Protest gegen Nancy Pelosi
Protestaktion vor dem amerikanischen Generalkonsulat in Hongkong gegen Nancy Pelosis Reise nach Taiwan Anfang August / picture alliance

Amerikas geopolitische Strategien - Warum China für die Vereinigten Staaten wichtiger ist als Russland

Amerikas Ziel in der Ukraine ist es, Russland die von ihm gewünschte strategische Tiefe vorzuenthalten. Mit Blick auf China geht es Washington hingegen darum, das Entstehen einer Macht mit globalem Handlungsradius zu verhindern. Doch die Chinesen sind im Fall einer Wirtschaftskrise verletzlicher als Russland und daher nicht bereit, einen Krieg mit den Vereinigten Staaten zu riskieren.

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Der Krieg in der Ukraine, der nun seit etwa sechs Monaten andauert, ist aus verschiedenen Gründen von strategischer Bedeutung. Wenn Russland die Ukraine besiegt und die Kontrolle über das Land übernimmt, werden seine Streitkräfte an der Ostgrenze zur Europäischen Union stehen. Eine russische Präsenz dort würde auch das transatlantische Kräfteverhältnis verändern und damit die Vereinigten Staaten zwangsläufig dazu bringen, seine Streitkräfte in Europa zu verstärken.

Was Russlands Absichten zu Beginn der Invasion waren, spielt keine Rolle. Absichten ändern sich, und die Strategie darf nicht auf Optimismus basieren. Was also im Ukrainekrieg auf dem Spiel steht, ist ein mögliches Wiederaufflammen des Kalten Krieges – mit allen damit verbundenen Risiken. Aus amerikanischer Sicht ist eine Auseinandersetzung mit Russland durch ukrainische Truppen in der Ukraine weit weniger riskant als ein neuer Kalter Krieg.

Ein neuer Kalter Krieg?

Der Kalte Krieg führte nicht zu einem ausgewachsenen Krieg, sondern nur zu der Angst vor einem solchen Krieg. Die Furcht des Westens vor den möglichen sowjetischen Absichten war größer, als es den tatsächlichen militärischen Fähigkeiten der Sowjets entsprochen hätte. Diese Angst wiederum hielt die Nato zusammen, sehr zum Leidwesen der führenden Politiker in Moskau. Keine ihrer schlimmsten Befürchtungen ist eingetreten, und daher hatte der Zusammenbruch der Sowjetunion mehr mit innerer Fäulnis als mit äußerer Bedrohung zu tun. 

Es ist nicht klar, ob ein künftiger Kalter Krieg so verlaufen würde wie der letzte, aber eines ist wahrscheinlich: Angesichts der Existenz von Atomwaffen würde die Frontlinie eines neuen Kalten Krieges statisch bleiben, und der Status quo auf beiden Seiten bliebe intakt, solange keine der beiden Seiten zersplittert. Dies wäre ein kostspieliges und gefährliches Ergebnis, da sich die Geschichte nicht wiederholen muss. Aber der Zusammenbruch der Ukraine würde Bedrohungen mit sich bringen, die eingedämmt werden könnten, auch wenn es teuer und gefährlich wäre. Das globale Muster bliebe intakt.

Chinas Schwachstellen und seine Versuche, diese zu überwinden, sind potenziell gefährlicher. Wie bei Russland ist das Kernproblem die Geografie. Für Russland besteht das Problem darin, dass die ukrainische Grenze weniger als 500 Kilometer von Moskau entfernt ist, und Russland hat mehrere Invasionen nur dank der räumlichen Entfernung Moskaus zu den Invasoren überlebt – eine Distanz, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion aufgehoben wurde. Russlands Besessenheit von der Ukraine spiegelt dieses Problem wider. 

Chinas geografisches Problem besteht darin, dass es sich zu einer Exportmacht entwickelt hat und als solche auf seinen Zugang zum Pazifischen Ozean und zu den angrenzenden Gewässern angewiesen ist. Die Vereinigten Staaten betrachten den freien chinesischen Zugang zum Pazifik als potenzielle Bedrohung ihrer eigene strategischen Tiefe, die für die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von grundlegender Bedeutung ist. 

