Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Baschar al Assad

Baschar al Assad - Im Schlachthaus des Augenarztes

Gnadenlos lässt Baschar al Assad sein Volk niederknüppeln, foltern, töten – ob Männer, Frauen oder Kinder. Täglich gehen die Sicherheitskräfte mit größter Brutalität vor. Doch die Syrer lassen sich nicht länger einschüchtern, sie kämpfen mutig für ihre Freiheit.

Er geht barfuß durch die Straßen. Die Nachtluft ist frisch, der Himmel tiefschwarz. Er schreitet weit aus und atmet tief ein. Es riecht nach Frühling. Ein paar Autos fahren an ihm vorbei, erleuchten sekundenlang den Bürgersteig. Sand und Schotter kleben an seinen geschwollenen Fußsohlen. Er hat Schmerzen im Bauch, im Nacken. „Das hier war eine Spazierfahrt“, haben sie ihm gesagt. „Nächstes Mal wird es ernst.“

In Yarmouk, einem Außenbezirk von Damaskus, klingelt er an einer Metalltür. In der Türklappe erscheint ein Gesicht, dann hört der Mann: „Sie haben dir einen neuen Haarschnitt verpasst!“

Abid wird in die Wohnung gezogen. Diejenigen, die geschlafen haben, schlurfen herein. Sie lachen, können gar nicht aufhören: Abid ist zurück, aus dem Gefängnis freigelassen.

Der Maschinenbaustudent ist einer von Tausenden, die seit Beginn der Unruhen im März in Syrien verhaftet und eingesperrt worden sind. Die Menschen wurden in Schulen verhaftet, in Moscheen, an öffentlichen Plätzen und auf der Straße. Blitzschnell tauchten Sicherheitskräfte dort auf, wo sich die Demonstranten sammelten. Männer in Zivilkleidung, „Geister“ genannt, beobachten das Geschehen.

Die Überwachung ist allgegenwärtig in Syrien. Der Mukhabarat, der syrische Geheimdienst, ist in ein verworrenes Geflecht von Abteilungen und Unterabteilungen unterteilt, niemand in der Gesellschaft bleibt ohne Überwachung. Ein dichtes Netz von Agenten erstreckt sich über das Land. Manche von ihnen sind fest angestellt, andere arbeiten in Teilzeit. Wer wäre ein besserer Spitzel als der Gemüsehändler an der Moschee oder der Nachtwächter im Krankenhaus? Wer könnte eine Familie besser im Auge behalten als ein Lehrer, der seinen Schüler fragt, was dessen Vater von dem Mann auf all den Plakaten hält?

Der Mann auf den Plakaten ist eine gepflegte Erscheinung mit einem merkwürdig langen Hals und blassen, eng zusammenstehenden Augen. Mal trägt er Sonnenbrille und Uniform, mal sieht er aus wie ein Banker. Der gelernte Augenarzt trat die Nachfolge seines Vaters als syrischer Diktator an, als dieser starb. Sein Name ist Baschar al Assad. Die im ganzen Land aufbegehrende Jugend will ihn stürzen.

An einem Freitag nach dem Gebet beschloss auch Abid, an einer Demonstration teilzunehmen. Er begriff erst, dass sie umzingelt waren, als er einen stechenden Schmerz im Nacken spürte. Der Stromschlag durchfuhr seinen ganzen Körper. Er fiel zu Boden, wurde ohnmächtig. Als er erwachte, lagen andere neben ihm.

Die unauffällig gekleideten Mukhabarat-Agenten waren aus dem Nichts erschienen. Nun zerrten sie ihn zusammen mit hundert weiteren Demonstranten zu den wartenden weißen Bussen. Sie wurden in einen Außenbezirk von Damaskus gebracht.

„Wir saßen aufgereiht in einem Riad, einem von hohen Mauern umgebenen Hof. Unsere Hände waren auf dem Rücken gefesselt und wir mussten knien. Ich habe die Gebetsrufe der Moschee gezählt, um das Zeitgefühl nicht zu verlieren. Unsere Beine wurden taub. Als man uns befahl, nach dem letzten Gebetsruf aufzustehen, konnte sich niemand mehr aufrichten. Ich strauchelte, wurde geschlagen, zum Stehen gezwungen, fiel wieder hin. Nachts wurden wir in eine Zelle gesteckt. Wir standen aufrecht, zwölf Männer auf wenigen Quadratmetern. Am nächsten Morgen brachte man uns wieder in den Riad. Nach drei Tagen waren wir mürbe. Die Verhöre konnten beginnen.“ Einige wurden stundenlang gefoltert und kamen blutüberströmt zurück. Am schlimmsten traf es einen Alewiten, einen Mann, der wie der Assad-Clan der schiitischen Minderheit im Land angehört und den man deshalb als Verräter ansah.

