Drohender Stellvertreterkrieg in der Ukraine - Aus der Geschichte nichts gelernt?

Die amerikanische Regierung scheint dazu bereit, in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu führen. Doch dieser Plan birgt enorme Risiken. Denn wie lange würde Moskau eine solche Strategie akzeptieren, bevor es sich zu einer Eskalation entschließt, um vor allem die Europäer in Angst und Schrecken zu versetzen? Frühere US-Präsidenten waren sich der drohenden Vernichtung der Menschheit noch bewusst.

Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin am Dienstag auf der US-Airbase in Ramstein / dpa
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Autoreninfo

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Lieven ist Autor zahlreicher Bücher über Russland und dessen Nachbarn.

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Ihren jüngsten Äußerungen nach zu urteilen, ist die Regierung Biden zunehmend bestrebt, den Konflikt in der Ukraine zu nutzen, um einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu führen, dessen Ziel die Schwächung oder gar Zerstörung des russischen Staates ist. 

Damit würde Amerika eine Strategie verfolgen, die jeder US-Präsident während des Kalten Krieges tunlichst vermieden hat: die Unterstützung eines Krieges in Europa mit dem akuten Risiko einer Eskalation hin zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato, die möglicherweise in einer nuklearen Katastrophe endet. Die Weigerung der USA und der Nato, bewaffnete Aufstände gegen die sowjetische Herrschaft in Osteuropa zu unterstützen, beruhte offensichtlich nicht auf einer wie auch immer gearteten Anerkennung der Legitimität der kommunistischen Herrschaft und der sowjetischen Vorherrschaft. Sondern einfach auf einer nüchternen Berechnung der entsetzlichen Risiken für Amerika, Europa und die Menschheit im Allgemeinen. 

Doch Vorsicht: Während in Teilen der russischen Gesellschaft ein aggressiver Krieg gegen die Ukrainer – die Moskau immerhin als „brüderliches Volk“ bezeichnet – auf erhebliches Unbehagen stößt, würde ein Krieg gegen die amerikanischen Versuche, Russland zu schaden und zu unterwerfen, in der Öffentlichkeit weitaus mehr Anklang finden.

Schwere Waffen und der Stellvertreterkrieg

Während seines Besuchs in Kiew in dieser Woche erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass die USA „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Am selben Tag erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow im russischen Fernsehen, dass die Nato durch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nun „im Wesentlichen“ in einen Stellvertreterkrieg mit Russland verwickelt sei.

Lawrow verglich die Situation in Bezug auf die nukleare Gefahr mit der kubanischen Raketenkrise. Wir tun gut daran, uns in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, wie nahe die Menschheit im Herbst 1962 der nuklearen Vernichtung stand. Damals hing das Schicksal der Welt von der Klugheit und Vorsicht eines einzigen sowjetischen Marineoffiziers an Bord eines nuklearen Angriffs-U-Boots ab: Kommandant (später Admiral) Wassili Arkhipow (die Figur, die Liam Neeson in dem Film über den Nuklearunfall auf dem U-Boot K-19 im Jahr zuvor spielte, dessen leitender Offizier Arkhipow gewesen war).

Zwei von Lloyd Austins Äußerungen sind es besonders wert, näher betrachtet zu werden. Die erste besagt, dass eine Schwächung Russlands notwendig sei, um zu verhindern, dass es seine Invasion in der Ukraine anderswo wiederholt. Diese Aussage ist entweder sinnlos, heuchlerisch oder beides. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland in andere Länder einmarschieren will oder könnte. Was einen Angriff auf die Nato anbelangt, so sollte die miserable Leistung des russischen Militärs in der Ukraine deutlich gemacht haben, dass dies eine törichte Schimäre ist. Wenn Russland nicht einmal in der Lage ist, Städte einzunehmen, die weniger als 30 Kilometer von seiner eigenen Grenze entfernt sind, ist die Vorstellung eines Angriffs auf die Nato lächerlich.

Was Georgien, Moldawien und Weißrussland betrifft, so verfügt Russland in diesen Ländern bereits über die erforderlichen Stellungen. Russlands militärische Präsenz in Armenien und Bergkarabach erfolgt auf Wunsch der Armenier selbst und ist in der Tat unerlässlich, um sie vor der Türkei und Aserbaidschan zu schützen. Wenn es um die Bekämpfung des islamistischen Extremismus in Zentralasien und anderswo geht, sind die Interessen Russlands und des Westens deckungsgleich.

Die Frage ist, was „gewinnen“ bedeutet

Lloyd Austin erklärte auch, dass US-Beamte glauben, die Ukraine könne den Krieg mit Russland „gewinnen“, wenn sie die richtige Ausrüstung und Unterstützung des Westens erhält. Die Frage ist jedoch, was „gewinnen“ bedeutet. Wenn es bedeutet, die Unabhängigkeit der Ukraine, die Freiheit, der Europäischen Union beizutreten, und die Souveränität über den größten Teil des ukrainischen Territoriums zu bewahren, dann ist dies ein legitimes und notwendiges Ziel. Dank des Mutes der Ukrainer und dank westlicher Waffen wurde dieses Vorhaben bereits zu einem großen Teil erreicht.

Das ursprüngliche Ziel Moskaus, die ukrainische Regierung zu stürzen und die gesamte Ukraine zu unterjochen, ist völlig gescheitert. Angesichts der Verluste, die das russische Militär erlitten hat, erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass Russland weitere ukrainische Großstädte einnehmen, geschweige denn die gesamte Ukraine erobern kann. 