Chinas Zugang zum Pazifik

Der chinesische Zugang zum Pazifik wird von einer Reihe von Inselstaaten – Japan, Taiwan, den Philippinen und Indonesien – blockiert, die indirekt von benachbarten Mächten wie Australien, Indien und Vietnam unterstützt werden. Nicht alle von ihnen sind amerikanische Verbündete, aber allesamt haben sie gemeinsame Interessen gegen die chinesische Marineexpansion. China will seine strategische Tiefe verteidigen, indem es sie kontrolliert. Die Vereinigten Staaten wiederum wollen ihre strategische Tiefe verteidigen, indem sie sich hinter die genannten Länder stellen.

Zur geografischen Dimension kommt noch eine wirtschaftliche hinzu. Chinas Wirtschaft hängt von Exporten ab, und die Vereinigten Staaten sind sein größter Kunde. Peking ist außerdem auf kontinuierliche US-Investitionen angewiesen, da sein Finanzsystem unter starkem Druck steht.

 

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Russland versucht, strategische Tiefe zurückzugewinnen, und es hat sich auf den Krieg eingelassen – wohl wissend, welche finanziellen Folgen das haben würde. Mit anderen Worten: Es nahm den finanziellen Schaden in Kauf, um strategische Sicherheit zu erlangen. Bisher hat es jedoch keine strategische Sicherheit erlangt und noch dazu große finanzielle Schäden in Kauf genommen, während der Rest Europas erhebliche Kollateralschäden zu verkraften hat.

China ist auf der Suche nach einer strategischen Lösung und vermeidet gleichzeitig den wirtschaftlichen Schaden, den eine weitere Expansion wahrscheinlich mit sich bringen würde. Sein Hauptgegner an beiden Fronten wären die Vereinigten Staaten. Daher sondiert China die Vereinigten Staaten und versucht, deren mögliche Antworten zu verstehen. Die Reaktion auf den Besuch der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, hat die Grenzen einer Invasion in Taiwan ausgelotet. Was China über das US-Militär gelernt hat, ist unklar – aber es hat verstanden, dass der Auslöser für amerikanische Wirtschaftssanktionen jenseits der chinesischen Einflussmöglichkeiten liegt.

Strategische Tiefe

Amerikas Ziel in der Ukraine ist es also, Russland die von ihm gewünschte strategische Tiefe zu verweigern, um die russische Bedrohung für Europa zu begrenzen. In Bezug auf China besteht das Ziel darin, die strategische Tiefe Amerikas zu erhalten, um zu verhindern, dass China die USA bedroht oder einen globalen Handlungsradius erlangt.

Die Themen sind im Prinzip ähnlich, aber für die Vereinigten Staaten stehen andere Dinge auf dem Spiel. Für Washington ist die China-Frage viel wichtiger als die Russland-Frage. Ein russischer Sieg in der Ukraine würde die inoffiziellen Grenzen neu ziehen und die Risiken erhöhen. Ein chinesischer Erfolg hingegen würde eine globaler aufgestellt Macht schaffen, die die USA und ihre Verbündeten in der ganzen Welt herausfordert.

Die Folgen eines Krieges sind immer erheblich. Die Beteiligung der USA bringt zusätzliche wirtschaftliche Kosten mit sich. Bislang hat Russland die Kosten aufgefangen. China dürfte dazu nicht in der Lage sein, da seine Wirtschaft derzeit verwundbar ist. Aber Nationen leben von der Wirtschaft und überleben durch Sicherheit. In diesem Sinne scheint Russland weniger an Verhandlungen interessiert zu sein als China.

