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Ungarn - Mit diesen Tricks manipuliert Orbán die eigene Bevölkerung

Bei der Abwehr von Flüchtlingen ist Ungarn in Europa beispiellos. Ministerpräsident Viktor Orbán führt aber auch eine Kampagne gegen seine eigenen Bürger: Er beeinflusst sie mit fremdenfeindlichem Gedankengut, wie eine Regierungsumfrage zu „Einwanderung und Terrorismus“ zeigt

Autoreninfo

Simon Rippon ist Juniorprofessor für Philosophie an der Central European University in Budapest, Ungarn.

So erreichen Sie Simon Rippon:

Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer gemeinsamen Pflicht aller europäischen Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen besteht, kam in Ungarn nicht so gut an: Prompt warf Viktor Orbán ihr „moralischen Imperialismus“ vor.

Der Ministerpräsident behauptet, die europäischen Staatsführer hätten kein Mandat, Flüchtlinge in ihren Ländern aufzunehmen. Und er findet, die Regierungschefs sollten auf ihre Bürger hören.

Dabei führt Orbán seit einiger Zeit eine Kampagne: Ebendiese Bürger, auf die er sich so beruft, beeinflusst er mit fremdenfeindlichem, nationalistischem Gedankengut.

Die europäischen Werte werden nicht durch Angela Merkel, sondern durch den Mann an der Spitze einer kleinen, zerbrechlichen Demokratie in Zentraleuropa bedroht.

Ein Demagoge weiß genau, was er sein Publikum denken lassen möchte. Die Frage ist nur, welche (Falsch-)Informationen erfolgreich lanciert und welche Fäden gezogen werden müssen, um die Fähigkeit seiner Zuhörerschaft zur unabhängigen, rationalen Meinungsbildung außer Kraft zu setzen. Philosophen haben schon lange erkannt, dass Propaganda eine ernste Bedrohung für demokratische Werte ist. Wenn Demagogen Propaganda zur Manipulation der Wählerschaft nutzen, übernehmen sie die Macht vom Volk.

Ungarische Beamte tragen in der Nähe von Flüchtlingen oft Mundschutz. Ohne ein bestimmtes Krankheitsrisiko stellt man sich die Frage: Warum?

 

Angriffe auf die Zivilgesellschaft und die Medien


Orbán hat eine in den EU-Mitgliedsstaaten bisher beispiellose Propagandamaschine in Gang gesetzt. Demagogen müssen zunächst die Stimmen der Andersdenkenden übertönen, sei es dadurch, dass man ihren Ruf zerstört oder indem man sie zum Schweigen bringt. Orbán und seine Regierungspartei Fidesz verfolgen beide Taktiken.

Unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen, sogar die Europäische Union selbst, werden häufig angegriffen und in Schmutzkampagnen verleumdet. Während einer Rede stellte Orbán im vergangenen Jahr klar: Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten, betrachte er als bezahlte politische Aktivisten im Auftrag ausländischer Interessen.

Mittlerweile versucht Orbán, rechtliche und finanzielle Kontrolle über alle wichtigen ungarischen Medienkanäle zu erlangen. Die staatlichen Medien ließ er zentralisieren. Zudem schuf er neue Gesetze. Einen nominell unabhängigen Medienrat besetzte Orbán ausschließlich mit Fidesz-Beauftragten. Diese verfügen über einen weiten Ermessensspielraum, um Medienanbieter für angeblich fehlende „Ausgewogenheit“ zu sanktionieren.

Seit Orbáns Wahlsieg im Jahr 2010 wurden Mittel im Wert von zweistelligen Euro-Millionenbeträgen für staatliche Werbekampagnen nahezu ausschließlich an Fidesz-nahe Medien und Medienagenturen vergeben. Dem größten unabhängigen TV-Sender, RTL Klub, wurde eine 50-prozentige Sondersteuer auf seine Werbeeinnahmen auferlegt. Redakteure des kritischen Onlineportals Origo.hu kündigten reihenweise, um gegen politische Einflussnahme zu protestieren.

Es scheint, als wäre Orbán einen Schritt zu weit gegangen bei der Errichtung des von ihm angestrebten „illiberalen Staates“. Er plante eine Internetsteuer einzuführen, die laut der Europäischen Kommission „Freiheiten einschränkt“. Dieser Vorschlag, sowie zeitgleich öffentlich gewordene Korruptionsskandale, führten zu weiten Protesten. Orbáns Beliebtheit sank. Letztlich zwangen die Bürger ihn zu einem Rückzieher; die Internetsteuer wurde begraben.

