
- Solidarität vs. Souveränität
Der Europäische Gerichtshof hat eine Klage Ungarns und der Slowakei gegen die Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zurückgewiesen. Ob sich die Entscheidung jedoch durchsetzen lässt, ist fraglich. Denn auf grundlegende Fragen gibt das Urteil keine Antwort
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Dieses berühmt-berüchtigte Diktum von Carl Schmitt hat nun auch die EU-Politik erreicht. Denn in Brüssel wurde, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, im Herbst 2015 der Ausnahmezustand erklärt. Mit den Folgen schlägt sich die Europäische Union bis heute herum, wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Flüchtlingspolitik und die vehemente Reaktion in Budapest, Brüssel und Berlin zeigt.
Worum geht es? Auf den ersten Blick dreht sich der Streit um die Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander. Indem der EuGH eine Klage Ungarns und der Slowakei abwies, hätten die höchsten EU-Richter eine „Pflicht zur Solidarität“ postuliert, heißt es in Brüssel. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, erklärte Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos aus Griechenland. Nun müsse auch Ungarn an der 2015 beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien teilnehmen.
Basis des Urteils: die akute Notlage
Allerdings haben die EU-Richter das Wort Solidarität gar nicht in den Mund genommen. In ihrem Urteil geht es vor allem um die Frage, ob die Entscheidung der EU-Innenminister vom 22. September 2015 rechtmäßig war, mit einer qualifizierten Mehrheit die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen zu beschließen. Ungarn und die Slowakei hatten die Auffassung vertreten, dies sei nicht in Ordnung, sie hätten nicht überstimmt werden dürfen. Diese Auffassung wies der EuGH in vollem Umfang ab.
Bemerkenswert ist nun, wie er diese Entscheidung begründet. Denn hier kommt der Ausnahmezustand ins Spiel – und indirekt auch die staatliche Souveränität. Bei der umstrittenen Entscheidung der Innenminister im Flüchtlingsherbst 2015 sei es um eine akute Notlage gegangen, entschieden die Richter. Der Ministerrat habe sich daher zurecht auf Artikel 78,3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen, in dem es um Notfälle in der gemeinsamen Asylpolitik geht.
Dieser Artikel sieht Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit vor, ein Veto ist nicht möglich. Genau auf dieses Vetorecht hatten jedoch Ungarn und die Slowakei gesetzt. Sie glaubten, über die damals akute Flüchtlingskrise werde von den Staats- und Regierungschefs auf einem EU-Gipfel entschieden – und nicht bei einem Treffen der Innenminister. Der EU-Ratsvorsitz, den damals Luxemburg innehatte, ließ jedoch die Innenminister abstimmen. So konnte er die Verweigerer austricksen.
Politisch hochproblematische Entscheidung
Rechtlich war das okay, urteilen die Richter – zumindest solange, wie es um vorübergehende Notmaßnahmen ging. Politisch ist es jedoch ein Riesenproblem. Denn die Zuweisung von Flüchtlingen greift in die Souveränität der Mitgliedsstaaten ein. Und die Ausrufung des Ausnahmezustands ist eine politische Entscheidung, die sicher besser bei den Staats- und Regierungschefs aufgehoben wäre als bei den Innenministern. Alles andere schafft böses Blut, wie wir nun sehen.
Bei dem Urteil aus Luxemburg geht es also nicht nur um Solidarität, sondern auch um Souveränität und um den Ausnahmezustand. Im Schmittschen Sinne ist die EU am 22. September 2015 souverän geworden, da sie eine Notlage ausgerufen und außergewöhnliche Maßnahmen beschlossen hat, die sogar die nationalen Parlamente übergehen. Die Regierung von Viktor Orban beruft sich denn auch vor allem auf Argumente der staatlichen Souveränität und der inneren Sicherheit, um das EuGH-Urteil auszuhebeln.
Ungarn hat auf Zeit gespielt – und verloren
Damit stellt sie aber wiederum das Rechtsstaats-Prinzip der EU infrage. Es zeugt schon von einem abstrusen Rechtsverständnis, das oberste EU-Gericht anzurufen – und dann das Urteil nicht anzuerkennen und die Richter zu verhöhnen. Allerdings gehen auch viele Interpretationen aus Berlin und Brüssel zu weit. Der EuGH hat den Innenministern nämlich keinen Blankoscheck ausgestellt, Solidarität per Mehrheitsbeschluss zu erzwingen.
Das Urteil war vielmehr an die akute Notlage im Herbst 2015 gebunden. Und es betrifft nur Maßnahmen, die „hinsichtlich ihres sachlichen und zeitlichen Geltungsbereichs begrenzt sind“, wie es in der Urteilsbegründung heißt. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Umverteilung der Flüchtlinge soll eigentlich am 26. September 2017 abgeschlossen sein. Orban hat auf Zeit gespielt und wohl gehofft, dass sich der Streit nach diesem Datum von selbst erledigen würde.
Konsequenzen sind unklar
Wie geht es nun weiter? Muß Ungarn tatsächlich noch Solidarität üben und Flüchtlinge aufnehmen – auch wenn die Umverteilung Ende September ausläuft? Oder kann es sich wie andere Staaten verhalten, die sich auch ungestraft über EU-Regeln und -Beschlüsse hinwegsetzen, etwa in der Budgetpolitik? Droht gar eine jahrelange Hängepartie mit neuen Klagen vor dem EuGH, die diesmal von der EU gegen Ungarn angestrengt würden?
Das kann selbst in Brüssel niemand sagen. Die EU-Kommission spielt den Streit um die Souveränität herunter und versucht, die Karte der Solidarität zu spielen. Es gehe jetzt nicht darum, wie viele Flüchtlinge Ungarn aufnimmt, sondern darum, dass es überhaupt mitmacht, sagte Avramopoulos. Doch das lehnt die nationalistische Regierung in Budapest weiter ab. „Das EuGH-Urteil zwingt uns zu nichts“, stellt Sozialminister Zoltan Balog fest.
Strafen müssten mehrere EU-Länder treffen
In der Tat lässt die höchstrichterliche, rechtskräftige Entscheidung Aussagen zum weiteren Vorgehen vermissen. Die EU-Richter beziehen sich nur auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart oder auf die Zukunft. Auch die EU-Kommission möchte keine Vorgaben zum weiteren Vorgehen machen. Man werde nun erst einmal einige Wochen abwarten, so Avramopoulos. Danach könnte das – laufende – Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn verschärft werden.
Am Ende könnte eine Klage vor dem EuGH stehen – und hohe Geldstrafen, mit denen das säumige Land zur Umsetzung gezwungen werden soll. Auch über Sanktionen wird nachgedacht. „Die Kommission wird nach dem Rechten sehen. Sie wird eine Klage einbringen“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Das EU-Gericht werde dann festhalten, dass bestimmte Länder nicht ihren Pflichten nachkämen, „und dann kommt die zweite Stufe: Es werden Sanktionen eingeführt“.
Diese Strafen (die es im EU-Recht bisher nicht gibt) müssten dann allerdings mehrere Länder treffen – und nicht nur Ungarn. Denn nur ein einziges EU-Mitglied, Malta, hat die Brüsseler Vorgabe bei der Umverteilung von Flüchtlingen erfüllt. Alle anderen hinken dem Plansoll hinterher. Und je länger der Ausnahmezustand von 2015 zurückliegt, desto geringer wird die Bereitschaft, die geforderte Solidarität zu üben. Souveränität und Sicherheit gewinnen wieder an Bedeutung, auch in Deutschland.