Treffen von Xi und Biden im November

Der chinesische Präsident Xi Jinping und US-Präsident Joe Biden werden sich voraussichtlich Mitte November bei einer Konferenz in Indonesien oder in Thailand treffen. Sollte das Treffen stattfinden, wäre es das erste seit ihrer Telefonkonferenz im Mai. Zwischen den USA und Russland finden nur informelle Gespräche über Hinterzimmerkanäle statt. China ist mehr auf eine stabile Wirtschaft als auf die Beherrschung der Meere angewiesen. Russland scheint in der Lage zu sein, die wirtschaftlichen Folgeschäden des Kriegs zu überstehen, aber es hat den ukrainischen Kräften nicht das Rückgrat brechen können. China ist bei einer Wirtschaftskrise verletzlicher als Russland und daher nicht bereit, einen Krieg mit den Vereinigten Staaten zu riskieren. Es wird reden, wenn nicht gar schlichten. 

Die wirtschaftliche und militärische Lage Russlands ist auf lange Sicht unklar. Die Vereinigten Staaten verhandeln mit China und Russland zu einem relativ niedrigen Preis und können im Moment mit beiden umgehen. Russland und China müssen versuchen, die Kosten für die USA zu erhöhen, können es sich aber nicht leisten, ihre eigenen Kosten zu erhöhen.

Das ist eine schwindelerregende Gleichung, die aber nicht ungewöhnlich ist. China muss sich mit den Vereinigten Staaten einigen. Russland hat dieses Bedürfnis nicht. Die Vereinigten Staaten sind flexibel.

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ursula keuck | Do., 18. August 2022 - 16:40

Schon merkwürdig, die Ukraine war bereits 2014 mit deren labilen Währungsreserven und durch Auslandverschuldung und Außenhandelsbilanz horrende Defizite erreichte, praktisch bankrott.
Die USA weiteten damals bereits ihre Einflusszone aus und lieferten Waffen, und die Europäer - besonders Deutschland – bezahlen die Milliardenrechnungen. Das Land wird auf Jahre so oder so hinaus, am Tropf des Westens hängen.

Ingo Frank | Do., 18. August 2022 - 17:20

Sehe ich nicht unbedingt als zwangsläufig an allein bedingt durch die geografische Nähe.
Andererseits waren / sind? beide Länder durch ihre „sozialistischen“ Ideen miteinander verbunden. Auch in der starken Unterscheidung zwischen Ballungszentren und der viel mehr unterentwickelten Landbevölkerung gleichen sich beide Länder und haben daraus resultieren die ähnlichen Probleme. Und letztendlich sind die natürlichen Ressourcen über die beide Länder verfügen, und die bei weitem noch nicht umfassend erkundet sind, schier unendlich. Und letztlich scheidet aus meiner Sicht Europa als Verbündeter & Mittler zwischen den USA, Russland + China aus, weil‘s ein alter Kranker im Sterben liegender Mann ist. Nur noch ein Schatten seiner selbst.
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Christoph Kuhlmann | Do., 18. August 2022 - 18:15

Bisher hat Russland 2022 Einbußen von -8,52% beim BIP. Der Technologieboykott zeigt erste Wirkungen, wird aber erst in Jahren bedrohlich für Russland. Der Staatshaushalt ist gut finanziert. Den wird erst ein Gasboykott und sinkende Ölpreise in Schwierigkeiten bringen. Europa wird versuchen Russland soweit wie möglich auf Europa herauszuhalten. Das wird beiden Seiten erhebliche Kosten verursachen. Die Wirtschaft schätzt die Lage in China als relativ sicher ein. VW und BASF bauen neue Werke. China ist eigentlich relativ harmlos. In seiner 5000 jährigen Geschichte hat es nie ein Imperium geschaffen und hat das auch in Zukunft nicht vor. Die Ein-Kind-Politik hat ihm eine ähnliche Alterspyramide beschert wie den meisten europäischen Nationen und bei dem Wohnungsmarkt wird es schwer mit der Familiengründung. Insofern ist keine gewaltsame Expansion zu erwarten. Ich glaube nicht, dass sich Deutschland zu einem Wirtschaftskrieg wie gegen Russland hinreißen ließe.

