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(picture alliance) Obwohl sie nur 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist Netanjahu auf die Frommen angewiesen

Israels Fundamentalisten - Die Macht der frommen Fanatiker

Gehen die demokratischen Prinzipien Israels durch das Gewicht der ultraorthodoxen Juden verloren? Alle israelischen Regierungschefs mussten sich bisher mit ihnen arrangieren

Jedes Land hat seine Mythen. Österreich bezeichnet sich immer noch gerne als „erstes Opfer der Nazis“, Frankreich als „Volk der Widerstandskämpfer“ und Israel als „einzige Demokratie des Nahen Ostens“. Nun mag Letzteres de jure noch stimmen, de facto droht dieses von den Politikern in Jerusalem gern formulierte Mantra tatsächlich zum Mythos zu werden.

Ein Blick nach Beth Shemesh, einer kleinen Provinzstadt, etwas abseits der Autobahn gelegen, die von Tel Aviv nach Jerusalem führt, genügt. Dort haben vor wenigen Wochen ultraorthodoxe jüdische Fanatiker ein kleines, achtjähriges Mädchen auf dem Weg in die Schule angepöbelt, angespuckt und mit Steinen beworfen. Der Grund: Ihre Kleidung sei nicht züchtig genug gewesen. Man konnte ein paar Zentimeter Haut ihrer Arme und Beine zu viel sehen. Zu viel in den Augen der frommen Fundamentalisten. Ein Schock ging durch Israel. Über 10 000 säkulare Israelis gingen in Beth Shemesh auf die Straße, die Politiker empörten sich, allen voran Premierminister Benjamin Netanjahu.

Doch dessen Empörung ist Heuchelei. Denn es ist derselbe Benjamin Netanjahu, der in einer Koalition mit ultraorthodoxen und fundamentalistischen Parteien sitzt, die ihm eine satte Mehrheit in der Knesset bescheren. Und um diese zu halten, macht der völlig unreligiöse Netanjahu diesen Parteien große Geschenke: Staatsgelder, die in Jeschiwot, religiöse Talmudschulen, gesteckt werden, wo junge Fromme nichts über Demokratie, aber alles über die Heiligen Schriften lernen. Staatsgelder, die in den Wohnungsbau gesteckt werden, vorzugsweise in frommen Stadtvierteln israelischer Städte. Staatsgelder, die den Frommen, von denen die meisten nicht arbeiten, sondern nur Thora studieren, das Leben versüßen. Da fromme Familien im Durchschnitt 7,5 Kinder haben (im Gegensatz zu 2,5 Kindern in säkularen Familien), erhalten sie ordentliches Kindergeld.

Die Millionen, die in das Siedlungsbauprojekt gesteckt werden, wo Nationalreligiöse ihren messianischen Träumen einer endzeitlichen Erlösung nachhängen dürfen und ihren Kindern beibringen, dass ein Staat, der nach der Halacha, dem Religionsgesetz, geführt wird, einem demokratischen Staat vorzuziehen sei.

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Das alles finanziert der säkulare Netanjahu. Zu seiner Verteidigung muss man allerdings sagen: Alle israelischen Regierungschefs haben dies so gemacht. Ob Netanjahu oder Ehud Barak, ob Schimon Peres oder Ariel Scharon, ob Arbeitspartei oder Likud, stets haben sie sich die Parteien der Frommen zur Machtsicherung ins Koalitionsboot geholt. Damit hat sich das säkulare Israel sein Dilemma selbst geschaffen, dessen immer größere Auswirkungen das empfindliche Gleichgewicht der bislang einigermaßen funktionierenden Demokratie aus den Angeln zu heben drohen.

Wie aber konnte es nur dazu kommen? Das Unglück nahm seinen Anfang 1947. Damals hatte David Ben-Gurion, der spätere Staatsgründer, in seinem sogenannten „Status-quo-Brief“ den orthodoxen Gruppen zugesichert, in einem zukünftigen jüdischen Staat werde der Schabbat der offizielle Ruhetag und das Rabbinat Herr über Eheschließungen sein. In Ämtern und Hotels dürfe nur koscher gekocht werden, und religiöse Schulen dürften neben säkularen existieren. Ben-Gurion wollte damit erreichen, dass zwei Jahre nach dem Ende des Holocausts Juden in Palästina möglichst geschlossen für den eigenen Staat kämpfen. Er maß seinem Brief keine allzu große Bedeutung bei. Denn die Zahl der Frommen war damals gering und er, der sozialistische Zionist, war sich sicher, dieses Phänomen werde nach der Staatsgründung bald verschwinden.

War 1947 der Ausgangspunkt, so wurde das Jahr 1967 zum Wendepunkt hin zur heutigen Situation. Denn als Israel im Sechstagekrieg die seitdem besetzten Gebiete eroberte, bekam das jüdische Volk nach 2000 Jahren wieder seine Heiligtümer zurück: in Jerusalem den Tempelberg mit der Klagemauer, in Hebron die Höhle Machpela mit den Gräbern der Stammväter Abraham, Isaak und Jakob, bei Bethlehem das Grab der Stammmutter Rachel, um nur einige zu nennen. Damit begann sich eine Stimmung auszubreiten, die den Sieg als Anfang der Erlösung deutete. Dass Gott nun sein Versprechen wahr mache, das jüdische Volk aus allen vier Ecken der Welt nach Hause zu holen und das Gelobte Land seinem auserwählten Volk zurückzugeben, kurz bevor der Messias kommt …

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Damit aber begann die Theologisierung der israelischen Politik. Das nationalreligiöse Siedlungsbauprojekt war von der Idee beseelt, das ganze biblische Land Israel auf die Ankunft des Messias vorzubereiten. Und die ultraorthodoxen Gruppen, die dem Zionismus skeptisch gegenüberstanden, weil sie, nach ihrer Interpretation der Schrift, der Überzeugung waren, dass erst der Messias persönlich einen jüdischen Staat errichten dürfe? Sie lehnten zwar seit jeher demokratische Regeln ab, machten aber mehr oder weniger mit im Politpoker des Staates Israel, um so viel Geld wie nur möglich für sich herauszuschlagen, um ihre Vorstellungen vom richtigen jüdischen Leben abzusichern und durchzusetzen.

Und so scheint es allmählich auch zu kommen. Obwohl „die Frommen“ gerade mal nur 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, glaubt nach einer jüngst veröffentlichten Studie die große Mehrheit der Israelis inzwischen an die jüdischen Glaubensregeln, glauben 80 Prozent, dass Gott existiert und gute Taten belohnt werden, glauben 65 Prozent der Israelis, dass die Juden das auserwählte Volk seien und die Thora von Gott gegeben. Solche Zahlen würde man bei Umfragen in den USA, der wohl religiösesten westlichen Demokratie, auch erhalten. Allerdings gibt es dort eine strikte Trennung von Staat und Kirche, der Glaube ist Privatsache. In Israel gibt es die Trennung von Staat und Synagoge nicht. Und das macht die religiösen Fanatiker immer dreister, darum könnten Auswüchse wie der Angriff auf das kleine Mädchen in Beth Shemesh bald zum Alltag in Israel gehören, das sich längst in einem Kulturkampf befindet.

Wie wird der jüdische Staat in Zukunft aussehen? Ein frommer Siedler antwortete darauf einmal lachend: „Diese Frage beantworten wir mit den Gebärmüttern unserer Frauen!“ Er könnte recht behalten. 

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