Abid hatte mehr Glück. „Ich bin Mitglied der Baath-Partei. Die Schläge, die ich bekam, waren weniger brutal.“ Abid trat in Daraa in die Partei ein, der Stadt, in der die Proteste begannen. Eine Parteimitgliedschaft ist manchmal erforderlich, um sich an der Universität einschreiben zu dürfen, um einen Job zu bekommen oder um in der Machthierarchie aufzusteigen.

Irgendwann reichte es Abid. Nur ein Jahr vor seinem Abschluss als Maschinenbauer riskierte er alles, um am „syrischen Frühling“ mitzuwirken. „Jetzt oder nie: Der Zug der Freiheit fährt ab. Wenn wir nicht aufspringen, verpassen wir ihn.“ Vom Sofa ruft jemand: „Hören Sie sich das an. Er war gerade mal zwei Wochen im Gefängnis – und redet schon wie Nelson Mandela!“

Die Strategie des syrischen Regimes ist offensichtlich: die Proteste im Keim ersticken. Und nicht den gleichen Fehler machen wie Husni Mubarak, der abgewartet hatte, bis immer mehr Menschen in Kairo auf die Straße gingen. Während in Tunesien und Ägypten die Proteste schnell auf Tausende von Menschen anwuchsen, geht das syrische Regime gnadenlos gegen Gruppen von zwanzig, fünfzig oder hundert Personen vor. „Wenn hier tausend Menschen auf die Straße gehen, dann ist das wie eine Million Menschen in Kairo“, sagt Abids Gastgeber.

Sein Wohnzimmer ist doppelt so groß wie Abids Zelle. Trotzdem ist es stickig. Jeder raucht, und jede Zigarette wird mit dem Stummel der vorhergehenden angezündet. Es ist Mitternacht. Draußen sind immer noch Kinder unterwegs. Andere schlafen tief und fest in den Armen ihrer Väter und werden ins Bett gebracht. Ein paar Gemüsehändler haben noch geöffnet. Ein Kebabspieß dreht sich. Das Leben geht weiter.

Das gesamte politische Leben in Syrien dreht sich um Baschar al Assad. Die wahren Machthaber sind er und sein jüngerer Bruder Maher al Assad, der befehlshabende Kommandeur der Präsidentengarde, eine alawitische Eliteeinheit, die einzige in Damaskus. Ihr Vater, Hafez al Assad, ein Armeepilot, der 1970 die Macht ergriff, war ein gewiefter Politiker. Obwohl die Minderheit der Alawiten, der er angehörte, nur 12 Prozent der Bevölkerung ausmachte, gelang es ihm, eine breite Machtbasis aufzubauen. Unter seinem Sohn, der sie nicht halten konnte, schmolz diese Machtbasis auf einen kleinen alawitischen Unterstützerkreis zusammen.

Wieder wird es Nacht. Alia summt, während sie sich auf ihre Hände und ihre Schreibkunst konzentriert: „Wenn Gefahr droht“, heißt es in einem syrischen Sprichwort, „sing ein Lied.“ Die Mädchen stehen um einen Schreibtisch in einem Schlafzimmer in einem Wohnblock. Dort liegen eine Schere, schwarzes Papier, Stifte und eine Dose mit Kreide. Alia zeichnet Umrisse mit einem Bleistift und malt sie dann mit Kreide aus. Die Jalousien sind zugezogen. Man kann sich niemals sicher fühlen, auch nicht im siebten Stock, auch nicht bei freier Sicht aus dem Fenster.

