amt des Gouverneurs von Luxor belohnt. Spätestens nach dieser Entscheidung war den meisten Beobachtern klar, dass Mursi sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft des Landes zu einer Last geworden war.

Die Brüder und das Militär, ein ­gefährlicher Machtkampf


Die Armee war entsetzt von der Ernennung eines Terroristen zum Gouverneur. Hat sie doch auch wirtschaftliche Interessen, nicht zuletzt auch im vom Tourismus geprägten Luxor. Damit nicht genug, ist die radikale Al Dschama’a Al Islamiyya auch für die Ermordung von Präsident Anwar al Sadat im Oktober 1981 verantwortlich, der in der Armee bis heute ein hohes Ansehen genießt. Auch die Allianz der Bruderschaft mit der Hamas in Gaza lehnten die Generäle ab. Im Sommer vergangenen Jahres wurden 16 ägyptische Soldaten durch Hamas-Kämpfer getötet. Mursi aber hielt die Armee davon ab, seine islamistischen Verbündeten im Sinai zu bekämpfen.

Als ob das nicht schon genug wäre, provozierte Mursi das Militär auch noch mit seiner abenteuerlichen Syrien-Politik. Während das Militär sich aus der syrischen Gemengelage heraushalten wollte, stellte sich der Präsident Mitte Juni bei einer Kundgebung in Kairo deutlich auf die Seite der islamistischen Anti-Assad-Rebellen, die wiederum die Ägypter zum Dschihad in Syrien aufriefen.

Dazu kommt die amateurhafte Wirtschaftspolitik Mursis, die das Land langsam in den Ruin trieb. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant, das ägyptische Pfund verlor binnen eines Jahres über 30 Prozent an Wert. Auch die Parallelwirtschaft des Militärs litt stark unter dem Rückgang des Konsums der Ägypter. Die Armee musste die Notbremse ziehen, um das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ausbluten des Landes zu stoppen. Ihr kamen die Massenproteste gerade recht.
 

Eines der größten Defizite der Muslimbrüder ist deren mangelhaftes Verständnis von Demokratie. Sie glauben, Demokratie sei das Recht der Mehrheit, alles tun zu können, was man will, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Einer der Begriffe, die sie bei den Wahlen verwendeten, verrät am deutlichsten, was sie unter Demokratie verstehen. Ihren Sieg über die liberalen Kräfte bei den Parlamentswahlen im November 2012 bezeichneten sie als „ghazwat al sanadiq“ (Feldzug der Wahlurnen). Das Wort „ghazwa“ spielt auf Raubzüge an, die der Prophet Mohammed gegen die Handelskarawanen der ungläubigen arabischen Stämme im 7. Jahrhundert geführt hatte. So gingen auch die Islamisten mit ihren politischen Gegnern um. Sie bezeichneten sie als Ungläubige und schlossen sie von der Verhandlung über die neue Verfassung aus.

Nun haben sich Anti-Mursi-Demonstranten, Anhänger Mubaraks und die Armee verbündet. Die Muslimbrüder hingegen können keine großen Kräfte mehr mobilisieren, um Mursi wieder ins Amt zurückzubringen. Deshalb setzen sie auf Gewalt. Deshalb schicken sie ihre Milizen auf die Barrikaden, blockieren Straßen und Brücken und suchen den direkten Machtkampf mit dem Militär. Sie glauben, durch Chaos und Gewalt die Uhr zurückdrehen zu können.

Auch in Syrien ist das die Taktik der Islamisten. Der Anführer der Muslimbrüder in Syrien, Mahmoud Taifur, sagte einmal: „Wir setzten auf die Brutalität des Assad-Regimes.“ Dass Aufständige Zivilisten im eigenen Lager umgebracht haben, um Assads Truppen vor der eigenen Bevölkerung und vor der Weltöffentlichkeit als Unmenschen vorzuführen, ist inzwischen Gewissheit.

Jetzt scheinen auch die Muslimbrüder in Ägypten auf diese Taktik zu setzen. Am 8. Juli kam es vor dem Quartier der Republikanischen Garde in Kairo, wo Mursi-Anhänger ihren gestürzten Präsidenten vermuteten, zu einem Blutbad. Bei der Schießerei vor der Kaserne wurden 50 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Die meisten Opfer waren Muslimbrüder. Bereits am Abend zuvor hatten zwei Anführer der Muslimbrüder, Mohamed Al Biltagy und Safwat Hegazi, angekündigt, in jener Nacht werde es zu einer Eskalation kommen. Man wolle den Ort stürmen, um den Präsidenten zu befreien.

Es kam zu der gefürchteten Konfrontation. Die Armeeoffiziere fühlten sich provoziert und reagierten unverhältnismäßig mit aller Härte. Ganz offensichtlich wollten die Muslimbrüder den Ägyptern und der Weltöffentlichkeit demonstrieren, dass sie die wahren Opfer sind und dass die Armee keinerlei Legitimität besitzt. Die Armee wiederum nahm die hohe Zahl der Opfer – und die mediale Inszenierung durch die Brüder – in Kauf, um zu demonstrieren, dass sie keine Aktionen gegen Militäreinrichtungen dulden wird.

