Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(Flickr: Neil Palmer (CIAT)) Das brasilianische Amazonasgebiet aus der Vogelperspektive: Die grüne Lunge der Welt wird immer lichter

Mega-Staudamm - Brasilien: Die Wirtschaft wächst, der Wald stirbt

Mitten im Amazonas-Regenwald will Brasilien das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt bauen. Die Schäden für Natur und Einwohner sind kaum zu bemessen. Trotz aller Einwände hält die brasilianische Regierung stur an dem Wahnsinns-Projekt fest und tritt dabei Umwelt- und Menschenrechte mit Füßen

Belo Monte – schöner Berg: Dieser so klangvolle Name bezeichnet nicht etwa ein hügeliges Naturwunder, sondern ein monströses Naturdesaster. Im Herzen des Amazonas-Regenwaldes in Brasilien soll ein riesiges Wasserkraftwerk entstehen. Das Großbauprojekt illustriert, welch hohen Preis das Land für seine rasante Entwicklung der letzten Jahre zahlt: Umweltzerstörung und Missachtung von Menschenrechten sind offenbar notwendige Übel, um die positivistische Formel „Ordem e progresso“ (Ordnung und Fortschritt) zu erfüllen, die sich Brasilien auf seine Fahne geschrieben hat.

In der Gemeinde Altamira, am Xingu, einem Zufluss des Amazonas im nördlichen Bundesstaat Pará, soll der drittgrößte Staudamm der Welt entstehen. Rund elf Milliarden Euro soll er kosten. Der Xingu ist eines der letzten intakten Flusssysteme in Brasilien, Heimat zahlreicher Tier- und Pflanzenarten und auch eines der letzten Refugien vieler Indigener. Mit Belo Monte wird von ihm kaum mehr als ein Bächlein übrig bleiben. Auf einer Länge von 40 Kilometern soll der Xingu-Fluss gestaut werden. Über 100 Kilometer werden dafür trocken gelegt. Die Größe des Urwaldes, die der Dammbau mit sich reißen wird, kommt ungefähr der Fläche des Großraums Berlin gleich.

Die Pläne für den Wasserkraft-Giganten sind alt. Schon 1988 liebäugelte die liberal-demokratische Regierung unter José Sarney mit dem Bau eines gigantischen Wasserkraftwerks am Rio Xingu. Der Protest war damals immens. Den dramatischen Höhepunkt markierte die Begegnung zwischen einer Kayapó-Indianerin und dem Chef des staatlichen Energiekonzerns: Auf einer Konferenz zog sie ihm die stumpfe Seite ihrer Machete durchs Gesicht. Sogar Popstar Sting gab damals zur Rettung des Regenwaldes ein Konzert im Zentrum der Dschungelstadt Altamira. Schließlich sprangen dem Projekt die ausländischen Investoren ab, die Weltbank wollte nicht mitmachen.

Unter der sozialdemokratischen Regierung der Arbeiterpartei (PT) angeführt von Luiz Inácio Lula da Silva wurden die Pläne plötzlich wieder hervorgeholt. Lula, wie ihn die Brasilianer kurz nennen, ist der Mann, der Brasilien dort hingebracht hat, wo es heute steht. Unter seiner Führung hat sich das einstige Schuldnerland zur siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt hoch katapultiert und ist heute mit rund 200 Milliarden US-Dollar einer der größten Gläubiger der USA. Brasilien ist ein Global Player geworden. Die Wirtschaftskrise 2008 konnte dem Riesen im Süden Amerikas kaum etwas anhaben. Reich an Rohstoffen hat es all das, was andere Länder brauchen. Egal wie schwerwiegend noch immer die sozialen Konflikte und Gegensätze im Inneren sein mögen, die Armut hat sich verringert, die Mittelschicht gestärkt. Brasilien ist für ganz Lateinamerika zum Hoffnungsträger avanciert.

Lulas Erfolg ließ ihm eine gewisse Narrenfreiheit. Wenig überraschend war daher auch der Wahlsieg im Oktober 2010 der ehemaligen Energieministerin Dilma Rousseff, seiner eigens ausgesuchten Nachfolgerin.