Die Worte nehmen unter Alias Händen mit den lilafarben lackierten Fingernägeln allmählich Gestalt an: „Stoppt das Morden“ steht da. Auf einem anderen Plakat steht, von rechts nach links geschrieben: „Stoppt die Gewalt.“ Über die Anordnung der Buchstaben auf dem dritten Plakat entbrennt eine Diskussion, doch ihre Botschaft ist deutlich: „Stoppt die Belagerung der Kinder von Daraa.“

Daraa, eine verschlafene Stadt in der Wüste nahe der jordanischen Grenze, ist der Ort, an dem alles begann. Eines Nachmittags im März sprühen ein paar Jungs regierungskritische Graffiti an eine Wand. Die Polizei nimmt sie fest und bringt sie zur örtlichen Polizeistation. Und dann – nichts. Nur Stille.

Die Eltern suchen nach ihnen, fragen überall herum. Niemand weiß etwas. Sie wenden sich an die Behörden und werden weggeschickt. Der örtliche Geistliche begleitet die Väter zum Polizeirevier. „Geben Sie uns unsere Söhne zurück“, sagt er. Er nimmt seine Kopfbedeckung ab und legt sie auf den Tisch, um zu unterstreichen, wie ernst es ihm mit seiner Bitte ist. Wenn du um etwas bittest, sei bereit, etwas zurückzugeben, heißt es im Koran.

„Vergiss deine Kinder. Besorg dir einfach neue“, soll der Sicherheitschef geantwortet haben. Der Geistliche bittet ihn, in Gottes Namen Gnade walten zu lassen. „Wenn du selbst keine neuen Kinder machen kannst, schick uns deine Frau, wir erledigen das“, soll der Sicherheitschef erwidert haben.

Die verschwundenen Kinder. Die Beleidigungen sind unfassbar – immer mehr Menschen versammeln sich um das Gebäude. Sie werden weggeschickt, aber sie kommen wieder. Eine Woche vergeht, bis die Kinder freigelassen werden. Sie wurden schwer misshandelt. An den Fingerknöcheln ist die Haut zerfetzt, einigen sollen die Fingernägel ausgerissen worden sein. Auf YouTube werden Videos von den Jungen verbreitet. Die Proteste greifen auf andere Städte über.

Damaskus blieb bis Ende März eine Insel der Ruhe, bis schließlich auch in der Hauptstadt spontane Demonstrationen stattfanden. Es gab keine Koordination, keine Führung. Zeit und Ort der Demonstrationen wurden von Mund zu Mund weitergegeben, von Freund zu Freund.

Die Mädchen im siebten Stock bereiten die erste reine Frauendemonstration im Zentrum von Damaskus vor. Am kommenden Montag werden sie sich auf einer der besseren Straßen in einem Damaszener Einkaufsviertel treffen. Sie werden bis drei Uhr in den Läden bleiben und sich dann draußen versammeln und ihre Transparente ausrollen. Sie werden wegrennen, sobald die Polizei anrückt. Sie werden, so ist es geplant, in den schattigen Seitenstraßen verschwinden.

Terroristen, bewaffnete Banden, Al Qaida und Israel steckten hinter all dem Durcheinander, heißt es in den syrischen Medien. Eine Handvoll Männer haben im staatlichen Fernsehen gestanden. „Meine Aufgabe war es, Videos zu fälschen“, sagte einer. „Das Geld kam aus Saudi-Arabien“, bekennt ein anderer. „Die Leute werden gezwungen, auf die Straße zu gehen und zu protestieren“, sagte ein Dritter.

Die Mädchen schütteln bloß die Köpfe, wenn sie so etwas hören. „Ich will nur ein gutes Leben“, sagt Alia. Sie arbeitet für eine Produktionsgesellschaft, die sich auf Seifenopern für den palästinensischen Markt spezialisiert hat. Sie hat viel zu verlieren: ihren Job, ihren Freund, Partys auf den Dachterrassen. „Dieses Regime sorgt dafür, dass man sich sehr klein fühlt“, sagt sie in gebrochenem Französisch. „Alles kommt von oben. Bisher habe ich meine Freunde beschworen, sich von den Protesten fernzuhalten. Ich habe gesagt, lasst uns ein bisschen warten. Aber das Töten hat die Menschen verändert. Es ist viel Blut geflossen. Wir können sie nicht einfach weitermachen lassen.“ Elias, der einzige männliche Mitbewohner, hat ein schlechtes Gewissen. „Ich habe solche Angst“, sagt er. „Ich habe noch nie an irgendeiner Demonstration teilgenommen. Ich bin kein mutiger Mann.“

Elias und Alia gehören religiösen Minderheiten an: Elias ist Christ, Alia ist Drusin. „Ich habe Angst vor dem, was kommt“, sagt Elias. „Das Regime hatte eine gute Minderheitenpolitik, hat das Land im Gleichgewicht gehalten. Ich habe Angst vor dem Islam, Angst davor, dass aus Syrien ein zweiter Irak wird.

