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Boris Johnson bleibt nicht mehr viel Zeit / dpa

Brexit-Verhandlungen - Letzte Chance für Boris Johnson in Brüssel

Boris Johnson reist in die EU-Zentrale, um mit Ursula von der Leyen in politischen Gesprächen den Brexitdeal – das Freihandelsabkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich - zu finalisieren. Er kommt aber auch, um sich selbst zu retten. 

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Zwei lange Telefongespräche brachten keinen Durchbruch: Am Samstag und am Montag telefonierten Boris Johnson und Ursula von der Leyen ausführlich miteinander, doch die Differenzen scheinen nicht überbrückbar zu sein. Großbritannien verlässt am 31. Dezember 2020 endgültig den EU-Binnenmarkt und die EU-Zollunion, der Brexit ist dann vollzogen.

Doch ohne Freihandelsabkommen über die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und dem ehemaligen 28. Mitgliedstaat, dem Vereinigten Königreich, wird das ein harter Aufprall, vor allem für die britische Wirtschaft. Um Chaos an den Grenzen zu vermeiden, bemühen sich die Verhandler in London und Brüssel seit Monaten um ein schlankes Abkommen, das wenigstens den Güterhandel umfasst und Zollfreiheit garantieren soll. Für mehr reicht die Zeit nicht mehr.

Das Problem mit den Fischquoten

Selbst in diesem sehr eingeschränkten Abkommen – der für Großbritannien enorm wichtige Finanzdienstsektor ist zum Beispiel gar nicht enthalten - sind nach wie vor drei Bereiche nicht geklärt und je länger die Experten über den Details brüten, umso größer scheinen die Differenzen zu werden. 

Großbritannien will nur noch britischen Fischern erlauben, in den eigenen Hoheitsgewässern zu fischen und jedes Jahr über Zugangsquota für europäische Fischer verhandeln. Es geht sowohl um die ausschließlich britische Wirtschaftszone auf hoher See – 12 bis 200 Seemeilen vom Festland - als auch um die seichtere Küstenzone von 6 bis 12 Seemeilen für kleinere Boote. Der gesamte Fischfang ist insgesamt 650 Millionen Euro wert. 

Populistisch überhöht

Die Briten hatten eine Übergangsphase von drei Jahren in der Hochseezone angeboten, in denen sich erst einmal nichts ändern sollte. Die EU hat dies abgelehnt, man habe sich nach Informationen aus Brüssel fast auf fünf bis sieben Jahre Übergangsphase geeinigt. In ihren Küstengebieten wollen die Briten in Zukunft aber überhaupt ganz allein lukrative Langusten und Jakobsmuscheln fischen. Gerade für französische und belgische Familienunternehmen ist dies schwer zu verkraften. Die Briten hingegen lehnen es ab, dass die EU die Fischquoten mit anderen Handelsfragen und mit dem Zugang der Briten zum EU-Binnenmarkt verknüpft. 

Bei den Fischereirechten handelt es sich um einen besonders schwierigen Akt des populistisch überhöhten Brexitdramas. Denn die britischen Fischer tragen nur 0,13 Prozent zur britischen Wirtschaft bei. Ein hochrangiger Botschafter in London hat daher schon vor Monaten prophezeit, dass ein Freihandelsabkommen kaum an den Fischereirechten scheitern wird. Doch Boris Johnson hat Mühe, seine ideologisch aufgekratzen Brexiteers unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich verdankt er ihnen seinen Wahlsieg vor einem Jahr. 

Gourmetpizza und vergammelte „Sandwiches“

Viel bedeutender – symbolisch und inhaltlich – sind die anderen beiden ungeklärten Fragen in diesen erschöpfenden Verhandlungen, die vorige Woche in London bei Gourmetpizza begonnen und mit „vergammelten Sandwiches“ geendet hatten, wie die “Sunday Times” genüsslich formulierte. Brüssel will, dass die Briten sich auch in Zukunft an ein „Level Playing Field“ halten – also keine wettbewerbsverzerrenden, staatlichen Beihilfen für bestimmte Industriezweige einsetzen. Die EU fürchtet auch, dass die Briten in Bereichen wie Umwelt und Arbeitsrechten die bisherigen Standards nach unten drücken könnten. Die EU will auch festschreiben, welche Institution über Vertragsbrüche zu richten habe – die Briten lehnen den Europäischen Gerichtshof ab, sie pochen auf ihre Souveränität und wollen nur eine britische Schlichtungsstelle akzeptieren. 