Brasilien ist hungrig nach Wachstum und dafür braucht es Energie. Zwar hatte Lula zunächst versichert, ohne Anhörung der Indianer werde man kein Kraftwerk bauen. Doch dann kam der große Black Out: In der Nacht vom 10. auf den 11. November 2009 fiel in 18 brasilianischen Bundesstaaten der Strom aus, bei 40 Millionen Menschen ging das Licht aus, die Maschinen in den Fabriken blieben stehen, ein Super-GAU für die aufstrebende Wirtschaftsmacht. Plötzlich war auch der ehemalige Umweltaktivist und Indio-Freund Lula Feuer und Flamme für das Großprojekt und stellte im Juli 2010 in Altamira sein Projekt „Licht für alle“ vor. „Wenn sich keine private Firma am Bau von Belo Monte beteiligen möchte, dann werden wir eben den Bau übernehmen“, verkündete Lula selbstbewusst. Brasilien braucht keine Kredite aus dem Ausland mehr, keine Hilfe von der Weltbank. Brasilien hat seine eigene Entwicklungsbank, die BNDES, welche zu den größten der Welt gehört. Die BNDES soll nun zu 80 Prozent die Kosten des Staudamms Belo Monte tragen.

Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite, warum Brasilien trotz seiner Umweltsünden als Vorbild für nachhaltige Energien gilt und wie lokale Umweltaktivisten zu dem Projekt stehen

Norte Energia heißt das Konsortium, das für dessen Bau verantwortlich ist. Angeführt wird es von den staatlichen Energiefirmen Eletronorte und Elétrobras. In der Öffentlichkeit präsentieren sie Belo Monte als ein Vorzeigebeispiel nachhaltiger Entwicklung: Hier werde saubere, erneuerbare Energie geschaffen, Arbeitsplätze würden entstehen. 20.000 Arbeiter soll der Bau einmal beschäftigen. Natürlich geschehe, laut ihrer Homepage, alles im höchstmöglichen Einklang mit der Natur.

Im nächsten Jahr wird in Rio de Janeiro unter dem Namen Rio+20, die UN-Konferenz für Nachhaltige Entwicklung stattfinden. Brasilien verfügt weltweit tatsächlich über eines der nachhaltigsten Energiesysteme. 45 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs werden durch erneuerbare Energien gedeckt, dabei stammt ein Großteil aus Wasserkraft. Den reichsten OECD-Staaten hat Brasilien damit einiges voraus, bei ihnen sind es im Schnitt gerade mal 6,2 Prozent der Energie, die aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden.

Brasilien hat daher auch äußerst geringe CO2-Emissionen. Doch die Zahlen trügen, weiß Greenpeace: Würde man das durch Brandrodung entstehende Kohlendioxid im Amazonas-Wald dazurechnen, dann wäre Brasilien der viertgrößte Treibhausgasproduzent der Erde. Brasiliens Glück, dass im Kyoto-Protokoll kein Waldschutz vorgesehen ist.

Die Wirtschaft wächst, der Wald stirbt – in diesen Tenor passt auch das Kraftwerk Belo Monte. Dementsprechend groß ist auch der Widerstand innerhalb der Bevölkerung am Xingu. „Belo Monte ist das Schlimmste, was dem Amazonas passieren kann, es ist der Anfang vom Ende“, konstatiert die Umweltaktivistin Verena Glass im Gespräch mit CICERO ONLINE. Glass ist Pressesprecherin der NGO Xingu vivo para sempre, was so viel heißt wie: Xingu – lebendig für immer. Die NGO ist ein regionales Bündnis mit Hauptsitz in Altamira, in dem sich Vertreter der Indigenen, lokale Basisgruppen und auch Vertreter der katholischen Kirche im Kampf gegen den Staudamm zusammengefunden haben.