Das Regime spielt mit dieser Angst. Es versucht, die Führer der Christen im Land, die ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, davon zu überzeugen, dass extremistische Islamisten die Macht übernehmen könnten. Auf der anderen Seite der Grenze, im Irak, ist schließlich fast die Hälfte der christlichen Bevölkerung vor der Verfolgung geflohen.

Die Kreide auf den Plakaten verwischt, die Buchstaben sind verschmiert. Die weiße Schrift sollte für Unschuld stehen, der schwarze Grund für die Macht – es war so eine schöne Idee. Alia pustet den überschüssigen Kreidestaub fort und versucht, die Buchstaben mit Kreide nachzuzeichnen. Eines der Mädchen hat eine Idee: „Haarspray! Wir fixieren die Schrift mit Haarspray!“ Der Sprühnebel breitet sich im ganzen Raum aus. Noch nie hat Haarspray derart nach Revolution gerochen.

An diesem Freitag ist die Umayyaden-Moschee die Bühne eines modernen Dramas. Sie ist der einzige legale Versammlungsort und wird immer noch streng von den Sicherheitskräften überwacht. Jedes Wort des Imams wird genau verfolgt. Der Basar ist leer. Die Stände sind geschlossen. Heruntergelassene Rollläden aus Eisen schützen Glasgefäße und Körbe. Ein Hauch von Kardamom hängt über dem Gewürzmarkt, ein Hauch von Leder über der Gerberei, Lavendel über dem Stand des Seifenmachers. Die Touristen sind verschwunden, nur die Anwohner sind geblieben: kleine Jungen auf Fahrrädern, Großväter auf ihren Stühlen. Polizeistaffeln auf Motorrädern haben etliche Straßen abgeriegelt. Viele Menschen haben vor, nach dem Gebet wieder auf die Straße zu gehen.

Die Stille ist bedrückend. Es wimmelt von Geheimpolizisten. Jeder erkennt sie, auch wenn sie sich wie ganz normale Männer verhalten. Sie hocken am Straßenrand, lehnen an Wänden, sitzen auf Bänken oder in Türeingängen. Sie tragen Hemd und Hose wie alle Männer. Sie sind vielleicht etwas breitschultriger als der Durchschnittssyrer, und sie tragen häufiger Lederjacken. Aber das ist es nicht, was sie von anderen unterscheidet. Es ist ihr Blick.

Sie schauen aufmerksam, aber nicht neugierig. Sie wollen niemanden kennenlernen, sondern beobachten. Das andere Merkmal ist, dass sie sich nicht unterhalten. Zwischen den meisten Menschen kommt es mindestens zu einer kleinen Unterhaltung. Diese Männer dagegen sprechen kaum, und wenn sie es tun, dann sprechen sie mit ausdruckslosen Mienen. Sie knuffen sich nicht in die Seite, klopfen sich nicht auf die Schulter. Sie sprechen nicht miteinander, wie Menschen normalerweise miteinander reden. Sie sind im Dienst.

Als das Freitagsgebet endet, weht ein kalter Wind. Der Himmel über der Moschee verdunkelt sich, reißt auf, Regen prasselt herab auf dünne Sonnendächer, die unter dem Gewicht nachgeben. Ein Mann versucht, die Wassermassen mit einem Besen von seinem Eingang fernzuhalten. Plötzlich trommeln weiße Hagelkörner auf die Dächer und Planen. Sie reißen den blühenden Jasmin von den Zweigen, prallen auf das Pflaster und schmelzen in den Pfützen.

„Gott ist groß“, sagt ein Mann, der den Hagelsturm vor seinem Hauseingang verfolgt. „So etwas habe ich in Damaskus noch nicht erlebt. Das ist Gottes Schutz. Die Menschen werden ruhig bleiben, und dann werden sie heute nicht getötet“, sagt er und seufzt.

