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Krise in der Ukraine - „Die NATO stellt keine Lösung dar“

Das Militärbündnis NATO ist mit dem Konflikt in der Ukraine überfordert, sagt Karl Schlögel. Im Gespräch geht der Osteuropahistoriker mit den westlichen Maidan-Kritikern hart ins Gericht

Autoreninfo

Simon Marti hat in Bern Geschichte und Politikwissenschaft studiert und die Ringier Journalistenschule absolviert. Er arbeitet für die Blick-Gruppe in der Schweiz.

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Die Kämpfe im Osten der Ukraine dauern trotzt des angekündigten Friedensplans des neuen Präsidenten Petro Poroschenko an. Wie kann die Regierung in Kiew darauf reagieren?
Wie soll man in einer Stadt wie Luhansk vorgehen, in der sich die Gewalttäter hinter der Zivilbevölkerung verschanzen? Das ist das große Problem der Ordnungskräfte.

Ist dort bereits ein Bürgerkrieg im Gange?
Ich möchte noch nicht von einem Bürgerkrieg sprechen. Denn das würde bedeuten, dass die Gesellschaft geteilt ist und sich selbst bekämpft. Aber natürlich versuchen die terroristischen Gruppen, einen Bürgerkrieg zu entfachen. Das Referendum über die Abspaltung im Osten des Landes war ja gerade der Versuch, eine Mobilisierung für einen solchen Kampf zustande zu bringen. 

Wie intensiv werden die Kämpfe derzeit geführt?
Ich bin kein Militärexperte. Diese Spezialisten müssten jetzt untersuchen, wie sich eine friedliche Stadt in einen Kriegsschauplatz verwandelt und man eine zivile Gesellschaft kaputt macht. Es gibt ja historische Beispiele hierfür: Etwa wie aus  Sarajewo eine belagerte Stadt wurde, wo Scharfschützen Posten bezogen und der Krieg in die Wohnviertel getragen wurde. Ich persönlich kann nur bestimmte Beobachtungen machen. Etwa wenn mich in Dnipropetrowsk eine Buchhändlerin fragte, warum seit einigen Tagen fremde Männer alle Karten aufkaufen würden. Oder der Klavierstimmer, der plötzlich aus seiner Zeit als Scharfschütze in Afghanistan erzählt und erklärt, er sei jederzeit bereit, gegen die Kiewer „Faschisten“ zu kämpfen. Auf diese Gewaltbereitschaft setzen die Terroristen.

Woher stammen diese Gruppen?
Man weiß inzwischen über die sozialen Netzwerke ziemlich gut, wie die Kämpfer rekrutiert werden. Etliche Aufständische, gerade deren Anführer und die Militärspezialisten, sind russische Staatsbürger. Dann gibt es Leute, die bezahlt werden, die für Dollars gegen die Regierung in Kiew kämpfen. Das sind vor allem Männer aus der Privatarmee des ehemaligen Präsidenten Janukowitsch. Hinzu kommen die gescheiterten Existenzen. Russland ist voller Menschen ohne Perspektive, die aber in Afghanistan oder Tschetschenien Kriegserfahrung gesammelt haben. Donezk ist zum Anlaufpunkt für solche Leute geworden. Das sind sozusagen die Freikorpsleute des 21. Jahrhunderts.

Das würde bedeuten, dass die Kämpfe zunehmend brutaler werden.
Das ist ja auch der Fall. Erprobten Kämpfern, den so genannten Tschetschenen etwa, ist völlig egal, was mit einer ukrainischen Stadt passiert. Sie haben erlebt, was im Krieg mit Grosny geschah: eine moderne Großstadt, die in Schutt und Asche gelegt worden ist.

Zum zweiten Mal wurden OSZE-Beobachter entführt, die Gruppe befindet sich noch immer in Geiselhaft. Was bezwecken die Aufständischen damit?
Das geschieht sehr bewusst. Wjatscheslaw Ponomarjow, der so genannte Bürgermeister von Slawjansk, hat öffentlich erklärt, dass man nach den Verhören direkt mit der OSZE verhandeln werde. Er begibt sich damit auf Augenhöhe zur Staatengemeinschaft. Es werden aber nicht nur OSZE-Mitarbeiter entführt, sondern systematisch Geiseln genommen. Leute, die in Donezk ankommen, werden regelrecht kategorisiert, um zu sehen, wer für einen Gefangenenaustausch oder für Lösegeldforderungen wertvoll sein könnte. Die Entführungen sind längst zu einem Geschäft geworden. Man kennt so etwas aus Somalia oder dem Irak.