Ägyptens Zukunft


Das Blutbad vom 8. Juli hat den Riss in der Gesellschaft noch weiter vertieft. Eine Versöhnung scheint ausgeschlossen. Die Muslimbrüder lehnen es ab, sich an einer neuen Regierung zu beteiligen, und schlüpfen wieder in die Rolle des verfolgten Opfers wie schon unter Mubarak. Doch diese Zeiten sind vorbei. Eine Gruppe aus dem jungen Kader der Brüder hat sich abgespalten, bezeichnet sich als „freie Muslimbrüder“ und will am politischen Prozess teilnehmen. Die Anführer der Muslimbrüder und die Basis hingegen wollen die Konfrontation mit dem Militär eskalieren lassen. Ob das nur eine Taktik ist, um am Ende einen Deal mit den Generälen eingehen zu können, wird sich zeigen. Doch deutlich ist jetzt schon, dass sich die Gewalt der Muslimbrüder verselbstständigt hat. In mehreren Provinzen kam es zu Angriffen von Islamisten auf Kopten und Liberale, die mehrere Todesopfer forderten. Am gefährlichsten ist es auf der Halbinsel Sinai, wo der Al Qaida nahestehende Kämpfer mehrere Anschläge auf Polizeiposten und die Gas-Pipeline zwischen Ägypten, Israel und Jordanien verübten.

Wann immer die Islamisten in der islamischen Welt nach der Macht griffen, gab es zwei Szenarien: Gelang ihnen die Machtergreifung, regierten sie mit eiserner Hand und verwandelten ihre Gesellschaften in Freiluftgefängnisse wie Iran, Afghanistan, Somalia oder Sudan. Wurden sie von der Macht verdrängt wie in Algerien, Mali oder Libyen, verwandelten sie sich in terroristische Organisationen und überzogen ihre Länder mit Gewalt. Das erste Szenario wurde in Ägypten gerade abgewendet.

Ob uns das zweite Szenario erspart bleibt, ist ungewiss, denn innerhalb der Muslimbruderschaft existieren zwei gegensätzliche Neigungen: zum Pragmatismus und zur Selbstzerstörung. Gleich, ob die Islamisten sich am politischen Prozess beteiligen oder in den Untergrund zurückziehen, Teile ihrer Jugend werden sich radikalisieren, denn ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Weder gelang unter Mursis Präsidentschaft die Einführung der Scharia noch gibt es irgendeine Perspektive für einen sozialen Aufstieg, den sie sich durch ihre Mitgliedschaft bei der Bruderschaft erhofft hatten.

Sollten die Muslimbrüder den Weg der Gewalt wählen, dann wird es noch länger dauern, bis sich in Ägypten eine stabile Demokratie etablieren kann. Denn die Gewalt der Muslimbrüder war seit den Tagen Nassers eine willkommene Ausrede, um im Namen der Sicherheit die Freiheit der Ägypter einzuschränken und den Polizeistaat zu errichten, den man mit den Demonstrationen von 2011 loswerden wollte.

Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass die Armee wieder eine Militärdiktatur einführt. Die Generäle haben aus den Fehlern der Übergangszeit nach Mubaraks Sturz und nach der Schießerei mit den Muslimbrüdern gelernt; sie wollen nicht mehr alle Zügel der Macht an sich reißen. Eine direkte Konfrontation mit der unzufriedenen Bevölkerung will die Armee in Zukunft vermeiden. Viel lieber möchte sie die Strippen hinter den Kulissen ziehen, ohne jedoch die Etablierung einer Demokratie zu bremsen.

Demokraten im Westen setzen auf Stabilität statt Veränderung


Solange das Militär die gleichen Privilegien und Immunität behält, kann es den demokratischen Prozess begleiten und als Hüter der Verfassung fungieren. Die Besetzung der Übergangsregierung mit dem liberalen Politiker Al Baradei und weiteren fähigen Experten – darunter drei Frauen – lassen auf ein Umdenken in der Armee schließen. Ganz offensichtlich zieht man es auf Dauer vor, mit berechenbaren Demokraten Geschäfte zu machen als mit erpressbaren ideologieverblendeten Nichtdemokraten.

Ein solches Umdenken wird hoffentlich auch in den USA und der EU stattfinden, die mit Mursi und den Muslimbrüdern genauso umgingen wie mit Mubarak – indem sie im Namen der Stabilität den diktatorischen Machtstil und die Menschenrechtsverletzungen duldeten. Demokraten im Westen – wie Außenminister Guido Westerwelle, der Mursis Absetzung durch das Militär als Rückschlag für die Demokratie bezeichnete – setzen eben auf Stabilität, was nur eine andere Bezeichnung für Stagnation und Unfreiheit ist. Die jungen Araber hingegen sehnen sich nach Veränderung, auch wenn das zunächst Chaos und Orientierungslosigkeit bedeutet.

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