Es ist, als würde der Mann angesichts der verlassenen Straße, der geschlossenen Geschäfte und des Sturms mutiger. Er erzählt von seinem Bruder, der am vergangenen Freitag ganz knapp einem Scharfschützen der Regierung entging. „Die Kugel hat ihn hier gestreift“, sagt Tarek und zeigt auf seinen Hals. Die Kugel verletzte die äußere Hautschicht, bei einer Demonstration in der Gegend von Zamelka. Mehrere Menschen wurden erschossen.

Die Scharfschützen schießen, um Menschen zu töten. Nicht viele, sondern gerade genug, um abzuschrecken. Der Befehl, heißt es, laute: nicht mehr als zwanzig am Tag. Aber an vielen Freitagen müssen die Opferzahlen höher gewesen sein.

Wie andere Syrer spricht auch dieser Mann von der Angst. „Sie wird uns bei der Geburt eingeimpft“, sagt er leise und setzt eine imaginäre Injektionsnadel an. „Sie sorgt dafür, dass wir den Kopf senken, uns wegdrehen, einander misstrauen. Jeder kann angezeigt werden. Wenn du zu einem Polizisten unhöflich bist oder ihm dein Gesicht nicht passt, kannst du für Jahre verschwinden. Wissen Sie, wann ich am meisten Angst hatte? Wenn ich die Assads im Fernsehen gesehen habe. Dann habe ich meine Söhne gerufen, damit sie sich hinsetzen und andächtig zuhören. Man musste in Gegenwart der Kinder vorsichtig sein. Aber im März hat sich alles geändert. Ich habe meinen Jungen erzählt, was los ist in ihrem Land. Der Älteste hat mich vergangene Woche zu den Protesten begleitet. Aber meine fünfjährige Tochter hat geweint, als ich gesagt habe, Baschar müsse gehen. ,Ich liebe Baschar‘, hat sie erwidert. Genau, wie wir es ihr beigebracht haben. Nein, du solltest ihn hassen, habe ich ihr erklärt. ,Aber ich liebe ihn‘, schluchzte sie.“

Tarek zeigt auf ein Porträt an der Wand und ein Poster über der Tür. „Vor zehn Tagen kamen sie damit an. Häng ihn hier auf“, haben sie gesagt. „Ich hatte Angst, ihnen zu widersprechen. Das hier ist schließlich mein Leben. Auch andere haben sein Porträt aufgehängt. Kein Wunder, dass meine kleine Tochter verwirrt ist.“

In den modernen Einkaufsvierteln von Damaskus ist die Stimmung gedrückt. Elegante, leicht bekleidete Schaufensterpuppen schauen Passanten mit arroganter Miene nach. Die Verkäufer stehen apathisch und mit resignierten Gesichtern in ihren Läden. Hier hängen keine Bilder vom Präsidenten. Das Regime möchte offenbar nicht die frisch geputzten Schaufenster der Oberschicht überkleben. Je ärmer der Bezirk, desto mehr Plakate.

Shirin durchschreitet ihre Boutique in engen Jeans und flachen Wildlederstiefeln. Eigentlich hatte sie sich auf den Frühlingsausverkauf eingestellt. Doch dann kam das Blutbad in Daraa. „Für den Schlussverkauf zu werben, während Menschen erschossen werden, fühlt sich falsch an“, sagt sie. Aber die erfolgreiche Geschäftsfrau hat wenig Verständnis für die Demonstranten, die sie für „ein paar junge Rebellen, die herumlaufen und randalieren“, hält. Sie unterstützt Baschar al Assad. „Wir haben eine ausgezeichnete Außenpolitik. Wir sind unabhängig und produzieren alles, was wir brauchen, bis auf ein paar Flugzeugteile. Die Sanktionen haben uns Autarkie gelehrt. Wir brauchen keine ausländische Intervention wie in Libyen. Und was ist an Gaddafi so verkehrt? Ich fand ihn immer ganz vernünftig.“

Trotzdem ist sie als Mutter von drei Kindern erschüttert über die Verhaftung der Jungen in Daraa. „Der Präsident sollte dafür sorgen, dass der örtliche Polizeichef gehängt wird“, sagt sie. „Die Art und Weise, wie er die Eltern behandelt hat, war eine Kriegserklärung. Das sind doch Beduinen, aufgeteilt in verschiedene Clans. Ich habe Angst, dass Extremisten die Situation ausnutzen und die Menschen zum Narren halten.“ Sie seufzt. „Ich liebe dieses Land wirklich. Ich will hier leben. Hier und jetzt.“

In einem Café in der Altstadt trinkt Mouna einen Schluck von ihrem Barada-Bier. Sie hat die brennenden Augen einer schlaflosen Aktivistin, die jede Nacht an einem anderen Ort verbringt. Der Geheimdienst könnte sie allein wegen ihrer übermüdeten Augen überführen und festnehmen.

