Corona-Krise in Ungarn - Orbáns Notstand ist nicht der Tod der Demokratie

Wie andere Länder auch setzt Ungarn im Kampf gegen das Coronavirus demokratische Regeln außer Kraft. Von einem Übergang zur „Autokratie”, wie manche Kritiker fürchten, kann vorerst aber nicht die Rede sein.

Viktor Orbán profitiert vom Ausnahmezustand/ picture alliance
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Autoreninfo

Boris Kálnoky ist freier Journalist und lebt in Budapest. Er entstammt einer ungarisch-siebenbürgischen Familie

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Am Montag verlängerte Ungarns Parlament den am 11. März verhängten Ausnahmezustand zur Bekämpfung des Coronavirus, kraft der Zweidrittel-Mehrheit der Regierungspartei Fidesz. Für das Gesetz stimmten die 133 Fidesz- und vier weitere Abgeordnete, 53 Oppositionsabgeordnete stimmten dagegen.

Das Coronavirus-Gesetz, das Kritiker etwas schrill „Ermächtigungsgesetz” nennen (und damit einen überzogenen Nazi-Vergleich ziehen), kann laut Kanzleramtsminister Gergely Gulyás ab Dienstag 00.01 Uhr in Kraft treten, wenn Parlamentspräsident László Kövér es sofort unterschreibt. Wortwörtlich heißt es „Veszelyhelyzet”, also „Gefahrensituation” und ermächtigt die Regierung, per Dekret und in Abweichung von geltenden Gesetzen zu regieren. Das, so klagt die Opposition und so wähnen liberale Kritiker im Ausland, könnte Ungarn dauerhaft in eine Autokratie verwandeln.

Viktor Orbán kann ohne Parlament regieren

Denn das neue Gesetz gibt keine konkrete zeitliche Begrenzung an. Es gab zwar auch vorher keine: Laut Verfassung ruft die Regierung den Gefahrenzustand aus, und das hat dann so lange Bestand bis die Gefahr von der Regierung für beendet erklärt wird. Die Gültigkeit der Maßnahmen aber, die in diesem Rahmen per Dekret getroffen werden, war bislang auf 15 Tage begrenzt. Das entfällt nun.

Damit kann Ministerpräsident Viktor Orbán ohne Parlament regieren, bis er selbst entscheidet, damit aufzuhören. Volksbefragungen und Nachwahlen dürfen in dieser Zeit laut Entwurf nicht abgehalten werden. Es ist nicht klar, ob und wann das Parlament nach der Abstimmung am Montag überhaupt wieder zusammentritt, grundsätzlich sieht das neue Gesetz dafür aber keine Einschränkungen vor und erweitert sogar dessen Befugnisse: Das Parlament kann, anders als bisher geregelt, unilateral die Gefahrensituation für beendet erklären.

So hat noch kein EU-Land auf die Krise reagiert

Das wird es aber nicht gegen den Willen der Regierung tun, da die Regierungspartei im Parlament die Mehrheit hat. Exekutive und Legislative sind jedenfalls jetzt bis auf Weiters verschmolzen. Parlamentswahlen – sie sind 2022 fällig – werden in dem Gesetzestext nicht erwähnt. So hat noch kein EU-Land auf die Krise reagiert.

Vielerorts wurde ein Notzustand verhängt, aber zeitlich begrenzt – in Italien und England etwa auf sechs Monate. Es gibt zeitlich unbegrenzte Maßnahmen, zum Beispiel das Coronavirus-Hilfspaket der Bundesregierung. Aber Notstandsbefugnisse ohne Zeitgrenze, die gibt es nicht. Der Rechtsausschuss des Europaparlaments (LIBE) hat die EU-Kommission und das europäische Parlament aufgefordert, die Entwicklung in Ungarn genau zu verfolgen.

