
- Countdown zum Brexit
Freuen sich die Briten auf ihren Austritt aus der EU? In Thurrock im ostenglischen Essex haben 2016 knapp zwei Drittel für den Brexit gestimmt. Kurz vor dem Ablauf des Countdowns hört man jetzt aber auch kritische Stimmen. Ein Lokaltermin
Wendy Wooster ist froh, dass es endlich so weit ist: „Die Leute hatten die Brexitdebatte satt, es ist gut, dass wir jetzt aus der EU austreten.“ Wooster unterrichtet an der höheren Lehranstalt South Essex College in Thurrock Kurse, die auf Jobs in Luftverkehr und Tourismus vorbereiten. Wird nicht gerade die britische Aviationsindustrie darunter leiden, dass der Zugang zu gemeinsamen Projekten mit den EU-Partnern erschwert wird? Das glaubt die Kursleiterin nicht: „Wir können unser Business außerhalb der EU besser entwickeln.”
Das wird sich nun bald zeigen. Am 31. Januar um 23 Uhr tritt das Vereinigte Königreich offiziell aus der Europäischen Union aus. Die neue Ära, in der die wirtschaftlich starke Mittelmacht ihr Heil als Global Britain allein auf den freien Märkten der Welt sucht, beginnt unwiderruflich. Erst einmal aber gibt es noch eine Übergangsphase bis Dezember 2020, während der sich auch in Grays im Wahlkreis Thurrock kaum etwas ändern wird.
Punktesystem für Arbeitsvisa
Von Brexiteuphorie ist hier wenig zu spüren. „Wir haben ja nichts gegen Osteuropäer“, sagt Nathan Jones fast entschuldigend. Er und sein Kumpel Robert Lowe sind Bauarbeiter. Der Wahlkreis Thurrock hatte beim EU-Referendum 2016 mit 72 Prozent für den Brexit gestimmt. Es war damals das dritthöchste Votum gegen die EU in ganz Großbritannien. Nach dem Beitritt der osteuropäischen Staaten zur EU 2004 waren fast eine Million Polen nach Britannien gekommen, viele davon nach Ostengland. Viele Engländer fühlten sich überrannt, aus Polen kamen gut ausgebildete Bauarbeiter, die mit hohem Einsatz und niedrigen Preisen den Arbeitsmarkt veränderten. Nach dem Brexit ist es jetzt aus mit der Personenfreizügigkeit, die Briten wollen ein striktes Punktesystem für Arbeitsvisa einführen. Trotzdem fehlt es Nathan Jones heute an Freude: „Ich glaube, für uns wird sich nicht viel ändern.“
Wie viele englische Kleinstädte ist Grays nicht vom Schicksal verwöhnt worden. Unten am Hügel fließt träge die Themse vorbei. Grays Wharf hat eine lange Geschichte, die bis zu Richard Löwenherz 1195 zurückreicht, der der Familie Grays die Erlaubnis gab, sich hier anzusiedeln und von durchfahrenden Schiffen Maut zu verlangen. Diese Zeiten sind lange vorbei. Vor dem Schlagbaum an der Bahnstation warten ein paar Leute geduldig, bis der nächste Zug durchgefahren ist, obwohl sie auch sofort über eine Fußgängerbrücke gehen könnten. 43.000 Bewohner von Thurrock arbeiten hier in der Gegend, 32.000 pendeln täglich in die Region London.
„Let's stay friends“
Um die Leute in Feierstimmung zu versetzen, hat Tim Martin, der brexitbegeisterte Chef der englischen Kette Wetherspoons, eine Idee: In seinen Pubs werden am Freitag als Zeichen der paneuropäischen Freundschaft unter dem Motto „Let’s stay friends“ verbilligte Getränke aus europäischen Ländern angeboten. Eine Flasche Beck’s aus Deutschland kostet dann nur 1,49 Pfund, umgerechnet 1,79 Euro.
Ob sich die EU-Bürger deshalb wohler fühlen werden? Ein bulgarisches Ehepaar, das seinen Namen nicht nennen will, steht an der Ampel vor der Fußgängerzone von Grays, in der sich Poundshops, also 1-Euro-Discounter, und Kettencafés aneinanderreihen. „Wir bleiben jetzt erst einmal hier”, sagt der Ehemann, der 2015 in Grays ankam. Nach Bulgarien geht er sicher nicht zurück, eher schon würde die Familie nach Deutschland weiterziehen, wenn die Briten auf hart schalten. Allerdings sollen EU-Bürger, die seit fünf Jahren im Land sind, den sogenannten „Settled Status“ erhalten. Sie behalten Rechte wie den Zugang zu Pensionen oder Sozialleistungen, die sie bisher als EU-Bürger genossen haben.„Bisher weiß aber niemand, wie schlimm die wirtschaftliche Lage wird. Wenn Boris Johnson schlecht verhandelt und Britannien Ende des Jahres einfach aus dem Binnenmarkt kippt, dann werden auch unsere Jobs flöten gehen”, sagt der junge Familienvater.
Endlich raus aus der EU
Karin Miuldin dagegen hält nichts von Schwarzmalerei. Am 31. Januar wird sie die Korken knallen lassen. Sie hat 2016 für den Brexit gestimmt und findet es sehr gut, dass es jetzt endlich passiert: „Es hat sowieso schon viel zu lange gedauert“, sagt die Engländerin, die mit ihrem Mann gerade eine Kaffeepause in einer Filiale der britischen Kette Costa einlegt. „Sonst reden wir ja nie miteinander“, sagt Stephen lachend. Karin betreibt einen Kindergarten, sie hat alle Hände voll zu tun.
Ob es sie stört, dass der Brexit erst einmal viel Geld kosten wird? Importprodukte dürften teurer werden, wenn der Plan nicht aufgeht, innerhalb der nächsten Monate ein Freihandelsabkommen mit der EU auszuhandeln. Auch das Service könnte leiden. Zwanzig Prozent der Baristas bei Costa stammen aus der EU und dürfen vielleicht nach den neuen strikten Arbeitsvisa-Regeln bald nicht mehr hier arbeiten. „Mir sind die Kosten für den Brexit ehrlich gesagt egal“, sagt Karin. „Wir wollen einfach unsere nationale Unabhängigkeit zurück.“ England sei früher eine Weltmacht gewesen, sagt sie, und so werde es jetzt auch wieder sein: „Wir brauchen die EU nicht, sie behindert uns nur.“
Sie ist für den Brexit, er dagegen
Ehemann Stephen hört seiner Frau zu. Er schüttelt den Kopf. „Ich bin nicht ihrer Meinung, ich glaube wir machen einen großen Fehler.” Die wirtschaftliche Vernetzung mit dem größten Handelsblock in der Nachbarschaft freiwillig aufgeben, ohne zu wissen, was danach droht? Das scheint Stephen Miuldin ein recht waghalsiges Unterfangen zu sein. Er hat deshalb beim Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt. Karin aber wählte damals den Brexit. „Seitdem nächtigen wir in getrennten Schlafzimmern“, sagt er. Er lacht, als wäre das ein Witz. Und fügt hinzu: „Ich liebe sie aber trotzdem.”