Tomas Poth | Do., 18. August 2022 - 21:42

Interessanter und erhellender Beitrag, Auf dieser Ebene kann diskutieren. Die Gefahr für das Europa hinter der ukrainischen Grenze sehe ich nicht. Das ist NATO- Gebiet . Deutschland wird einen höheren Verteidigungsbeitrag leisten müssen und militärische Führung in der NATO-EU übernehmen müssen.

Gabriele Bondzio | Fr., 19. August 2022 - 09:19

– mit allen damit verbundenen Risiken. "

Der kalte Krieg hat schon längst begonnen, werter Herr Friedman.
Das sie es als Fachmann nicht bemerkt haben...

"Nationen leben von der Wirtschaft und überleben durch Sicherheit."...kommt ein wenig spät aus berufenen Munde.

Die Gas-Umlage (soll angeblich DE vor dem Zusammenbruch bewahren), welche im Gespräch ist, wird den Bürger und Steuerzahler so richtig schröpfen Und es könnte zudem aus den Preisen für Energie, viele Bürger (auch in den USA) sehr kalt erwischen.

Kubicki (FDP) hat sich nunmehr für die Öffnung der Ostseepipeline Nord Stream 2 ausgesprochen.
Was sagt Biden?

Wenn sie schreiben:" China ist bei einer Wirtschaftskrise verletzlicher als Russland"...kalkulieren sie eher für die Elite.
Genannte Nationen haben Regierungen, die wenig die Situation ihrer Bürger gerecht wird.

Im Fall des Falles, hüpft der Knüppel aus dem Sack.
Was frau sich auch sehr gut bei sogenannten Demokratien derzeit vorstellen kann.

Alexander Brand | Fr., 19. August 2022 - 12:20

nicht die Realität!

Die geostrategischen Spielchen der VSA schaden Europa massiv, Europa ist am Ende, wenn es den Ukrainekurs der VSA nicht umgehend verläßt. Rußland ist für Europa weder militärisch noch wirtschaftlich eine Gefahr.

Bei China sieht dies zumindest wirtschaftlich ganz anders aus. Wir sind von China abhängig und die Chinesen kaufen seit Jahren im Süden und Osten Europas Infrastruktur auf und vergeben im großen Stil Kredite. Eine Firma nach der nächsten wird von Chinesen aufgekauft. Das alles birgt unglaubliches Erpressungspotential!

Die VSA versuchen ihre Konkurrenz auszuschalten, bei Europa wird ihnen das ob der völligen Unfähigkeit der uns Regierenden sicher gelingen. Bei China werden sie sich die Zähne ausbeißen denn China sitzt am längeren Hebel. Und auch bei Rußland geht die Strategie nicht auf, im Gegenteil!

Europa MUSS sich mit Rußland einigen das geht nicht mit den VSA und Europa MUSS sich von China UND den VSA emanzipieren!

Annette Seliger | Sa., 20. August 2022 - 11:08

....schreibt Mr. Friedman. Nun, man muss hoffen, dass es die Chinesen nicht so machen wie jüngst die Amerikaner bei ihrer Subprime Krise 2008 und die faulen Kredite in Derivate verpacken, ein Triple AAA Etikett draufkleben und an dumme Investoren verkaufen. Aber das waren ja die Amerikaner und das sind die "Guten" mit ihren Werten.
Und wenn Mr. Friedman schreibt, dass China auf seine Exporte nach China angewiesen ist, dann darf man gleichermaßen feststellen, dass die Amerikaner kaum noch etwas wertschöpfendes herstellen. Die großen Retailer. HomeDepot, Lowes, Targer, BestBuy, u.s.w., lassen alle in China produzieren und verkaufen dann teuer an die Amerikanischen Konsumenten, die für über 70% des BIP stehen. Die Amerikaner verkaufen nur noch Apps für die Share Economy und das war es dann auch. Es ist ein parasitäres System das keine neuen Werte schafft.