Alles begann mit ihrem Vater, einem Linken, der die Säuberungen der siebziger Jahre nur knapp überlebte. Mouna erinnert sich an die helle Haut seiner Kameraden, die die Gefängnisse von Hafez al Assad überlebt hatten.

Nach den Demonstrationen in Ägypten ging Mouna zu ihren Eltern. „Mein Vater und ich saßen bei Minztee zusammen und sprachen stundenlang. Er sagte: ,Jetzt geht es auch hier los! Es breitet sich aus. Jetzt bist du dran.‘“

Mouna atmet tief durch und sieht sich um. „Ich habe das Internet benutzt, E-Mail und Facebook, wie die Ägypter. Bald darauf habe ich Drohungen erhalten. ,Wir kommen und holen dich‘, haben sie geschrieben. Als ich gefragt habe, wer sie sind, haben sie geantwortet: ,Du weißt ganz genau, wer wir sind.‘“

Auf die nächste Frage reagiert sie ungehalten. „Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass man an dieser Gesellschaft nichts ändern kann, und jetzt fragen Sie mich, wen wir uns als neues Staatsoberhaupt wünschen. Seit März hat sich kein Kandidat herauskristallisiert. Ich will an dieser Gesellschaft teilhaben, das ist alles, was ich will“, sagt sie entschlossen. Als ihr Handy klingelt, zieht sie das Aufladegerät heraus. Das Telefon ist kaputt und muss dreimal am Tag aufgeladen werden. Mounas schmaler Körper beginnt zu zittern. Sie hält ihr Handy in der einen Hand, mit der anderen fasst sie sich in die Haare. „Wo? Wann?“ Sie starrt in die Luft. „Ich muss gehen“, sagt sie. „Ein Freund ist verhaftet worden. Die Geheimpolizei hat ihn zu Hause abgeholt.“

Am nächsten Tag sind mehr Mädchen als sonst in einer ganz bestimmten Damaszener Einkaufsstraße. Sie sind in Zweiergruppen unterwegs. Wer Bescheid weiß, sieht sofort: Sie sind aus einem bestimmten Grund dort. Sie schauen sich nervös rechts und links um. Sie tragen flache Schuhe. Sie sprechen mit ausdruckslosen Mienen, wie die Männer vor der Moschee. Hier ein Paar, dort noch eins. Drei. Vier. Eine ganze Gruppe, immer mehr. Plötzlich öffnen sie ihre Handtaschen und halten ihre Transparente hoch. Manche sind aus Stoff, andere aus Pappe. Jedes Mädchen hat einen eigenen Slogan. „Stoppt das Morden.“ „Stoppt die Gewalt.“

Sie marschieren schweigend zu dem Platz mit der glänzenden Statue von Hafez al Assad. Die Umstehenden sagen kein Wort. Sie schauen ungläubig und aufmerksam. Die Mädchen überqueren den Kreisverkehr, um zur Statue zu gelangen. Eine Minute vergeht, zwei, vielleicht drei. Dann sind sie plötzlich umstellt. Wie aus dem Nichts tauchen die Männer in Zivil mit ihren weißen Bussen auf. Sie entreißen den Mädchen ihre Plakate, werfen sie auf den Boden. „Schlampen“, schreien die Männer. „Kühe!“

Einige Mädchen bleiben liegen. Eine weigert sich, ihr Plakat loszulassen. Als ihre Finger gebrochen werden, schreit sie vor Schmerz. Doch die meisten können fliehen. Sie verschwinden in den schattigen Seitengassen. Jede für sich. Wie geplant. Nach einigen Minuten ist alles vorbei. Ein weißer Bus fährt mit vier der Mädchen ab. Auch die anderen Fahrzeuge verlassen die Szenerie. Der Platz liegt wieder ganz ruhig da, als sei nichts geschehen. Und doch ist etwas geschehen. Etwas hat begonnen.

Übersetzung: Luisa Seeling

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.