Trotzdem hat Orbán eine Medienlandschaft geschaffen, die größtenteils von Fidesz-nahen Vertretern dominiert wird. In diesem System gibt es für Journalisten, Redakteure und Eigentümer starke Anreize, sich unterzuordnen.      

Die Geschichte vom bedrohten Ungarn


Der zweite zentrale Bestandteil von Orbáns Propagandastrategie ist, sich als Beschützer vor vermeintlichen äußeren Feinden darzustellen. Darüber redet er schon seit Jahren. In einem Land, das wenig Erfahrung mit Migranten hat, bot die Flüchtlingskrise eine perfekte Möglichkeit, Ängste zu schüren: Orbán inszenierte sich als Retter des ungarischen Volkes.

Im April initiierte die Regierung auf Kosten der Steuerzahler eine sogenannte „Nationale Konsultation zu Einwanderung und Terrorismus“. Alle ungarischen Staatsbürger über 18 Jahren erhielten einen Brief, unterschrieben vom Ministerpräsidenten. Darin erinnerte er in stark gefühlsgeladener Sprache an die Anschläge um „Charlie Hebdo“ in Paris. Seine Behauptung: Der Angriff belege das Scheitern der EU-Einwanderungspolitik. Das Schreiben bezeichnete Migranten ausschließlich als „Wirtschaftsmigranten“, die „so tun, als wären sie Flüchtlinge“ aber „tatsächlich nur wegen Sozialleistungen und Arbeitsplätzen kommen“. Weiterhin wird festgestellt, dass diese Migranten eine „Bedrohung“ seien, und „dass wir entscheiden müssen, wie wir Ungarn verteidigen“.


Die ersten fünf Fragen der „Nationalen Konsultation zu Einwanderung und Terrorismus“


1. Es gibt unterschiedliche Meinungen über die Zunahme von Terrorakten. Wie wichtig ist der sich ausbreitende Terrorismus (das Massaker in Frankreich, die alarmierenden Taten des IS) aus Ihrer Perspektive?
- Sehr wichtig     - Wichtig     - Unwichtig

2. Glauben Sie, dass Ungarn in den kommenden Jahren ein Ziel von Terrorakten werden könnte?
- Damit ist ernsthaft zu rechnen     - Das könnte passieren     - Völlig ausgeschlossen

3. Manche Menschen glauben, dass die Ausbreitung des Terrorismus mit dem mangelhaften Management der Einwanderung durch Brüssel zu tun hat. Stimmen Sie zu?
- Stimme völlig zu       - Stimme eher zu         - Stimme nicht zu

4. Wussten Sie, dass Wirtschaftsmigranten illegal die ungarische Grenze überschreiten und die Zahl der Migranten in Ungarn in jüngster Zeit um das Zwanzigfache angestiegen ist?
- Ja       - Davon habe ich gehört      - Das wusste ich nicht

5. Es gibt unterschiedliche Meinungen zur Frage der Einwanderung. Einige glauben, dass Wirtschaftsmigranten die Arbeitsplätze und Existenzgrundlage der Ungarn bedrohen. Stimmen Sie zu?
- Stimme völlig zu        - Stimme eher zu      - Stimme nicht zu 


Der Fragebogen verwendet ein außergewöhnliches Spektrum von Kunstgriffen, um die Einstellung der befragten Personen zu manipulieren. Hier einige Beispiele:

Implizierte Voraussetzungen: Ohne dies direkt zu behaupten, setzt die erste Frage die beängstigende aber fragwürdige Behauptung voraus, dass sich der Terrorismus ausbreite. Egal, welche Antwort man ankreuzt („Sehr wichtig“, „Wichtig“, „Unwichtig“), man akzeptiert implizit die Annahme, dass sich der Terrorismus tatsächlich ausbreitet. Implizierte Voraussetzungen bilden normalerweise den „gemeinsamen Hintergrund“ einer Unterhaltung. Man kann sich nicht direkt mit implizierten Voraussetzungen auseinandersetzen, daher kann mittels dieser Tarnung Zustimmung zu kontroversen Behauptungen erzeugt werden.