Vorsitzende des Europarats äußert Bedenken

Die Vorsitzende des Europarats, Marija Pejcinovic, schrieb Orbán einen Brief, in dem sie Sorgen äußerte. Orbán antwortete brüsk: Sie möge das Gesetz erstmal lesen und ihn ansonsten nicht bei der Arbeit stören. Die Regierung argumentierte in der Parlamentsdebatte am Montag, es gebe sehr wohl eine zeitliche und inhaltliche Begrenzung. Sie darf ihre Sondervollmachten nur zur Bekämpfung des Virus verwenden. Diese Maßnahmen müssen „notwendig” und “verhältnismäßig” sein.

Diese Formulierung entspricht einem Antrag der Opposition, den die Regierungspartei akzeptierte. Das Parlament oder, wenn es nicht zusammentreten kann, dessen Fraktionschefs müssen regelmäßig unterrichtet werden. Das Verfassungsgericht geht seinen Aufgaben weiter nach. Ungarn rief 2016 einen „Krisenzustand” in der Migrationskrise aus, der seitdem alle sechs Monate verlängert wurde und bis heute gilt.

Orbáns Umfragewerte wachsen

Auch das Coronavirus wird in vielen Jahren immer noch existieren. Aber es gibt diesmal objektivere Messlatten – die Verfügbarkeit einer Impfung, oder eines Medikaments zur Behandlung von Covid-19 wären klare Gründe, den Ausnahmezustand zu beenden. Der Vergleich mit 2016 zeigt vor allem, dass Orbán kaum angewiesen ist auf einen zeitlosen Notstand. Er hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, kann also immer verlängern.

Seine Umfragewerte wachsen in der Krise sogar – ähnlich wie auch in anderen Ländern die jeweiligen Regierungsparteien erstarken. Dass Orbán eventuell die Parlamentswahlen 2022 verschieben will (weil er es erstmals mit einem Zusammenschluss aller Oppositionsparteien zu tun hat und tatsächlich verlieren könnte) ist kaum vorstellbar. Sogar der scharfe Orbán-Kritiker Dániel Hegedüs schrieb in einer Analyse für den German Marshall Fund: „Es wird kaum möglich sein, diese Vollmachten als EU-Mitglied auf Jahre hinaus zu behalten.”

Der Ausnahmezustand als machtpolitisches Instrument

Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass Orbán die Wahlen 2022 gewinnen, als dass er sie verschieben oder aussetzen wird. Dafür müsste er die Verfassung ändern, denn die sieht ein präzises Zeitfenster für Parlamentswahlen vor. Die Verlängerung des Notstands reicht dafür nicht aus. Ein machtpolitisches Instrument ist der Ausnahmezustand aber dennoch.

Sogar ein prominenter Oppositionspolitiker, der damit aber nicht zitiert werden wollte, sagte dem Verfasser dieser Zeilen, Orbán habe die Opposition in eine Falle gelockt – die fehlende Zeitgrenze ist dazu da, die Opposition dagegen stimmen zu lassen. Ansonsten hätte sie die Verlängerung mitgetragen. So kann die regierungsnahe Presse die Opposition als „Verräter” darstellen. Das ganze Spektakel ist bereits Vorwahlkampf.

Tod der Demokratie?

Um sicher zu gehen, dass die Opposition den Köder schluckt, tat die Regierung so als habe sie die Fristen der Parlamentsarbeit übersehen und brachte den Entwurf zu spät ein. Nun war plötzlich (für eine Abweichung von den Hausregeln) eine Vierfünftel-Mehrheit nötig. Ohne Opposition ging das nicht.

Die lehnte erwartungsgemäß bei einer ersten Abstimmung am 23. März ab, so dass erst jetzt, am 30. März, der Ausnahmezustand in einer regulären Abstimmung mit der Zweidrittel-Mehrheit von Fidesz abgenickt werden konnte. Nun wird mal wieder viel über den Tod der Demokratie in Ungarn geschrieben. Aber davon kann vorerst keine Rede sein. Wahrscheinlich wird es in Ungarn faktisch so laufen wie anderswo: Notstandsregeln für viele Monate, aber nicht für immer.

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