Bei den Gesprächen zwischen Ursula von der Leyen und Boris Johnson am Montagnachmittag wurde deutlich, dass sich diese tiefgreifenden Differenzen nicht so einfach und ohne große Kompromisse aus dem Weg schaffen lassen. Für Brüssel ist ein Abkommen wichtig, das die europäischen Grundsätze nicht kompromittiert – sonst könnten auch andere Drittstaaten oder sogar austrittswillige Mitgliedsstaaten auf die Idee kommen, die Prinzipien des Binnenmarktes zu unterminieren. 

Johnsons selbst gestellte Falle

Der britische Premier Johnson hingegen merkt in diesen Wochen, dass der Teufel tatsächlich im Detail steckt. Und da der 56-jährige ehemalige Journalist Details noch nie besonders geschätzt hat, versucht er so wie vor einem Jahr in letzter Minute das Brexitdrama mit einem politischen Knalleffekt zu Ende zu bringen. In der britischen Journalistenszene sind die Meinungen geteilt, ob Johnson es immer schon auf einen Brexit ohne Abkommen angelegt hat, wie Stephen Bush vom The New Statesman glaubt: „Souveränität lässt keine Kompromisse für den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu“. Harry Cole, Chefredakteur von The Sun dagegen glaubt an Johnsons Theatertalent: „Als der Premierminister das letzte Mal nach Brüssel fuhr, kam er mit einem Deal zurück.“

Im Oktober 2019 schaffte Boris Johnson zwar einen Durchbruch, dieser erwies sich aber als Pyrrhussieg. Johnson stimmte nach einem Zwiegespräch mit Irlands damaligem Premierminister Leo Varadkar einem EU-Scheidungsabkommen zu, das sich bereits ein Jahr später als selbst gestellte Falle für den britischen Regierungschef erwies: Denn um die grüne Grenze zwischen Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört, und dem EU-Mitglied Irland zu erhalten, gelten für Nordirland auch weiterhin die Bedingungen der EU-Zollunion. Die Zollgrenze verschiebt sich damit Richtung Großbritannien ins irische Meer – wenn es kein Freihandelsabkommen zwischen EU und UK geben sollte. Boris Johnson hat mit seiner Zustimmung zum Scheidungsabkommen de facto das Vereinigte Königreich geteilt. 

Ohne Kompromisse geht es nicht

Um diese Gefahr zu vermeiden, trat Johnson bereits im September 2020 die Flucht nach vorne an und kündigte ein Gesetz zum britischen Binnenmarkt an, mit dem eben diese Bestimmungen im Nordirland-Protokoll des Scheidungsabkommens außer Kraft gesetzt werden können. Mit diesem Gesetz aber bräche Großbritannien wiederum internationales Recht. Nicht nur die EU, auch potente Partner wie der soeben gewählte neue US-Präsident Joe Biden warnen Johnson davor, das Gesetz so durchs Parlament zu jagen. 

So stolpert der britische Premier von Fehler zu Fehler, wobei es immer schwieriger wird, die Wahrheit zu verbergen: Ohne große Kompromisse kann das Vereinigte Königreich die sehr enge Verbindung zur EU nicht lösen. Weigert er sich, Zugeständnisse zu machen, dann stürzt Johnson das Königreich in eine noch größere Wirtschaftskrise als es die Corona-Pandemie und ein weniger harter Brexit sowieso schon bedeuten.

Viel Zeit bleibt nicht

Viel Zeit bleibt ihm jetzt nicht mehr. Die EU-Chefs wollen den Handelsdeal mit den Briten am Mittwoch oder Donnerstag fertig auf dem Tisch liegen haben, um ihn bei ihrem EU-Gipfel am Freitag abnicken zu können. Sonst fehlt die Zeit, das Abkommen rechtzeitig vor dem 31. Dezember zu ratifizieren. Die Brexit-Uhr tickt und für den angeschlagenen Boris Johnson ist sie eine Zeitbombe geworden, die ihn selbst in die Luft sprengen könnte. Seine Popularität ist sowieso schon gesunken, weil er die Bekämpfung der Corona-Pandemie vermasselt hat. 