Das Ufer des Xingu ist das Zuhause vieler Indigenen. Am stärksten betroffen vom Staudamm werden die Stämme der Juruna und der Arará sein. „Wenn 100 Kilometer des Flusses trocken gelegt werden, entzieht das den Indianern ihre Lebensgrundlage. Sie werden nicht mehr fischen, geschweige denn sich fortbewegen können. Der Fluss ist ihre Straße. Aber niemand hat die Menschen hier gefragt“, klagt Glass. Dabei wurde auch den Indigenen mit der neuen Verfassung, nach dem Ende von Brasiliens Militärdiktatur 1985, endlich ein Mitspracherecht eingeräumt. Lula war einer, der damals mit den sozialen Bewegungen für neue Rechte für die Indianer stritt. Damals wurden ihnen Gebiete zugesprochen, deren Grenzen die Regierung nicht überschreiten darf.

Im Zweifel gegen die Indios und für den Fortschritt, das hat koloniale Tradition. In Brasilien machen die Indianer heute weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus, schätzungsweise 700.000 gibt es nur noch, die sich auch selbst als Indianer bezeichnen. Ausgerechnet am Xingu, wo 1961 der erste Nationalpark Brasiliens entstand, um den Schutz indigener Völker zu gewährleisten, spielt sich nun diese Tragödie ab.

Letztlich geht es hier nicht nur um die Existenzgrundlage der Indigenen. Es wird trotzdem hektarweise Wald überflutet werden, die Betroffenen sind vor allem kleinere Kakao- und Viehbauern. 20.000 Menschen werden insgesamt umgesiedelt werden müssen.

Die Stromkonzerne schrecken auch vor Bestechung und Gewalt nicht zurück, um die Menschen von ihrem Land zu vertreiben. „Sie setzen den Menschen die Pistole auf die Brust. Sie bieten ihnen ein paar 1000 Dollar, um ihre Kakaoplantagen zu verlassen, meist viel zu wenig Geld. Wenn sie nicht darauf eingehen, legen sie Feuer in ihren Häusern, zerstören sie mit Gewalt. Die Menschen haben Angst“, erzählt Glass und fügt mit gedämpfter Stimme hinzu: „Wir wissen nicht, ob sie stark genug sein werden, den Kampf durchzuhalten.“

Lesen Sie weiter, warum Umweltschützer im Amazonas um ihr Leben fürchten müssen

Umweltschützer im Amazonas leben gefährlich. Erst im Mai wurden zwei der bekanntesten im Bundesstaat Pará brutal ermordet: Sie wurden erschossen. Als blutige Mitbringsel für ihren Auftraggeber schnitten die Täter ihnen jeweils ein Ohr ab. Wer gegen Umweltsünden und Raubbau kämpft, der legt sich mit einer mächtigen Lobby an: die Agrobusiness-Lobby. Sie ist die wichtigste wirtschaftliche Kraft im Lande. Hinter Holz-, Soja- und Viehindustrie stehen große Politiker. Selbst der Bischof von Altamira, der Österreicher Erwin Kräutler, ausgezeichnet mit dem alternativen Nobelpreis, erhält Morddrohungen, weil er sich für den Erhalt des Waldes und die Rechte der Einheimischen einsetzt. „Er kann ohne Sicherheitspersonal nicht mehr das Haus verlassen“, so Glass.

Das Großprojekt ist nicht nur ein Schandfleck auf der Umwelt- und Menschenrechtsakte Brasiliens, sondern auch noch höchst ineffizient. Stolze 11.233 Megawatt wird das Kraftwerk einmal produzieren – allerdings nur in der Regenzeit. In der fünfmonatigen Trockenzeit würde es nicht einmal halb so viel leisten. Zahlreiche Studien habe ihre NGO bei wissenschaftlichen Instituten in Auftrag gegeben, erzählt Verena Glass, und die Wissenschaftler seien allesamt zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kosten-Nutzen-Effekt in keinem Verhältnis stehe.

Trotz all der schlagkräftigen Gegenargumente, gab die brasilianische Umweltbehörde Ibama Ende Mai dieses Jahres die Lizenz für den Bau des Kraftwerks frei, wenn auch nicht ohne Widerstand aus den eigenen Reihen. Der Präsident der Umweltbehörde, der dem Projekt seine Unterschrift bis dato verweigert hatte, trat zurück. Er konnte dem Druck nicht länger standhalten. Sein Nachfolger unterschrieb die Lizenz sofort. Und das, obwohl elf der 40 erforderlichen Auflagen für den Baubeginn nicht erfüllt waren.