Wie direkt ist der Einfluss Moskaus auf die Separatisten?
Putin ist vollkommen im Bilde, was in der Ukraine geschieht. Die Behauptung, er habe keinen Einfluss auf die Vorgänge, ist eine Propagandalüge. Dass die Auseinandersetzung eine Eigendynamik gewinnt, ist klar, aber gerade Leute wie Ponomarjow handeln nicht auf eigene Faust. Wenn die russische Regierung an einer Beilegung des Konflikts tatsächlich interessiert wäre, könnte sie auch einfach die Grenze schließen. Doch noch immer gelangen Waffen und Desperados ungehindert ins Land.

Möchte sich die Mehrheit der Bevölkerung im Osten also gar nicht abspalten?
Vor dem Referendum über die Unabhängigkeit, an dem sich nur ein Bruchteil der Menschen überhaupt beteiligt hat, haben Umfragen klar gezeigt: Es gibt zwar eine starke Kritik an der Kiewer Regierung, aber das bedeutet nicht, dass diese Kritiker nach Russland wollen. Es ist sehr schwierig für die ukrainische Regierung, das zerstörte Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. Vom staatlichen Gewaltmonopol ganz zu schweigen. Es war aber nicht die jetzige Regierung, welche den Osten in diese Lage gebracht hat, sondern der geflohene Präsident Janukowitsch, Repräsentant der „Partei der Regionen“, also des ukrainischen Ostens.

Wie kann der Westen Kiew unterstützen? Was können Brüssel und Washington tun, um der Ukraine zu helfen?
Der Westen muss eine klare Sprache sprechen. Er muss daran festhalten, dass er einen Völkerrechtsbruch wie die Annexion der Krim nicht akzeptiert. Grenzverschiebungen sind im 21. Jahrhundert inakzeptabel, da gibt es nichts zu verwischen. Ich bin für Sanktionen, die Europäer müssen mit den Amerikanern an einem Strick ziehen. Längerfristig hat der polnische Ministerpräsident Donald Tusk völlig recht, wenn er sagt, dass sich Europa aus der Abhängigkeit vom russischen Gas lösen muss. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es wäre schon bedeutsam, wenn man sich heute ernsthaft darauf vorbereiten würde.

Präsident Obama hat angekündigt, dass er die militärische Präsenz der USA in Osteuropa verstärken will. Ist die Erhöhung des Drohpotenzials denn ein Weg, die Krise zu meistern?
Das wahre Drohpotenzial liegt an der ukrainischen Grenze. Hier halten die Russen ihre Truppenübungen ab und von hier gelangen die Terroristen ins Land. Und diesen Terroristen ist der ukrainische Staat bisher offensichtlich nicht gewachsen. Der Westen muss sich nun überlegen, wie er der Ukraine helfen kann, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen.

Also soll die Ukraine westliche Berater anfordern?
Ich halte das für ein Recht der Ukraine, eines europäischen Staates, dessen Grenzen verletzt worden sind. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass die NATO, mit ihrem Konzept aus dem Kalten Krieg und einer Doktrin, die auf Abschreckung beruht, keine Lösung in diesem asymmetrischen Konflikt darstellt. Es gibt keine militärische Option für die NATO.

Gerade in der Bundesrepublik gibt es Stimmen, welche der EU und der NATO vorwerfen, durch die Osterweiterung Moskau unter Druck gesetzt zu haben.
Die Auflösung der Sowjetunion, das Ende eines Imperiums ist ein qualvoller, traumatischer Prozess. Diese Erschütterungen muss man nachvollziehen können. Trotzdem muss Russland akzeptieren, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt, sondern freie, unabhängige Staaten, die selbst bestimmen, welchen Bündnissen sie angehören wollen. Diese Vorstellung ist für die russische Führung offenbar schwer zu akzeptieren. Die Ukraine galt für Generationen als der „kleine Bruder“, als Hinterhof Russlands. Aber die Zeiten sind vorbei.