Um ein Einlenken vorzubereiten, ließ Boris Johnson am Montag schon mal verlauten, dass er die Paragrafen 44,45 und 47, die internationales Recht brächen, aus dem Binnenmarktgesetz zurückziehen will – wenn es in den kommenden Tagen zu einem Freihandelsabkommen mit der EU kommen sollte. 

Ursula von der Leyen war höflich genug, nicht öffentlich darauf hinzuweisen, dass Boris Johnson das faule Ei, das er selbst gelegt hat, jetzt eben auch eigenhändig beiseite räumen muss.

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Christoph Kuhlmann | Di., 8. Dezember 2020 - 08:40

Man wartet nur noch auf das Ende dieses Trauerspiels. Ich hoffe wir befinden uns im letzten Akt.

helmut armbruster | Di., 8. Dezember 2020 - 09:51

der geht so:
Der Sohn des Rechtsanwalts hat sein Jurastudium beendet und tritt als potentieller Nachfolger in die Kanzlei des Vaters ein.
Nach einiger Zeit beschließt der Vater dem Sohn den Fall Müller ./. Maier zur selbstständigen Bearbeitung zu übergeben.
Der Sohn übernimmt und macht sich an die Arbeit. Nach kurzer Zeit meldet er dem Vater voller Stolz:
Vater, den Fall Müller ./. Maier, an welchem Du seit mehr als 10 Jahren ergebnislos herum gedoktert hast ohne zu einem Ende zu kommen, diesen Fall habe ich in nur 2 Wochen abschließen können.
Antwortet der Vater: Na, prima Du Superanwalt. Von diesem Fall hat die Kanzlei 10 Jahre lang gut gelebt!

Walter Bühler | Di., 8. Dezember 2020 - 09:52

... aber es ist für mich nicht klar, für wen. Frau Szyszkowitz vermutet, dass er für die britische Wirtschaft härter wird als für die EU-Wirtschaft.

Da aber London weiterhin das Finanzzentrums Europas bleibt, da in England durchaus ein patriotischer Überlebenswille vorhanden ist , da GB in der Nato weiterhin eine Macht darstellt, und da die Rest-EU ohnehin durch strukturelle Unbeweglichkeit und Zerstrittenheit geprägt ist, halte ich es auch durchaus für möglich, dass der Aufprall für die Rest-EU härter wird.

Ich wünsche das nicht, und wäre überhaupt sehr froh, es wäre nie so weit gekommen. Ich kann auch nicht glauben, dass nur der Mensch Johnson oder nur seine Partei für die schwierige Situation verantwortlich ist. So einfach ist das sicher nicht.

So das einhellige, durchaus realistisch erscheinende Urteil der Experten.

Was, konkret, hat Britannien durch den Austritt gewonnen? Was hat das "taking back control" für den Einzelnen gebracht?

Bis heute: Gar nichts. Nationalisten und Alt-Anhänger des Empires mögen jubeln.

Ach ja: Man wird früher gegen Covid geimpft. Mit einem Mittel, für das man ein zweifelhaftes Instant-Zulassungsverfahren durchgeführt hat.

Britannien war als englischsprachiges Land in der Vergangenheit DER Zugang zur EU für die USA, China, Russen und Araber.

Game over.

Selbst das Finanzzentrum bröckelt. Zahlreiche Banken und Versicherungen haben die City bereits verlassen. Die Industrie Britanniens? Nebensächlich. Die Briten müssen viel mehr einführen, als sie exportieren.

Die neuen großartigen Handelsbeziehungen, als EU-Ersatz angekündigt, gibt es nicht. Die Freundschaft Johnson-Trump ist wertlos. Die besonderen Beziehungen zu den USA sehen die Briten zusehends in der Rolle des Befehlsempfängers.

sitzt doch wohl eher in Brüssel als auf der Insel. Eine wichtige Aussage im Beitrag lautet: "Für Brüssel ist ein Abkommen wichtig, das die europäischen Grundsätze nicht kompromittiert – sonst könnten auch andere Drittstaaten oder sogar austrittswillige Mitgliedsstaaten auf die Idee kommen, die Prinzipien des Binnenmarktes zu unterminieren."
VdL und anderen geht der Stift (nicht Gendergerecht? egal) aber anders ist das sture Verhalten nicht erklären. Der Laden EU ist dem Zerfall näher als alles andere. Nur Merkel und der Michel liefert weithin das Patex (Geld) das es zusammenhält.
Die Forderungen aus Brüssel z.B EUGH sind bewusste Provokation.
Ansonsten wird wie hier im Beitrag und den restlichen Medien zuviel schwarzmalerei betrieben.
Und was bitte haben belgische Fischerfamilienbetriebe mit de englischen Küste zu tun. Wo haben die den vorher gefischt? Haben die keine eigene Küste?
Einfach umweltverträglich (wird doch sonst immer genutzt) vor der eigenen Küste fischen.