Raul Telles do Valle vom brasilianischen sozio-ökologischen Institut ISA sprach das Offensichtliche aus: „Wenn ein Bauprojekt 40 Umweltauflagen erfüllen muss, dann handelt es sich wahrscheinlich um eines der schlimmsten Bauvorhaben in der Geschichte Brasiliens.“

Und so rollen nun die Planierraupen an in Amazonien. Die Camps für die Arbeiter werden schon gebaut, auch mit Unterstützung deutscher Wertarbeit: Mercedes Benz hat 540 LKW zur Verfügung gestellt. Zwar hat ein lokales Gericht vergangenen Monat einen Baustopp verhängt, doch nur was die Bauarbeiten im Wasser angeht. „Der Richterspruch hat nicht wirklich etwas zu bedeuten. Die Bauarbeiten an den Arbeitercamps sind nicht einmal gestoppt worden“, berichtet Glass. Auch die aktuelle Umweltministerin Izabella Teixeira, von Anfang an großer Fan des Projekts, nimmt den Richterspruch nicht ernst. Sie erwarte, dass der Bau des Damms voranginge, schließlich sei er gesetzeskonform und verfüge über alle nötigen Lizenzen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche dramatischen Auswirkungen der Bau schon jetzt auf die Region hat und welche Chancen es noch gibt, den Staudamm zu verhindern

Schon jetzt bekommt Altamira seine hässlichen Nebenwirkungen zu spüren. Die Bevölkerung wird sich im Falle des Dammbaus verdreifachen. „Die Stadt versinkt schon jetzt im Chaos. Jeden Tag kommen mehr Menschen nach Altamira, auf der Suche nach Arbeit. Doch sie werden noch nicht gebraucht und es gibt keinen Platz für sie", berichtet  Glass. „Die Zahl der Gewaltverbrechen ist allein im Juli um 28 Prozent gestiegen. Prostitution, Kinderprostitution und Drogenhandel haben stark zugenommen und auch die Abholzung des Waldes."

Immerhin hat das Chaos ein Gutes: Es scheint den Widerstand in der Stadt zu stärken, selbst die größten Befürworter des Staudamms beginnen nun, ihn anzuzweifeln.

Insgesamt laufen noch zwölf rechtliche Verfahren gegen Belo Monte. In einigen Tagen, am 26. Oktober soll es eine Anhörung in Washington vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte geben. Noch besteht für die Aktivisten ein Fünkchen Hoffnung. Doch wenn der Staudamm wirklich gebaut wird, sinkt vermutlich auch die Hürde für andere Bauvorhaben dieser Art. Das Krebsgeschwür der grünen Lunge am Xingu schlägt bereits Metastasen. Die brasilianische Regierung hat 60 weitere Staudämme im Amazonas geplant. Das nächste Großbauprojekt hat schon Namen und Adresse: São Luis do Tapajos.

Zudem soll ein neues Waldgesetz den Senat passieren, was Rodungen zukünftig erleichtert. Die Großgrundbesitzer in den bewaldeten Flächen Amazoniens sind danach nicht mehr verpflichtet, 80 Prozent des natürlichen Baumbestandes zu erhalten, sondern nur noch 50 Prozent, Farmen bis 440 Hektar sind ganz von der Regelung befreit. Zusätzlich sieht das Gesetz vor, den Schutzgürtel entlang der Flüsse von 30 auf 15 Meter zu halbieren, so dass Pestizide und Erdreich stärker in die Wasserläufe gelangen.  

Der Amazonas war immer schon ein sensibles Thema für die Brasilianer. Stets fürchtete man die Ausbeutung der schwer kontrollierbaren, rohstoffreichen Region von außen. Nun scheint Brasilien den letzten Vorstoß zu wagen, um sicherzugehen, dass zukünftig niemand mehr vom Amazonas profitiert. Die Indigenen im Amazonas erleben gerade die Renaissance des Kolonialismus, nur dass der Kolonialherr dieses Mal aus dem Inneren kommt.

Foto von Neil Palmer (CIAT)

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.