Voreingenommene Antwortmöglichkeiten: Die jeweils zweite angebotene Antwortmöglichkeit ist nicht neutral, sondern unterstützt in lediglich gemäßigterer Weise die Linie der Regierung. Es gibt keine neutrale Option oder die Möglichkeit „ich weiß es nicht“ anzukreuzen. Zwei der drei möglichen Antworten unterstützen die Regierung. Jeder Teilnehmer, der sich zu Beginn unsicher war, wird also dazu bewogen, sich unterstützend zu äußern.

Darstellung einseitiger Meinungen: Im Allgemeinen zeigen Personen bei Umfragen eine „inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz“, also die Neigung eher „Ja“ als „Nein“ zu sagen. Die Aussage „Manche Menschen glauben…“ ist also ein Mittel, die Befragten zu beeinflussen, der dargestellten Meinung zuzustimmen, es sei denn, sie wird durch eine weitere Aussage relativiert, z.B. „…andere wiederum glauben, dass…“. Die Fragen 3 und 5 reflektieren die Regierungslinie, ohne durch eine Gegenposition sachliche Ausgewogenheit zu schaffen. 

Framing: Die Reihenfolge der Fragen kann Antworten beeinflussen, weil Befragte sich generell bemühen, konsistent zu ihren eigenen bereits gegebenen Antworten zu bleiben. Zudem können vorangegangene Fragen bestimmte Themen in den Vordergrund rücken. Die Fragen 1 bis 3 betten das Thema der Einwanderung in den Kontext des Terrorismus ein. Hierdurch wird bei späteren Fragen die Wahrscheinlichkeit negativer Antworten zu Immigranten erhöht, auch wenn die Befragten diese beiden Themen nie zuvor im Zusammenhang gesehen haben sollten. Sowohl der Begleitbrief zum Fragebogen als auch dessen Überschrift platzieren das Thema Migration in diesen Kontext. Zusätzlich startete die Regierung neben der Umfrage eine Plakatwerbekampagne. Auf Plakatwänden wurden in ungarischer Sprache und in riesigen Buchstaben strenge Befehle an Migranten gerichtet, die „Nationale Konsultation“ war in kleineren Buchstaben erwähnt. Die folgenden drei Aufrufe waren zu lesen:

WENN DU NACH UNGARN KOMMST, DARFST DU DEN UNGARN NICHT DIE ARBEITSPLÄTZE WEGNEHMEN

WENN DU NACH UNGARN KOMMST, MUSST DU UNSERE KULTUR RESPEKTIEREN

WENN DU NACH UNGARN KOMMST, MUSST DU UNSERE GESETZE RESPEKTIEREN

Weil die Aufrufe auf den Plakatwänden in Ungarisch geschrieben waren, konnten die meisten Migranten sie nicht verstehen und waren wohl auch nicht die angesprochene Zielgruppe. Es scheint vielmehr, dass die Regierung die Meinungsumfrage durch Andeutungen beeinflussen wollte, um so die öffentliche Wahrnehmung von Orbán als Beschützer der Ungarn vor der Bedrohung der Einwanderer zu stärken.

Egal, was man über Einwanderung denkt: Kein vernünftiger Mensch wird glauben, dass die „Konsultation“ je dazu dienen sollte, die Meinung der Nation objektiv einzuschätzen. Sie diente vielmehr dem Zweck, Angst und Antipathien gegen Einwanderer zu schüren und die Werbetrommel für die Regierung zu rühren. Bei Protesten vor dem Parlament zerstörten einige der Demonstranten ihre Fragebögen. Nachdem die Regierung die Abgabefrist verlängert hatte, erhielt sie von den mehr als acht Millionen Angeschriebenen letztendlich „über eine Million“ Antworten. Wie nicht anders zu erwarten, stimmten davon die meisten für die Position der Regierung. 

Mittlerweile wurden die ersten fremdenfeindlichen Plakatwände ersetzt. In patriotischer Sprache verkünden die neuesten Tafeln das bedeutungslose Ergebnis der Nationalen Konsultation: „Das Volk hat entschieden: Das Land muss verteidigt werden.“

Auf einigen wurde durch Graffiti hinzugefügt: „...vor Viktor Orbán“.

Aber Orbáns Propagandakampagne geht weiter. Wird Europa adäquate Maßnahmen ergreifen, um sich und seine demokratischen Werte gegen Viktor Orbán zu verteidigen?

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