Dorothee Sehrt-Irrek | Di., 8. Dezember 2020 - 10:13

"scheitern", wenn sie nicht an und mit ihren Mitgliedern bzw. Assoziierten wächst.
Deshalb empfinde ich Merkel seit jeher als Sackgasse.
Den Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde will ich ihr aber ganz sicher zugestehen.
Vielleicht scheitert Johnson an seinem Stolz?
In meinen Augen keine gute Haltung.
Es geht um nun wirklich Wichtigeres.
Sowohl vdL, als auch Barnier wertschätzen England.

Ernst-Günther Konrad | Di., 8. Dezember 2020 - 10:16

"Doch Boris Johnson hat Mühe, seine ideologisch aufgekratzten Brexiteers unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich verdankt er ihnen seinen Wahlsieg vor einem Jahr."
Johnson steht im Wort bei seinen Wählern. Er will halten, was er versprochen hat und das Fell des Bären so teuer wie möglich verkaufen. Das Thema Fischerei ist keine Ideologie, das ist für die britischen Fischer eine Frage der Existenz und der Teilhabe am Wohlstand.
"...die Briten lehnen den Europäischen Gerichtshof ab, sie pochen auf ihre Souveränität und wollen nur eine britische Schlichtungsstelle akzeptieren."
Warum sollten die Briten den EUGH noch akzeptieren wollen, wo ein Hauptgrund des Austritts u.a. auch ist, ihre eigene Rechtsautonomie wiederzuerlangen. Wer mit den Briten Geschäfte machen will, muss sich deren Geschäftsbedingungen unterwerfen. In DE ist Gerichtsstand auch am Sitz der Firma und nicht irgendwo anders. Boris bleib hart und vertrete die Interessen Deines Volkes. Hoffentlich ist das Theater bald vorbei

Tomas Poth | Di., 8. Dezember 2020 - 11:20

Brexit means Brexit and Sovereignty means Sovereignty.
Es wird nicht leicht werden. Der harte Bruch ist schmerzhaft aber heilsam, die nicht heilende schwärende Wunde aber unerträglicher und zermürbend.

Heidemarie Heim | Di., 8. Dezember 2020 - 15:34

Ich leider schon lange nicht mehr. Auch nicht über die drohenden Szenarien, die je aus welcher Perspektive heraus gesehen, für den jeweils anderen eine Vollkatastrophe werden wird. Ich weiß leider nicht mehr wo, habe ich nebenbei aufgefangen, wie hoch das Handelsvolumen zwischen uns und GB bisher war, ich glaube zu erinnern beispielsweise 10fach höher als mit Kanada? Jedenfalls um ein Vielfaches im Vergleich zu anderen Exporten und bei uns sofort zig1000de Vollarbeitsplätze entfielen wenn man keine wie immer geartete Lösung findet. Also so gelassen wie die EU immer tut, und Boris Johnson mehr oder weniger als Bittsteller darstellt, der plump über die eigenen Füße stolpert, scheint es angesichts dieser Handelsbilanzen auch nicht zu sein. Aber wie im Titel angemerkt: "Wer soll da noch den Überblick wahren?" Und was Schlichtungsstellen betrifft. Ging u.a. über diese Frage nicht mal ein Handelsabkommen mit den USA den Weg alles Irdischen weil u.U. utopische Haftungssummen drohten? MfG

Charlotte Basler | Di., 8. Dezember 2020 - 18:32

wichtiger und geschätztes EU-Mitglied. Sie haben immer hart verhandelt und wie kein anderes Land Rosinen gepickt. Mit der Trennung sollte nun kein zusätzlicher Rosinenkuchen für UK gebacken werden. Auch für sie gilt "you can’t have your cake and eat it“.