Dennoch stößt Putin bei manchen im Westen auf Verständnis. Woher kommt diese Haltung?
Dass man gerade in Deutschland im Falle Russlands bereit ist, die eigenen Prinzipien zu missachten, ist historisch begründet. Die Schuld für den Krieg, den Deutschland gegen die Sowjetunion geführt hat, sitzt tief. Sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist wichtig. Nur, und das ist der spannende Punkt, der Krieg gegen die Sowjetunion gilt noch immer als „Russlandfeldzug“. In Deutschland wird nicht wahrgenommen, dass auch andere Völker betroffen waren. Dabei war die Ukraine der Hauptschauplatz dieses Krieges und Ort der größten Zerstörungen. Kiew, Charkow, Odessa, Donezk – alle diese Städte wurden zerstört. Die Ukraine war auch der Hauptschauplatz der Shoa, die ganze Landschaft ist übersät mit Massengräbern. Wenn aber im deutschen Diskurs die Ukraine überhaupt auftaucht, dann immer im Zusammenhang mit der Kollaboration, die es jedoch überall in der besetzten Sowjetunion gab. Es gab nicht nur Bandera bei den Ukrainern, sondern auch die Wlassow-Armee der Russen. Diese selektive Wahrnehmung ist wirklich erstaunlich.

Die Koalition der Putin-Versteher in Westeuropa ist aber breit.
Putin erscheint vielen als Figur, die es dem Westen zeigt. Und so vereinigen sich jetzt nationalistische oder kapitalismuskritische Gegner der Globalisierung in ihrer Unterstützung für Russland. Insofern ist das Amalgam von Marine Le Pen in Frankreich bis zur Linken in Deutschland gar nicht so erstaunlich. Dass die Linke aber die Volksbewegung des Maidan als faschistisch und antisemitisch diffamiert, ist eine Ungeheuerlichkeit. Hier zeigt sich nicht nur Ahnungslosigkeit, sondern eine Korruption des antifaschistischen Gedankens, dessen eigentlicher Platz auf Seiten der Unterdrückten und der demokratischen Kräfte ist.

Sehen Sie eine Möglichkeit, wie die russischsprachige Minderheit mit dem Rest des Landes versöhnt werden könnte?
Mit der russischsprachigen Bevölkerung ist es so eine Sache. Ich kenne kein Land, das so stark bilingual ist wie die Ukraine, wo die Menschen in einem Gespräch fließend vom Ukrainischen ins Russische wechseln. Der östliche Landesteil spricht russisch, aber auch die Hauptstadt Kiew ist mehrheitlich russischsprachig. Das Problem ist nicht sprachlicher, sondern wirtschaftlicher und kultureller Natur. Es stellt sich die Frage, wie man eine Region, die mental noch immer stark von den Oligarchen und dem sowjetischen Wohlfahrtsstaat geprägt ist, in eine neue Zeit führt. Vielleicht bringt es die Krise in der östlichen Ukraine mit sich, dass politisch Bewegung in diesen Landesteil kommt und die Zustände, die seit 20 Jahren dort herrschen, überwunden werden.

Dennoch wurde mit Petro Poroschenko ein Oligarch zum neuen Staatspräsidenten gewählt.  So schnell wird man die Vergangenheit wohl nicht los.
Die Oligarchen – es gibt solche und solche. Manche haben sich mit der ukrainischen Sache verbunden und gehen dafür Risiken ein. Andere plündern das Volk aus und lassen auf die Menschen schießen. Einige Oligarchen haben Industrien aufgebaut, andere haben lediglich die Industrieruinen der Sowjetzeit ausgeplündert und sich daran bereichert. Poroschenko ist völlig klar: Wenn das aberwitzige System der Korruption und der Zerstörung des Staates nicht aufhört, ist das Land nicht mehr zu retten.

Sie haben die Präsidentschaftswahlen vor Ort erlebt. Hat sich die Lage seither zugespitzt?
Schon allein die Tatsache, dass das Land in der Lage war, die Präsidentschaftswahlen ordentlich durchzuführen, ist ein Beweis für die Stärke des ukrainischen Staates. Er ist kein failing state. Wenn ich aber die jetzige Situation mit der Lage vor einem Monat vergleiche, hat gerade in den Regionen von Luhansk und Donezk eine unglaubliche Veränderung stattgefunden. Die Bevölkerung von Luhansk zum Beispiel, ließ die versprengten Unruhestifter lange links liegen. Inzwischen haben diese Banden die Stadt als Geisel genommen. Die Geschäfte sind geschlossen, viele Menschen versuchen auszureisen. In Briefen schreiben Bewohner: „Die Stadt stirbt“. Das hat mich schockiert.

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