Wenn der Sieg jedoch darin bestehen sollte, dass die Ukraine – mit westlicher Hilfe – alle Gebiete zurückerobert, die sie seit 2014 an Russland und an die von Russland unterstützten Separatisten verloren hat, dann ist dies ein Rezept für einen ewigen Krieg und für ungeheure Verluste und Leiden bei den Ukrainern. Die ukrainische Armee hat bei der Verteidigung ihrer städtischen Gebiete großartige Leistungen erbracht, aber ein Angriff auf verschanzte russische Verteidigungsstellungen im ganzen Land wäre eine ganz andere Sache. 

Da Russland die Krim annektiert hat und die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung die Krim als russisches Staatsgebiet betrachtet, könnte keine künftige russische Regierung sich dazu bereitfinden, sie aufzugeben. Das Ziel eines vollständigen ukrainischen Sieges impliziert daher in der Tat die Zerstörung des russischen Staates – etwas, das Russland mit seinem Atomwaffenarsenal verhindern will.

Solche Aussagen haben jedoch eine fatale Zweideutigkeit. Denn wenn sie auf eine Verpflichtung der USA hindeuten, der Ukraine dabei zu helfen, so lange weiterzukämpfen, bis die Ukraine alle seit 2014 von Russland eroberten Gebiete, einschließlich der Krim, zurückerobert hat, dann impliziert dies einen permanenten Krieg mit dem Ziel der Zerstörung des russischen Staates. Darüber hinaus wurde Russland von China in der Ukraine-Frage bisher nur sehr zurückhaltend unterstützt, doch könnte Peking eine US-Strategie, die auf die Zerstörung des russischen Staates und die damit einhergehende vollständige Isolierung Chinas abzielt, unmöglich tolerieren.

Mit einer Schwächung kommt kein Frieden

Eine US-Strategie, die darauf abzielt, den Krieg in der Ukraine zur Schwächung Russlands zu nutzen, ist natürlich auch völlig unvereinbar mit der Suche nach einem Waffenstillstand oder gar einer vorläufigen Friedensregelung. Als die ukrainische Regierung Ende März ein sehr vernünftiges Paket von Friedensvorschlägen vorlegte, war die fehlende öffentliche Unterstützung der USA für diese Vorschläge äußerst auffällig. Abgesehen von allem anderen ist ein ukrainischer Neutralitätsvertrag (wie von Präsident Selenskyj vorgeschlagen) ein absolut unverzichtbarer Teil jeder Lösung. Eine Schwächung Russlands würde jedoch implizieren, dass die Ukraine de facto ein Verbündeter der Vereinigten Staaten bleibt.

Aufgrund der Verluste, die das russische Militär erlitten hat, scheint es möglich, dass Moskau, sobald Russland den gesamten Donbass erobert hat (vorausgesetzt, dass es überhaupt dazu in der Lage ist), militärisch in die Defensive gehen und einen Waffenstillstand als erste Grundlage für Friedensverhandlungen anbieten wird. Der Westen steht dann vor der Qual der Wahl: Entweder er akzeptiert dies und setzt Russland mit wirtschaftlichen Mitteln unter Druck, akzeptable Bedingungen anzubieten. Oder er ermutigt und bewaffnet die Ukraine zu einer massiven Gegenoffensive. 

Wie lange würde Russland eine solche westliche Strategie akzeptieren, bevor es sich zu einer Eskalation entschließt, um vor allem die Europäer in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sie sich von Amerika abspalten und eine Friedenslösung anstreben? Selbst wenn ein direkter Krieg zwischen Russland und dem Westen vermieden werden könnte: Wie lange würde die westliche Einheit unter diesen Umständen überleben? Bislang beschränken sich die russischen Angriffe, die darauf abzielen, westliche Waffenlieferungen zu unterbrechen, auf ukrainisches Gebiet. Was wären die Folgen, wenn sie auf polnisches Gebiet ausgedehnt würden? Was wäre, wenn die Ukraine westliche Waffen nutzt, um Russland selbst anzugreifen – wie es der stellvertretende britische Verteidigungsminister (mit geradezu irrsinniger Verantwortungslosigkeit) vorgeschlagen hat?

Eindämmung statt Zurückdrängung

Während des Kalten Krieges hat kein US-Präsident je vergessen, dass Washington und Moskau gemeinsam in der Lage sind, die menschliche Zivilisation zu zerstören und sogar der Menschheit selbst ein Ende zu setzen. Aus diesem Grund verfolgten zunächst die Truman- und dann die Eisenhower-Regierung die Strategie, die Sowjetunion in Europa „einzudämmen“ – und nicht zu versuchen, die sowjetische Macht durch bewaffnete Unterstützung antisowjetischer Aufstände in Osteuropa „zurückzudrängen“. 

Daran sollten sich unsere heutigen Politiker erinnern. Sie sollten sich auch daran erinnern, dass dort, wo beide Seiten Stellvertreterkriege außerhalb Europas führten, die Folgen für sie selbst katastrophal waren und noch katastrophaler für die unglücklichen Menschen vor Ort, die zum Spielball dieser Großmachtpläne wurden. Haben wir wirklich nichts aus der Geschichte gelernt?

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Website des Quincy Institute for Responsible Statecraft.

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